Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 5. Januar 2015 |
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Manfred Ringmacher Zwei Briefe auf Guaraní in Alexander von Humboldts Handschrift
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1.1 Einleitung Unter Wilhelm von Humboldts amerikanischen Sprachpapieren finden sich einige handschriftliche Beiträge Alexander von Humboldts.[1] Bedenkt man, dass sich Wilhelms Interesse an den amerikanischen indianischen Sprachen – neben der Begegnung mit den Sammlungen des römischen Bibliothekars Lorenzo Hervás y Panduro – auf Anregungen Alexanders und die Auswertung der von Alexander aus Amerika nach Europa mitgebrachten sprachbeschreibenden Materialien zurückverfolgen lässt,[2] wird einen die materielle Anwesenheit der markanten Schriftzüge Alexanders in Wilhelms Papieren in diesem Zusammenhang nicht unbedingt überraschen. Es geht einerseits um philologische Kleinigkeiten: Notizen zur Herkunft von zwei südamerikanischen Wortlisten;[3] ein Zettel bezieht sich auf Bücher in Indianersprachen;[4] in der umstrittenen Schrift von Duquesne über den Calendario de los Muiscas[5] hat Alexander Lesespuren hinterlassen.[6] Auf der anderen Seite steht das in Krakau aufbewahrte Konvolut Coll. ling. qu. 46 (S. 295 f.),[7] das ein paar Blätter aus der Chayma-Grammatik von Francisco de Tauste und interpretierende Notizen von Franz Bopp sowie resümierende Notizen von Alexander von Humboldt enthält.[8] Diese Notizen sind eine Vorarbeit für Alexander von Humboldts Würdigung der amerikanischen Sprachen am Beispiel der Chaymas-Sprache.[9] 1.2 Alexander von Humboldts Guaraní-Abschriften Über diesen Horizont des Erwartbaren ragt ein von Alexander von Humboldt geschriebenes Blatt in dem Konvolut Coll. ling. fol. 145 der Staatsbibliothek zu Berlin, Mappe XIII,[10] weit hinaus. In dieser Mappe sind Wilhelm von Humboldts Papiere zum Guaraní abgelegt.[11] Auf den Umschlag hat Wilhelm geschrieben: „Grammatik der S. u. N. Guarani Sprache“, und darunter: „Sie ist nicht vollendet“. Aus den Texten von Bl. 6r–9r, 11r–13r und 14r–29r ergibt sich eine Abhandlung über Teile der Grammatik des Guaraní; auf Bl. 53r–66r folgen „Beispiele zur Grammatik“. Beides ist veröffentlicht worden.[12] Bl. 67 enthält zwei Briefe auf Guaraní, Abschriften von der Hand Alexander von Humboldts, deren Originale im Jahr 1800 in der ehemals jesuitisch betreuten Indianersiedlung Santa María la Mayor am Río Uruguay geschrieben und an den Vizekönig des spanischen Vizekönigreichs La Plata gesandt wurden. Sie sind mit einer zeitgenössischen spanischen Übersetzung versehen; außerdem hat Alexander von Humboldt in französischer Sprache noch einige Erläuterungen gegeben.[13] Die Abschriften sind aus dem damals im Besitz des Geographen Malte Brun befindlichen, heute in der Bibliothèque Nationale in Paris aufbewahrten Manuskriptwerk von Lastarria genommen.[14] 2.1 Der historische Moment Die Guaraní-Indianer, schon vor dem Auftreten der Europäer sesshafte Ackerbauern, hatten leichter als die anderen eingeborenen Völker des von den Strömen Paraná, Paraguay und Uruguay durchflossenen Tieflandes ihren Platz in der kolonialen Welt gefunden, entweder in den kulturell mestizischen Städten oder in den Wäldern, in prekärer Freiheit. Die Jesuiten gründeten seit 1609 mit Indianern, die sie aus ihren Rückzugsgebieten herausführten, an der portugiesischen Südgrenze 30 „Reduktionen“, selbstverwaltete und rechtlich geschützte Siedlungen für Indianer. In diesen Siedlungen war das große Problem des Indianer-Tributs gelöst: im 17. Jahrhundert schuldete ein Indianer seinem König jährlich fünf Pesos[15] oder ersatzweise einen Monat Arbeit. Obwohl in ihren Gebieten kein gemünztes Geld im Umlauf war, gelang es den Jesuiten, durch Verrechnung mit den marktgängigen Produkten ihrer Latifundien („estancias“) die Bezahlbarkeit der Indianer-Tribute zu gewährleisten.