340 Recht
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Advancing digitalization is changing society and has far-reaching effects on people and companies. Fundamental to these changes are the new technological possibilities for processing data on an ever-increasing scale and for various purposes. The availability of large and high-quality data sets, especially those based on personal data, is crucial. They are used either to improve the productivity, quality, and individuality of products and services or to develop new types of services. Today, user behavior is tracked more actively and comprehensively than ever despite increasing legal requirements for protecting personal data worldwide. That increasingly raises ethical, moral, and social questions, which have moved to the forefront of the political debate, not least due to popular cases of data misuse. Given this discourse and the legal requirements, today's data management must fulfill three conditions: Legality or legal conformity of use and ethical legitimacy. Thirdly, the use of data should add value from a business perspective. Within the framework of these conditions, this cumulative dissertation pursues four research objectives with a focus on gaining a better understanding of
(1) the challenges of implementing privacy laws,
(2) the factors that influence customers' willingness to share personal data,
(3) the role of data protection for digital entrepreneurship, and
(4) the interdisciplinary scientific significance, its development, and its interrelationships.
In the past decades, scholars and courts have paid considerable attention to the extraterritorial applicability of human rights treaties. By contrast, the extraterritorial application of constitutional rights has received comparable scholarly attention only in the United States. Specifically, there is a paucity of comparative research in this area, which contributes to the prevailing view that human rights law provides the proper framework under which domestic courts should examine extraterritoriality questions under constitutional law.
This article argues that domestic constitutional regimes and their judicial enforcers can and should provide an important counterweight to the deadlocked extraterritoriality debate at the international level. Using two case studies from Germany and the United States, it shows that domestic constitutional courts are sometimes better suited than treaty bodies to guard the normative values of human dignity and universality in an extraterritoriality context. This is most apparent in the case of Germany, which has a long tradition of integration into international multi-level governance systems and "bottom-up" resistance based on fundamental rights within such systems. Recent cases from the Federal Constitutional Court (Bundesverfassungsgericht) about the extraterritorial application of the Basic Law (Grundgesetz) to foreign intelligence gathering and climate change support this theory. However, an independent constitutional approach can also achieve some normative effects in domestic systems that are more isolated from the international human rights system. Thus, the US Supreme Court likewise used domestic constitutional doctrine to sidestep the American government's strictly territorial interpretation of the ICCPR and employ a functional approach to the extraterritorial applicability of fundamental rights in the case of detention of suspected terrorists in the Guantánamo Bay naval base.
The study of these two examples does not purport to be comprehensive or even representative of the world’s diverse array of constitutions and their relationships with international human rights law. However, the independent power of constitutional frameworks in these two disparate cases should all the more provide an impetus for increased comparative research into constitutional extraterritoriality regimes and their value for the project of human rights.
Die Knappheit medizinischer Ressourcen im Verlauf der COVID-19-Pandemie machte die Überlegung notwendig, wie und an wen medizinische Güter, besonders COVID-19-Impfstoff, verteilt werden sollen. Dafür wurden sowohl national als auch international Priorisierungskonzepte zur Impfstoff-Allokation entwickelt. Neben verschiedenen moralphilosophischen Grundsätzen und nationalstaatlicher Gesetzgebung sollten auch die Menschenrechte bei der Etablierung von Allokationssystemen berücksichtigt werden. Möglichkeiten zur praktischen Umsetzung sind etwa die Priorisierung vulnerabler Gruppen sowie die Gewährleistung von Diskriminierungsfreiheit und Chancengleichheit bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Ein intersektionaler, menschenrechtsbasierter Ansatz kann dazu beitragen, einen ganzheitlichen Blick auf die Gesundheitsversorgung der Gesellschaft zu werfen und neben den direkten medizinischen Problemen auch die sozialen Determinanten von Gesundheit und die Interdependenz aller zu schützenden Menschenrechte zu adressieren. Welche Rolle die Menschenrechte im Kontext der Ressourcenverteilung spielen, wird anhand der Verteilung von COVID-19-Impfstoff in Deutschland analysiert, wobei exemplarisch der besondere Schutz Älterer betrachtet wird.
