800 Literatur und Rhetorik
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Der Band ist den existenziellen Turbulenzen gewidmet, die dem Menschen nicht als katastrophales Ereignis widerfahren, sondern seinen unentrinnbaren Alltag formen. Egal ob Verschiebungen im universitären Selbstverständnis (Vinken), Umgang mit geschlechtlicher Abweichung (Ungelenk; Hordych), Brüchen im Familiengefüge (Brook; Goldmann), Kampf gegen Abholzung (Nixon), technische Totalüberwachung im Alltag (Søilen/Maurer), narratologische Erkundungen von Zeit oder Gattung (Horst; Pierstorff; Reisener), stets erweist sich scheinbar banaler Alltag als erstaunlich produktiver Ausgangspunkt für gesellschaftliche, künstlerische und denkerische Prozesse. Das Gewöhnliche des Alltags ist nicht länger bloß statische Folie für einbrechende Ereignisse – es ist selbst als generatives Werden nobilitiert, das nun aber doppelbödige Wertung annimmt: Alltag verliert im Zuge einer Philosophie der Moderne das Verlässliche (Hüsch; Khurana), wird bedrohlich; zugleich bietet diese neue Unruhe des Alltags, sein "trouble", aber auch Chancen für Veränderung und feministisch-kritische oder künstlerische Intervention.
Hegels Phantasie
(2023)
Als »Zwischenreich«, »Drittes« oder »Mitte« bezeichnet, kommt der Imagination seit ihren Anfängen in der Antike die Rolle eines Mediums zu. Gleichzeitig bleibt ihr medialer Aspekt durchgehend ambivalent und prekär. Es ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der die Imagination nicht mehr als subjektives Vermögen versteht, sondern als Kraft der »Entäußerung« und sie somit medial denkt. In einer bislang wenig beachteten Passage aus Hegels dritter Enzyklopädie von 1830 legt Ekaterina Vassilevski nicht nur die implizite Medialität der Imagination frei, sondern auch den in Hegels Denken verborgenen Begriff des Medialen.
Begräbnis der Toten
(2022)
Einleitung
(2021)
Berühren changiert zwischen Buchstäblichkeit und Metaphorik. Gegenüber dem Distanzsinn des Sehens wird mit dem Berühren eine größere Unmittelbarkeit assoziiert. Doch die Möglichkeit des Kontaktes ist von Beginn an prekär. Das Berühren kann sich selbst nicht berühren. In das Berühren schiebt sich ein Dazwischen, das den Entzug dieser ambivalenten Figur bedingt. Diese aporetische Bestimmung des Berührens begründet das Unternehmen des Bandes. Jeder Eintrag wiederholt eine Bewegung des Berührens: In einzelnen Text- oder Bildlektüren werden Spuren verfolgt, die das Berühren im stetigen Sich-Entziehen in seinen mannigfaltigen Nachbarschaften hinterlässt. Die einzelnen Einträge generieren sich aus diesen Lektüren. Dabei spielt die Nachbarschaft der Einträge selbst eine tragende Rolle. So wird das Berühren zum produktiven Prinzip von Philologie als einer kollektiven Lektüre- und Schreibform.
Shakespeares Meteopoetik
(2021)
Shakespeare war zweifellos ›Meteopoet‹. Obwohl es die frühneuzeitliche Bühne, die ohne Kulisse, künstliches Licht und mit nur sehr beschränkten Requisiten auskam, vor allerhand Darstellungsprobleme stellen musste, bilden Wetterereignisse einen festen Bestandteil vieler seiner Dramen. Der über sechs Szenen andauernde Bühnensturm aus King Lear gehört zu den berühmtesten meteorologischen Momenten der westlichen Literatur. Schon in Julius Caesar, etwa sieben Jahre zuvor entstanden, leitet die Bühnenanweisung »Thunder and lightning« (JC 1.3; JC 2.2) ein sich über mehrere Auftritte erstreckendes Unwetter ein, das mit den damaligen Mitteln auf der Bühne inszeniert werden musste: Vermutlich kamen dabei in Holztrögen oder direkt auf dem die Bühne überspannenden Dachboden gerollte Kanonenkugeln und an Fäden geführte Feuerwerkskörper zum Einsatz, die Donner und Blitz simulierten. So auch in der Macbeth eröffnenden Hexenszene, zumindest lässt darauf die identische Bühnenanweisung schließen. Dass dieses Bühnenwetter hier nicht nur die übernatürliche Atmosphäre unterstützt, sondern tatsächlich auch meteorologisch relevant ist, verdeutlichen zwei Hinweise: Zum einen erfahren wir von Macbeth später selbst, dass er und seine Zeitgenossen den Hexen tatsächlich die Fähigkeit zuschrieben, das Wetter zu machen:
»Though you untie the winds, and let them fight / Against the churches« (Mac 4.1.52–53), ruft er den Hexen entgegen – es antworten drei Donnerschläge. Zum anderen berichten zwei Randfiguren von einem außergewöhnlichen Unwetter, das
just in der Nacht, in der Macbeth Duncan ermordet, gewütet hatte: »The night has been unruly: where we lay / The chimneys were blown down« (Mac 2.3.54–55), erzählt Lennox, eine Szene später ergänzt ein alter Mann, dass er zu seinen Lebzeiten keine vergleichbare »sore night« (Mac 2.4.3) gesehen habe. Wetterschilderungen vergleichbarer Art begegnen auch in Othello.
Berühren Lesen
(2021)
Berühren changiert zwischen Buchstäblichkeit und Metaphorik. Gegenüber dem Distanzsinn des Sehens wird mit dem Berühren eine größere Unmittelbarkeit assoziiert. Doch die Möglichkeit des Kontaktes ist von Beginn an prekär. Das Berühren kann sich selbst nicht berühren. In das Berühren schiebt sich ein Dazwischen, das den Entzug dieser ambivalenten Figur bedingt. Diese aporetische Bestimmung des Berührens begründet das Unternehmen des Bandes. Jeder Eintrag wiederholt eine Bewegung des Berührens: In einzelnen Text- oder Bildlektüren werden Spuren verfolgt, die das Berühren im stetigen Sich-Entziehen in seinen mannigfaltigen Nachbarschaften hinterlässt. Die einzelnen Einträge generieren sich aus diesen Lektüren. Dabei spielt die Nachbarschaft der Einträge selbst eine tragende Rolle. So wird das Berühren zum produktiven Prinzip von Philologie als einer kollektiven
Lektüre- und Schreibform.
Nichts (Luce Irigaray)
(2021)
Berühren Denken
(2021)
›Theorie‹ geht etymologisch auf ›Anschauen‹ zurück. Der Theoretiker gilt gemeinhin als distanzierter Zuschauer. Diese distanzierte Position wird hier hinterfragt. Die Beiträge stützen sich dabei auf eine theoretische Tradition, die sich am Tastsinn als Korrektiv des Sehsinns orientiert. Taktilen Erfahrungsdimensionen wie dem Berühren wird schon lange eine idealisierte ›unmittelbare Wahrnehmung‹ jenseits von begrifflicher Abstraktion zugeschrieben. Die Autorinnen und Autoren beleuchten dagegen die komplizierte Verwandtschaft von Berühren und Denken und die begrifflichen Verwicklungen und Potenziale des Berührens. Es werden nicht nur unterschiedliche Konzepte von Berührung in Philosophie und Kunst betrachtet, sondern auch theoretische Denk- und Schreibformen erkundet, die selbst ›Berührungen‹ mit sich bringen.