[16] Nach der Ausweisung der Jesuiten 1767–68 traten Franziskaner und Weltgeistliche an ihre Stelle; die Bewohner der „Reduktionen“ aber waren nun bei der Bezahlung ihrer Tribute wieder allein auf sich gestellt. Es muss viele Fälle gegeben haben, in denen weder Geld noch Naturalien zur Bezahlung der Tribut-Schuld aufgetrieben werden konnten und nur die Ableistung langer Arbeitszeiten blieb. Im ersten der beiden Briefe nennen sich die Unterzeichner auf Guaraní heta etey roĭ co teco poriahu porara háramo, ‚die viele Jahre lang dieses Elend erduldeten’, und sie meinen damit die Zeit von 1768 bis 1800, bis der Marqués de Avilés Vizekönig in Buenos Aires wurde, der in seiner liberalen politischen Haltung entschlossen genug war, die den Bewohnern der einstigen „Reduktionen“ verbliebenen Einschränkungen gegenüber dem Rechtsstatus von Vollbürgern aufzuheben. Miguel Lastarria y Villanueva schließlich war Sekretär des Marqués de Avilés während seiner Amtszeit als Vizekönig in Buenos Aires. Sein Werk[17] ist eine Materialsammlung, die die Aufhebung der Tributlasten in den ehemaligen „Reduktionen“ der Jesuiten und die begeisterte Zustimmung der von ihren Lasten Befreiten dokumentieren sollte, allerdings dann schnell vom Ende der spanischen Herrschaft und der Entstehung der unabhängigen Staaten Argentinien und Paraguay überholt wurde. 2.2 Welches Guaraní? Das Guaraní war zwar nicht die einzige, aber doch die wichtigste indigene Sprache, die von der Bevölkerung der 30 „Reduktionen“ gesprochen wurde und von den aus Europa kommenden Jesuiten erst einmal gelernt werden musste. Zu diesem Zweck entstanden bemerkenswert gute Grammatiken und Wörterbücher, außerdem für den Sprachunterricht aufbereitete Mustertexte.[18] Für Wilhelm von Humboldts Beschäftigung mit dem Guaraní wurde die Beobachtung der jesuitischen Sprachforscher wichtig, dass das Guaraní und das an der portugiesisch beherrschten Atlantikküste weit verbreitete Tupinambá einander sehr ähnlich waren. Montoya behandelte sie als eine einzige Sprache; von ihr sagte er mit unüberhörbarem Stolz, sie domina ambos mares, el del Sur por todo el Brasil, y ciñendo todo el Perù, con los dos mas grandiosos rios que conoce el Orbe, que son el de la Plata, cuya boca en Buenos Ayres, es de ochenta leguas, y el gran Marañon, a èl inferior en nada, que passa bien vezino a la ciudad del Cuzco, ofreciendo sus inmensas aguas al mar del Norte. (diese eine Sprache) beherrscht beide Meere, das Südmeer in ganz Brasilien und um ganz Peru herum mit den beiden großartigsten Flüssen, die der Erdkreis kennt: dem Rio de la Plata, dessen Mündung in Buenos Aires achtzig Meilen breit ist, und dem großen Marañón, der ihm in nichts nachsteht und der, ganz nahe an der Stadt Cuzco vorbei, seine unermesslichen Wassermassen dem Nordmeer zuführt.[19] Wilhelm von Humboldt kannte die maßgeblichen Grammatiken und Wörterbücher des jesuitischen Guaraní nicht direkt, er hatte nur zwei sehr knappe Grammatikexzerpte und eine völlig unzulängliche Wortliste[20]; doch die These, dass Guaraní und Tupinambá ein und dieselbe Sprache seien, war ihm bekannt. Das Tupinambá, an sich schon eine vielgestaltige Sprache, war für ihn der Norddialekt des Guaraní.