Menschenrechte von LGBTQI+-Personen sind in keinem Vertragswerk ausdrücklich geregelt. Dementsprechend obliegt ihr Schutz der Rechtsprechung, die in den vergangenen Jahren ein ausdifferenziertes Schutzsystem etabliert hat, das sich vor allem auf den allgemeinen Schutz vor Diskriminierung, aber auch auf etwa das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens stützt. Der Beitrag stellt die historische Entwicklung dieser LGBTQI+-Menschenrechte dar und trägt die aktuellen Rechtsquellen sowie die wichtigsten Entscheidungen zusammen, die weltweit und insbesondere in Europa diese Rechte gestärkt haben. National und international begegnen rechtliche Probleme dort, wo immer spezifischere Fragestellungen auf weltweit politische Instabilität trifft. Dazu zählen etwa die Stigmatisierung von sog. Konversionsmaßnahmen und die Eintragung von Trans*personen ins Geburtenregister.
Diskriminierungsverbote gehören zu den Grundpfeilern des internationalen Menschenrechtsschutzes. Es gibt sie in unterschiedlichen Ausprägungen: Manche schützen nur vor einer Ungleichbehandlung bei der Inanspruchnahme eines Freiheitsrechts (sog. akzessorische Diskriminierungsverbote), andere schützen demgegenüber vor einer Ungleichbehandlung in sämtlichen Rechtskontexten. Ein allgemeines und umfassendes Diskriminierungsverbot, welches in allen Rechtskontexten gilt, findet sich in Artikel 1 des 12. Zusatzprotokoll zur EMRK. Dieses Zusatzprotokoll wurde von vielen europäischen Staaten - darunter auch Deutschland - bisher nicht ratifiziert. Der Beitrag möchte die menschenrechtlichen Potenziale und Mehrwerte dieses Zusatzprotokolls aufzeigen und nimmt dabei auch umfassend Bezug auf die Lernerfahrungen des UN-Zivilpakts, welcher mit Art. 26 UN-Zivilpakt eine strukturanaloge Regelung kennt.
Dimensionen von Macht
(2023)
Ziele: Die Autorin konzentriert sich auf die Betrachtung des ethischen Berufskodex der Sozialen Arbeit und untersucht Schlüsselthemen (professionelle Haltung, systemimmanente Dilemmata, Gewalt und Machtmissbrauch) in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe und des Kinderschutzes in Ungarn und Deutschland.
Methoden: Kurzdarstellung einer standardisierten Online-Befragung von Fachkräften im System der Kinder- und Jugendhilfe sowie des Kinderschutzes, die in Ungarn und Deutschland durchgeführt wurde. Der bereinigte Datensatz beläuft sich auf insgesamt 122 Fragebögen (Deutschland N=89, Ungarn N=33 aus Ungarn). Einige kinderrechtliche Herausforderungen in Bezug auf Institutionen der stationären Kinder- und Jugendhilfe und des Kinderschutzes in Ungarn werden darüber hinaus in einem Dialog vertiefend erörtert.
Ergebnisse: Der ethische Rahmen der Profession ist weitgehend bekannt, aber die Bedingungen in der Praxis müssen so verbessert werden, dass professionsethisch korrektes Handeln möglich ist. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass in der täglichen Praxis Verstöße gegen die Berufsethik vorkommen. Besonders besorgniserregend sind die Ergebnisse bezüglich Gewalt und Missbrauch gegenüber Adressat*innen.
Implikationen für die Sozialarbeit: Die Profession der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession ist unweigerlich in normative Fragen der gesellschaftlichen Macht- und Dominanzverhältnisse verstrickt. Professionelles Handeln erfordert zum einen Kenntnisse der Kinder- sowie Menschenrechte, das Bewusstsein für moralische Normen, Standards und Werte, zum anderen die Fähigkeit zur ethischen Urteilsbildung, Selbstreflexion sowie Intervention.
Aus dem Inhalt:
- Dimensionen von Macht – Unter Betrachtung des ethischen Berufskodex, der professionellen Haltung und systemimmanenten Dilemmata im ungarischen Kinderschutzsystem
– Das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK – Chancen und Potenziale eines allgemeinen und umfassenden Diskriminierungsverbots
- Zum aktuellen Stand und zu aktuellen Fragen des Menschenrechtsschutzes von LGBTQI+-Personen
- Fragen nach gerechter Verteilung – eine menschenrechtliche Analyse der Allokation am Beispiel von COVID-19-Impfstoffen für Ältere
- Extraterritorial Constitutional Rights: A Comparative Case Study of the United States and Germany*
- Bericht über die Tätigkeit des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen im Jahre 2022 – Teil II: Individualbeschwerden
At the beginning of 2020, with COVID-19, courts of justice worldwide had to move online to continue providing judicial service. Digital technologies materialized the court practices in ways unthinkable shortly before the pandemic creating resonances with judicial and legal regulation, as well as frictions. A better understanding of the dynamics at play in the digitalization of courts is paramount for designing justice systems that serve their users better, ensure fair and timely dispute resolutions, and foster access to justice. Building on three major bodies of literature —e-justice, digitalization and organization studies, and design research— Designing for Digital Justice takes a nuanced approach to account for human and more-than-human agencies.
Using a qualitative approach, I have studied in depth the digitalization of Chilean courts during the pandemic, specifically between April 2020 and September 2022. Leveraging a comprehensive source of primary and secondary data, I traced back the genealogy of the novel materializations of courts’ practices structured by the possibilities offered by digital technologies. In five (5) cases studies, I show in detail how the courts got to 1) work remotely, 2) host hearings via videoconference, 3) engage with users via social media (i.e., Facebook and Chat Messenger), 4) broadcast a show with judges answering questions from users via Facebook Live, and 5) record, stream, and upload judicial hearings to YouTube to fulfil the publicity requirement of criminal hearings. The digitalization of courts during the pandemic is characterized by a suspended normativity, which makes innovation possible yet presents risks. While digital technologies enabled the judiciary to provide services continuously, they also created the risk of displacing traditional judicial and legal regulation.
Contributing to liminal innovation and digitalization research, Designing for Digital Justice theorizes four phases: 1) the pre-digitalization phase resulting in the development of regulation, 2) the hotspot of digitalization resulting in the extension of regulation, 3) the digital innovation redeveloping regulation (moving to a new, preliminary phase), and 4) the permanence of temporal practices displacing regulation. Contributing to design research Designing for Digital Justice provides new possibilities for innovation in the courts, focusing at different levels to better address tensions generated by digitalization. Fellow researchers will find in these pages a sound theoretical advancement at the intersection of digitalization and justice with novel methodological references. Practitioners will benefit from the actionable governance framework Designing for Digital Justice Model, which provides three fields of possibilities for action to design better justice systems. Only by taking into account digital, legal, and social factors can we design better systems that promote access to justice, the rule of law, and, ultimately social peace.
Albert Hirschman hat sein schmales, aber überaus gehaltvolles Werk über ‚Leidenschaften und Interessen‘ mit einer nachdenkenswerten Bemerkung beschlossen, die veranschaulicht, warum die Beschäftigung mit der Ideen- und Geistesgeschichte auch aus heutiger Sicht noch lohnenswert ist: „Das ist wohl das einzige, was man vom Studium der Geschichte, insbesondere der Theorie- und Geistesgeschichte erwarten darf: Nicht, dass die Streitfragen entschieden, sondern dass das Niveau der Auseinandersetzung über sie gehoben wird.“
Die im vorliegenden Band abgedruckten Beiträge wurden in den 25 Jahren zwischen 1997 und 2022 in unterschiedlichen Zeit- und Festschriften veröffentlicht und für die vorliegende Zusammenstellung behutsam überarbeitet.