[21] Er kennt es aus drei sehr unterschiedlichen Quellen, in denen eine jüngere Stufe des Tupinambá,[22] die Verkehrssprache der mestizischen Bevölkerung[23] und die Verkehrssprache der indianischen Bevölkerung in Amazonien[24] dokumentiert sind.[25] Wilhelm von Humboldt fand hier tatsächlich viel zuverlässigeres Material als für das Guaraní, aber er verlor zugleich die Möglichkeit, das Ziel zu erreichen, das er in allen seinen vollständigen Grammatiken anstrebte: die Zusammenführung aller einzelnen Züge der Beschreibung in etwas, das er den „allgemeinen Charakter“ der jeweils untersuchten Sprache nannte.[26] Wenn er die beiden Briefe zur Kenntnis genommen[27] hätte, wäre nur noch deutlicher geworden, wie sehr die beiden Sprachen auseinanderstrebten. 2.3 Die Sprache der Briefe Über die beiden spanischen Briefe ist sprachlich wenig zu bemerken. Ihr auffallendstes Merkmal ist die massive Höflichkeitsrhetorik, die weit über die Redehaltung der Originalbriefe hinausgeht, was die Erschließung der Guaraní-Formen vom spanischen Text aus für Wilhelm von Humboldt unmöglich gemacht hätte, wenn er es versucht hätte. Das merkwürdige Wort relebar[28] ist wohl eher einem städtischen, vielleicht sogar europäischen Kopisten, der für Lastarria tätig war, als einem Gemeindeschreiber vom Río Uruguay zuzutrauen. Die beiden Briefe auf Guaraní sind gerade ihrer Sprache wegen von größtem Interesse. Sie sind zwar als „Sprachprobe“ viel zu kurz,[29] stehen aber für das umfangreiche von Lastarria zusammengebrachte Corpus von Guaraní-Texten. Diese Briefe kommen aus der gleichen Gegend, die auch die klassischen Texte der Jesuitenzeit hervorgebracht hat. In der „Reduktion“ Santa María la Mayor selbst stand eine Zeit lang die Druckerei, die Pablo Restivo und sein indianischer Sprachhelfer Nicolás Yapuguay für ihre Texte nutzten.[30] Es fällt auf, dass eine Generation später die meisten unterscheidenden Strukturmerkmale des Guaraní der Jesuitenzeit nicht mehr zu beobachten sind,[31] dass aber einzelne alte Formen noch bekannt sind (dies zeigt besonders der zweite Brief). Die Schreibung ist noch fast ganz wie in der Jesuitenzeit, mit einer halben Tilde: <ĭ> und <ў> für den Vokal, der russisch <ы> und türkisch <ı> entspricht, und mit der anderen Hälfte der Tilde zur Anzeige der Nasalität von Vokalen. Nur <ç>, das auch in der zeitgenössischen spanischen Orthographie nicht mehr angewandt wurde, wird durch <s>, <b> offenbar erst beim Abschreiben zum Teil durch <v> ersetzt. 3 Berichtigter Text der Briefe Für den vorgefundenen Textbestand sind die Faksimiles zu vergleichen. Grundlage der Textberichtigungen vor allem im Guaraní-Text ist der Vergleich mit den gedruckten Versionen[32] und der Rückschluss von den mitüberlieferten spanischen Versionen her sowie die Berücksichtigung der hinlänglich bekannten Sprachnormen des Guaraní des frühen 18. und des 20. Jahrhunderts. Berichtigte Wörter stehen als Ganze in eckigen Klammern, auch wenn ein einziger Buchstabe zu ändern war (vgl. die Faksimiles). Stehen eckige Klammern innerhalb eines Wortes, ist eine Abkürzung aufgelöst worden. ![]() Abb. 1: Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriften, Coll. ling. fol. 145, Bl. 67 recto, mit freundlicher Genehmigung