Die Arbeit befasst sich mit der Vorgabe des Aachener Vertrages, welche mit der Schaffung des Deutsch-Französischen Bürgerfonds die Zivilgesellschaften der beiden Partnerländer und ihr weiteres Zusammenwachsen in den Fokus genommen haben. Hierzu wird auf die Frage eingegangen, warum eine weitere deutsch-französische Organisation gerade in diesen Zeiten notwendig ist und warum ihr durch Ausgestaltung als möglichst eigenständige Institution die erforderliche Rolle als beständiger Motor für eine notwendige weitere Europäisierung zuteilwerden kann.
Der Bürgerfonds soll mithilfe seiner finanziellen Unterstützungsleistungen des binationalen Austausches von Bürgerinitiativen, Stiftungen, Kulturzentren, Vereinen, Städtepartnerschaften und sonstigen Formen privaten Engagements als „Leuchtturmprojekt des Aachener Vertrages“ diejenigen ansprechen, welche bislang nicht als klassische stakeholder der deutsch-französischen Freundschaft bekannt geworden sind.
Die Ausgestaltung des Bürgerfonds als eigenständige internationale Organisation erscheint vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung die optimale Rechtsform. Seine generelle Aufbauorganisation sollte an der des Deutsch-Französischen Jugendwerks angelehnt werden. Insoweit war die Vorgabe der organisatorischen Einbindung des Bürgerfonds in das Jugendwerk im Rahmen der Pilotphase bis Ende 2022 nicht nur wegen der dort vorhandenen großen Expertise eine sinnvolle Entscheidung des Deutsch-Französischen Ministerrats.
Eine Erweiterung des Verwaltungs- bzw. Kontrollgremiums in einem selbständigen Bürgerfonds durch Vertreter der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung erscheint zur Gewährleistung von Transparenz und tagespolitischer Unabhängigkeit ebenso ratsam, wie seine zumindest partielle Öffnung für andere europäische Mitgliedsstaaten.
Abschließend bleibt zu konstatieren, dass in den Zeiten kriselnder Demokratien und der COVID-Gefahr eine Hinwendung zu den Bürgern und ihren privaten bzw. para-öffentlichen Organisationsformen ebenso wichtig ist, wie die Förderung des Austausches der Bürger beider Länder im Herzen Europas mehr denn je hilft, Distanzen zu überwinden und transnationale Gemeinschaft zu erleben.
Die Entscheidung des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen im Fall Billy et al. gegen Australien zum Schutz der Beschwerdeführenden vor den Folgen des Klimawandels wurde als bedeutsamer Erfolg gefeiert. Der Ausschuss bewertet allerdings nur die Adaptationsmaßnahmen Australiens als unzureichend. Der Artikel untersucht, ob die Entscheidung einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Klimaschutz- und Klimaanpassungsrechts auf Menschenrechtsebene leistet. Eine nähere Analyse der Entscheidungsgründe zeigt, dass sie weniger progressiv sind als teilweise angenommen. Dennoch stellt die Entscheidung einen Präzedenzfall dar, der angesichts der zunehmenden Bedeutung der Klimaanpassung, auch für nationale Gerichte und regionale Menschenrechtsgerichtshöfe wegweisend ist.