3.1 Erster Brief, auf Guaraní (Bl. 67r) Ex[celentissi]mo S[eño]r Virrey, Ore corre[gido]r hae Cav[il]do co táva Santa María | la mayor[33] pegua, hae opa ore pabê reta nde ore raĭhu | [catu] hague rehe oroyecohubaecuéra orerenohêvo aco | pĭtu [guasu] nunga heta etey Roў ore rihague hegui | ara rembipe porâ eteýpe; [ñemomirî angapĭhĭ] catu | etépe[34] [oroñemoîbo] nde [pĭguĭpe] aguĭyevete yevĭ yevĭ | meêbo ndéve. Heta etey roў. rupi [reco] co teco [poriahu] porara | háramo, hae tesaraiháramo [oroicobae] cuéra[35] [aco] | Tueỹ, Tĭreỹ rami [oroicóbo] anga coўte nde ereyehu oré- | -be ore poriahu bereco háramo, oreru ramo, ore reco | poriahu hegui orepĭcĭrôháramo.[36] [Opa] â mbae rehe [nico aguĭvete] yevĭ yevĭ yevĭ [oro- | -meê] Tupâ upe, hae ndéve abe, hae [catu tomeê] | Tecobe pucu ndéve heta roy rupi [eremaê hanguâ | opa] ore nunga yporiahubae rehe. Táva Santa | Maria la Mayor. Octubre 20 de 1800. Ex[celentissi]mo
S[eño]r Virrey 3.2 Erster Brief, auf Spanisch (Bl. 67r) El [Corregidor] y Cavildo de este pueblo de S. M[aria] la mayor y todos | los que por el favor de V[uestra] E[xcelencia] gozan de la apreciable liber- | -tad puestos con la mayor sumision a los pies de V[uestra] E[xcelencia] | le rendimos repetidas gracias por la caridad con que nos ha | mirado sacándonos de la opresion en que tanto tiempo | hemos vivido olvidados, assimismo del paternal amor | de un verdadero Padre, lo que todo esto vemos ahora | resplandecer en la caritativa persona de V[uestra] E[xcelencia]: por lo que | no [cesamos] ni cesaremos de dar repetidas gracias | al Dios de [la misericordia] y de rogar assimismo por la muy | apreciable [e importante] vida de V[uestra] E[xcelencia] procurando en ade- | -lante dar pruebas nada equívocas de verdaderos y agradeci- | -dos hijos de V[uestra] E[xcelencia] Pueblo de S. M. la mayor y Oct | 20 de 1800 Ex[celentissim]o
S[eño]r ![]() Abb. 2: Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriften, Coll. ling. fol. 145, Bl. 67 verso, mit freundlicher Genehmigung
3.3 Zweiter Brief, auf Guaraní (Bl. 67v) Ex[celentissimo] S[eño]r [Ndaiquaai mbae ñeêpa aiporúne] | ameê haguâ ndébe aguĭyebe | yebĭ yebĭ, co eremaê hague rehe | cherehe hae [cheraĭretarehe][38] | tesa [poroporiahubereco pĭpe] Señor. | [Haeramo,] Tupâ [ñandeiára] tomeê | tenondebe ramo [ñande] Rey D[o]n | Carlos quarto, hae ndébe abe | tecobe [aguĭyei Y̆bágape.][39] Ndébe nipo Señor Tupâ [ñan- | -deiára] nde apobaecuéra[40] eremaê | haguâ co orereco [poriahurehe,] | haeramo Señor nachecaneôiché- | -ne co [ўbĭ poriahu ári] aico ñabê | aierurébo nderehe che ñemboe- | -pĭpe[41] Tupâ upe tanderesape | hae [tanemoĭnĭhê] ygracia[42] ma- | -rangatu pĭpe quie[43] [Y̆bĭpe] hae- | -rami [Y̆bápe][44] abe. Che nde [raĭ] poriahu | ndepo [ahetû].[45] [Dámaso] Guayare 3.4 Zweiter Brief, auf Spanisch (Bl. 67v) No se en que lengua me explicaré | ni que palabras me puedan serbir[46] | para dar a V[uestra] E[xcelencia] repetidas gracias | por aver mirado con ojos de pie- | -dad assi a mi, como a todos | mis hijos compadeciendose de | nuestras miserias. En [cuya] aten- | -cion ruego a Dios nuestro S[eño]r | prospere en el Cielo con el | premio de la vida eterna | a N[ues]tro Rey D[o]n Carlos quarto | y a V[uestra] Ex[celenci]a Sin duda Dios n[ues]tro Señor | criò a V[uestra] Ex[celenci]a para relebar | aliviar?