Der Beitrag führt die Berichterstattung des MenschenRechtsZentrums über die Arbeit des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen fort. Er thematisiert insbesondere die im Jahr 2022 erfolgten obligatorischen Staatenberichtsverfahren nach Art. 40 des Zivilpakts. Im Staatenbericht wird dargelegt, welche Maßnahmen die Vertragsstaaten zur Gewährleistung der Rechte des Zivilpaktes getroffen haben. Im anschließenden Verfahren werden im Rahmen eines konstruktiven Dialogs mit dem betreffenden Staat Fragen zu Problemen (List of Issues) erörtert. Die Ergebnisse des Berichtsverfahrens fasst der Ausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen (Concluding Observations) zusammen. Am Ende seiner Abschließenden Bemerkungen stellt der Ausschuss einige Punkte heraus und fordert den Staat dazu auf, über Fortschritte in diesem Bereich nunmehr innerhalb von drei Jahren zu berichten (sog. Follow-up-Verfahren). Im Berichtszeitraum 2022 setzte sich der Ausschuss während seiner drei Sitzungen mit der Menschenrechtslage in 17 Vertragsstaaten auseinander. Thematische Schwerpunkte, die Gegenstand des Follow-up-Verfahrens wurden, bildeten Fälle von Gewalt gegen Frauen, insbesondere ein Anstieg an Fällen häuslicher Gewalt, die Einschränkungen der Meinungs- sowie der Versammlungsfreiheit und rechtsstaatliche Versäumnisse. Darüber hinaus wurden vielerorts die Bedingungen in Hafteinrichtungen und die Situation von Arbeitsmigrant:innen thematisiert.
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einer problematischen Seite der Samen- und Eizellenspende. Konkret konzentriert er sich auf die Anonymität im Rahmen dieses Verfahrens, die in manchen europäischen Staaten als eine gesetzliche Bedingung festgelegt ist. Es geht um eine Konsequenz der unklaren Regulierung auf EU-Ebene, die es ermöglicht, nationale Vorschriften nach individuellen Präferenzen des Gesetzgebers zu konzipieren. Trotzdem muss auch der menschenrechtliche Kontext berücksichtigt werden, weil die Anonymität des:der Spender:in dazu führt, dass das Kind de facto keine Chancen hat, seine (genetischen oder biologischen) Eltern zu kennen. Im Prinzip verletzt ein solcher Ansatz das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung, das in entsprechenden Menschenrechtskonventionen verankert und in der Judikatur des EGMR interpretiert wurde.
Das Vorsorgeprinzip ist ein mittlerweile weit verbreiteter und etablierter Grundsatz des internationalen und europäischen Umweltrechts. Demnach sollen auch in Situationen wissenschaftlicher Unsicherheit präventive Maßnahmen ergriffen werden, um schwerwiegende Umweltschäden zu vermeiden. Dieser Beitrag untersucht die Rolle des Vorsorgeprinzips im Zusammenhang mit menschenrechtlichen Klimaklagen, die aufgrund langsamer politischer Fortschritte und erfolgreicher Gerichtsentscheidungen zunehmend an Popularität gewinnen.
Zunächst wird ein Überblick über die Entwicklung und den materiellen Gehalt des Vorsorgeprinzips im internationalen und europäischen Recht gegeben. Obwohl das Vorsorgeprinzip seit den 1980er Jahren ein fixer Bestandteil des internationalen Umweltrechts ist, bestehen über dessen genauen Inhalt und Rechtsnatur nach wie vor Kontroversen. Im Unionsrecht wurde das Vorsorgeprinzip insbesondere durch die Rechtsprechung des EuGH konkretisiert.
Im nächsten Teil des Beitrags wird beleuchtet, welche Bedeutung der EGMR dem Vorsorgeprinzip in umweltrechtlichen Fällen bisher zugemessen hat. Hierbei steht die Entscheidung Tǎtar gegen Rumänien im Mittelpunkt. Gegenstand dieser Entscheidung war der Goldabbau in der rumänischen Stadt Baia Mare, der unter anderem unter dem Einsatz von Natriumzyanid erfolgte und zu wesentlichen Schadstoffbelastungen führte. Der EGMR bejahte unter Verweis auf das Vorsorgeprinzip eine Verletzung von Art. 8 EMRK, obwohl der Beschwerdeführer die Kausalität zwischen der Schadstoffbelastung und der behaupteten Schädigung nicht nachweisen konnte. Eine Analyse der nachfolgenden Entscheidungen veranschaulicht jedoch, dass sich das Vorsorgeprinzip noch nicht als fixer Bestandteil in der Rechtsprechung des EGMR etablieren konnte.
Abschließend wird gezeigt, welchen Beitrag das Vorsorgeprinzip zu der bisher wohl erfolgreichsten Klimaklage „Urgenda“ leistete. Das Vorsorgeprinzip wurde vom niederländischen Höchstgericht in diesem Fall insbesondere herangezogen, um Schutzpflichten aus Art. 2 und Art. 8 EMRK abzuleiten und den staatlichen Ermessenspielraum einzuschränken.
Spätestens seit dem Brand einer Textilfabrik in Karatschi, Pakistan, deren Hauptabnehmer das deutsche Textilunternehmen KiK war, ist die Frage nach der zivilrechtlichen Justiziabilität von Menschenrechtsverletzungen im Ausland auch in der Bundesrepublik angekommen. Parallel hierzu hatte bereits der Einsturz des Rana Plaza, einem Fabrikgebäude in Dhaka, Bangladesch, das zahlreiche Zulieferfirmen der europäischen sowie u.s.-amerikanischen Bekleidungsindustrie beherbergte, traurige Berühmtheit erlangt. Beide Vorfälle hatten in den Industriestaaten des globalen Nordens eine nachhaltige Debatte darüber ausgelöst, welche Verantwortung inländischen Abnehmerunternehmen für die Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards entlang der global angelegten Lieferkette zukommt. An deren vorläufigem Ende steht eine Reihe von Spezialgesetzen, die heimischen Betrieben ausdifferenzierte Sorgfalts- und Überwachungspflichten bezüglich der Arbeitsbedingungen in den – häufig im globalen Süden gelegenen – Produktionsstätten auferlegen.
Als Folge dieses geostrategischen Nord-Süd-Konfliktes wohnt in Deutschland erhobenen Menschenrechtsklagen im Regelfall ein grenzüberscheitendes Moment inne, weshalb sich die Rechtsverfolgung individuell Betroffener mit den Fragen des Internationalen Privatrechts nach der gerichtlichen Zuständigkeit sowie des anwendbaren Sachrechts konfrontiert sieht. Dass ein Verfahren bereits auf dieser Ebene scheitern kann, verdeutlicht auf paradigmatische Weise das eingangs erwähnte Verfahren gegen KiK vor dem LG Dortmund, in welchem das ungünstige pakistanische Verjährungsrecht zur Anwendung gelangte.
Rechtspolitisch wird die Funktion des Rechtsgebietes indes unterschiedlich beurteilt. Während ein Ansatz gleichsam auf materieller Ebene die Entwicklung spezieller Sorgfaltsnormen für Unternehmen in Abnehmerstaaten verfolgt („Verantwortungslösung“), führt eine andere Auffassung den Kern der Problematik nicht auf das – oftmals durchaus funktionale – Produktionslandrecht, sondern vielmehr auf dessen strukturelle Durchsetzungsdefizite zurück („Kognitionslösung“).
Der Beitrag vollzieht die Implikationen beider Ansätze für Zivilprozesse in Deutschland nach. Hierfür wird die Menschenrechtsklage zunächst in das deutsche Verfahrensrecht eingeordnet (I.) bevor die Rolle des Internationalen Privatrechtes erörtert werden kann (II.). Anschließend werden sowohl die Sorgfaltsregime in den Abnehmerstaaten (III.) als auch Rechtsbehelfe in den Produktionsländern am Beispiel Bangladeschs (IV.) in den Blick genommen.
In Vorbereitung der Allgemeinen Bemerkung Nr. 36 zum Recht auf Leben vollzieht der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen eine begriffliche Wendung: Fortan wird der Ausschuss nicht mehr von “vulnerable persons”, sondern von “persons in situations of vulnerability” sprechen. Zugleich scheint in der Wendung ein geändertes Verständnis von Vulnerabilität zu liegen, welches strukturelle Ungleichheiten und äußere Umstände, die Verwundbarkeit erzeugen, begrifflich erfasst. Das neue Verständnis scheint damit auch die Problematik der Zuschreibung von Verwundbarkeit zu entschärfen, die ihrerseits zu Marginalisierung betroffener Individuen führen kann. Der Beitrag vollzieht die Debatte um das neue Verständnis von Vulnerabilität im Menschenrechtsausschuss nach, und kontextualisiert diese innerhalb der aktuellen Spruchpraxis des Ausschusses. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Klimafällen, welche, so wird argumentiert, in besonderer Weise äußere, vulnerabilitätsproduzierende Umstände adressieren. Schließlich werden die potenziellen Stärken und Schwächen der begrifflichen Wendung reflektiert.
Aus dem Inhalt:
- Menschenrechtsklagen vor Zivilgerichten in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme der methodisch-rechtspolitischen Ansätze im Internationalen Privatrecht (IPR)
- Das Vorsorgeprinzip – ein unterschätzter Bestandteil menschenrechtlicher Klimaklagen?
- Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen und die Klimakrise – Die Entscheidung Billy et al. gegen Australien und ihr Beitrag zur „Begrünung“ des Menschenrechtsschutzes
Jahresbericht 2021-2022
(2023)
Der Jahresbericht des MenschenRechtsZrentrums der Universität Potsdam (MRZ) informiert über die Aktivitäten im Berichtszeitraum 2021 und 2022. Das MRZ ist eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Universität Potsdam; seine Mitglieder sind in Forschung und Lehre aktiv, wobei die Lehre an der Philosophischen und an der Juristischen Fakultät angeboten wird.
Zu den bearbeiteten Themen gehören Fragen der Gerechtigkeit, u.a. mit Blick auf die Folgen der Covid-19-Pandemie, der Verhältnis von Menschenrechten und Humanitärem Völkerrecht, der Schutz geflüchteter Personen und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ist eine der größten Herausforderungen und eine der drängendsten Aufgaben der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Dabei stellt die Frage der „gerechten Lastenteilung“ in der Asyl- und Migrationspolitik den Zusammenhalt der EU auf eine Zerreißprobe. Seit den gescheiterten Verhandlungen über die GEAS-Reform 2016/2017 versuchen die Mitgliedstaaten, einen Ausgleich zwischen den Grundsätzen der Solidarität und Verantwortlichkeit zu finden, wie es Art. 80 AEUV für das GEAS vorgibt. Je nach Interessenlage verbirgt sich dahinter aber ein sehr unterschiedliches Verständnis.
Diese Arbeit untersucht die Reformbemühungen beim GEAS nach Vorlage der Kommissionsvorschläge im September 2020 und beleuchtet die divergierenden Interessenlagen der Mitgliedstaaten hinsichtlich Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten. Ziel der Arbeit ist, eine Aussage über die Erfolgsaussichten einer Einigung über die Grundsätze der Solidarität und Verantwortung zu treffen. Dazu werden zunächst die Verpflichtungen im Asylrecht basierend auf internationalen Übereinkommen wie der Genfer Flüchtlingskonvention dargestellt. An-schließend werden GEAS und Dublin-System, das dem Ersteinreisestaat die Zuständigkeit für die Asylverfahren zuschreibt, und die Ursachen für sein Scheitern analysiert.
Diese Verantwortungsteilung, die zu einer überproportionalen Belastung der Mitgliedstaaten im Süden führt, ist Kristallisationspunkt für Konflikte, gegenseitigen Vorwürfe und Misstrau-en zwischen den Mitgliedstaaten. Infolge einer tatsächlichen Überlastung und teilweise selbst verschuldeten Unmöglichkeit, die GEAS-Verpflichtungen zu erfüllen, rufen die Südstaaten nach Unterstützung aus dem Norden und betreiben teilweise sogar eine Politik des Laissez-Passer. Durch teilweise katastrophale Zustände bei Verfahren, Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten entstehen Rückführungshindernisse und Druck auf die Zielstaaten, mehr Solidarität zu leisten.
Ausgehend von diesem Befund wird der Bedeutungsgehalt des Solidaritätsprinzips in Art. 80 AEUV in normativer und deskriptiver Hinsicht untersucht. Normativ handelt es sich dabei um eine abstrakte Rechtspflicht zur gegenseitigen Unterstützung, deren Ausgestaltung im politischen Ermessen der Mitgliedstaaten liegt. Deskriptiv kann unter „Solidarität“ der Zweck verstanden werden, dass die Verwirklichung individueller Interessen einer kollektiven Anstrengung bedarf, die wiederum das Gemeinwohl fördert und somit im Interesse aller liegt. Dem folgend müssten alle Mitgliedstaaten ein Interesse an der Bewältigung der Herausforderungen der Migration nach Europa haben.
Die Interessen der Mitgliedstaten deuten aber auf etwas anderes hin. Die durch die Ankünfte von Schutzsuchenden aus dem Süden stark belasteten Mittelmeeranrainer wie Griechenland und Italien fordern eine Abkehr vom Dublin-System. Die migrationskritischen Visegrád-Staaten verweigern im Grunde jede Unterstützung bei der Aufnahme und berufen sich darauf, dass sie ihre rechtlichen Verpflichtungen erfüllen. Staaten, die lange Zeit eine liberale Migrationspolitik verfolgten und beliebte Zielländer waren wie Schweden, ringen nach der Migrationskrise 2015/2016 mit sich auf der Suche nach einem migrationspolitischen Kurs, der rechts-populistische Kräfte nicht noch weiter erstarken lässt. Auch die Hauptzielländer Deutschland und Frankreich versuchen den jeweiligen innenpolitischen Diskursen entsprechend, die Sekundärmigration zu verhindern und wollen auf unterschiedliche Weise die Außengrenzstaaten unterstützen, wobei Deutschland die Umverteilung aller unterstützt.
Die im September 2020 vorgelegten Vorschläge der Kommission versuchen, den unterschiedlichen Interessen Rechnung zu tragen. Durch die Schaffung eines Grenzverfahrens soll die Anzahl der in die EU einreisenden und zu verteilenden Geflüchteten reduziert werden. Durch Änderung der Dublin-Kriterien soll die Zuständigkeit der potentiellen Zielländer erweitert werden, um die Südländer zu entlasten und der Sekundärmigration entgegenzuwirken. Mit der gleichen Zielrichtung soll auf Grundlage eines neuen Solidaritätsmechanismus eine Umverteilung unbegleiteter Minderjähriger und aus Seenot Geretteter erfolgen. In Krisenzeiten soll daraus eine generelle Umverteilung aller Schutzsuchenden erwachsen, wobei Solidarität weiterhin auf verschiedene Art und Weise geleistet werden können soll.
Angesichts der Verhandlungen während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und des er-reichten Zwischenergebnisses besteht Skepsis, dass die Mitgliedstaaten sich bald auf eine GEAS-Reform einigen werden. Dazu liegen die Interessen der Mitgliedstaaten auch hinsichtlich der Solidarität zu weit auseinander. Zudem stellt sich die in Hinblick auf die europäische Integration und die Zukunft der EU besorgniserregende Frage, worin das im Interesse aller liegende Gemeinwohl in der Asylpolitik liegen soll, das die gemeinsame Kraftanstrengung zu einem individuellen Interesse jedes Einzelnen werden lässt. Denn anders als bei der Schaffung des Schengen-Raums als Raum ohne Binnengrenzen sind Wohlstandsgewinne von der Aufnahme Geflüchteter vorerst nicht zu erwarten.
Indigene Rechte und COVID-19 (Brasilien) – indigenes Land und Gesundheit unter ernster Bedrohung
(2022)
Lockdown für Menschenrechte?
(2022)
Kollektiv zum Recht
(2022)