[47] | nuestras miserias y mirar por | nosotros: por tanto no me can- | -sarè (Señor) mientras viva en | este valle de lagrimas en rogar | a Dios para que alumbre a V[uestra] Ex[celenci]a y le assiste con el | lleno de todas sus gracias assi | en esta como en la otra | vida. B[esa] L[a] M[ano] de V[uestra] Ex[celenci]a su | pobre humilde hijo [Dámaso] Guayare 3.5 Alexander von Humboldts Erläuterungen, auf Französisch (Bl. 67v) Ces lettres en langue Guarany sont adressées | au Viceroi M[ar]ques de Avilès[48] à Buenosayres | (qui avoit diminué en faveur des Indiens | des missions du Paraguay les travaux | rustiques dits travajos de communidad, corvées | ou obligations des communes) M[onsieu]r Lastarria | les a porté à Madrid et elles se trouvent aujourd’hui | dans un manuscrit que possède M[onsieur] Malte- | Brun qui porte le titre Reorganizacion | y plan de seguridad de las colonias del | Rio Paraguay. Je les ai copié avec | beaucoup de soin. L’écriture est belle | et je ne crois pas qu’il y ait des doutes | même sur les r que les Espagnols écrivent | souvent comme des x Humboldt En les publiant[49] peutêtre | il faut parler de l’obligeante | communication de M[onsieur] Malte-Brun 4 Deutsche Übersetzungen 4.1 Erster Brief, aus dem Guarani Verehrter Herr Vizekönig: Wir, der Amtmann und das Kapitel in diesem Dorf Santa María la Mayor und alle, die wir in den Genuss deines Wohlwollens gekommen sind, da du uns aus der Finsternis, in der wir sehr viele Jahre gewesen sind, an das schöne Tageslicht geführt hast und wir dir in größter Ergebenheit zu Füßen liegen und dir Dank und wieder Dank sagen, als diejenigen, die dieses Elend viele Jahre lang erduldeten, als die Vergessenen, gleichsam vaterlose Waisen, erweist du dich nun als sich unser Erbarmender, unser Vater, unser Erretter aus unserem Elend. Für alles dies sagen wir Gott und auch dir Dank und wieder Dank. Gott gebe dir ein langes Leben, viele Jahre lang, damit du nach uns Elenden sehen mögest. Dorf Santa María la Mayor, 20. Oktober 1800. Verehrter Herr Vizekönig, die Befreiten küssen dir die Hand. ... Für mich und alle
Befreiten, 4.2 Erster Brief, aus dem Spanischen Amtmann und Kapitel dieses Dorfes Santa María la Mayor und alle, die durch Euer Hoheit Gunst die schätzbare Freiheit genießen, mit aller Ergebenheit Eurer Hoheit zu Füßen liegend, bringen Euch vielen Dank dar für die Güte, mit der Ihr uns bedacht habt, als Ihr uns aus der Bedrängnis, in der wir so lange vergessen lebten, herausführtet, und für die väterliche Liebe eines wahren Vaters. Das alles sehen wir jetzt in Eurer gütigen Person erstrahlen, weshalb wir jetzt und in Zukunft nicht aufhören werden, dem Gott des Erbarmens vielen Dank zu sagen und ebenso für Euer Hoheit schätzbares Leben zu beten, um von nun an Eurer Hoheit gegenüber unmissverständliche Äußerungen wahrer dankbarer Sohnschaft zu erbringen. ... Verehrter Herr, Eurer Hoheit küssen Eure dankbaren Söhne die Hand. 4.3 Zweiter Brief, aus dem Guaraní Verehrter Herr, ich weiß nicht, welche Worte ich gebrauchen soll, um dir Dank und wieder Dank dafür zu sagen, dass du mich und meine Söhne mit erbarmungsvollen Augen angesehen hast. Darum möge Gott, unser Herr, zunächst unserem König Karl IV. und (dann) auch dir das gute Leben im Himmel geben. Dich, Herr (Señor), hat Gott, unser Herr (Tupâ ñande yára), gemacht, damit du nach unserem Elend siehst. Darum werde ich, Herr, nicht müde werden, so lange ich auf diesem elenden Erdboden bin, in meinen Gebeten Gott für dich zu bitten, dass er dich erleuchte und mit seiner heiligen Gnade erfülle, hier auf Erden wie im Himmel. Ich, dein bedrängter Sohn, küsse dir die Hand. D. G. 4.4 Zweiter Brief, aus dem Spanischen Ich weiß nicht, in welcher Sprache ich mich erklären soll, noch welche Worte mir dienen können, um Eurer Hoheit vielen Dank dafür zu sagen, dass Ihr sowohl mich als auch meine Kinder Euch unserer Not erbarmend angesehen habt. In Ansehung dessen bitte ich Gott, unsern Herrn, dass es unserem König Karl IV. und Eurer Hoheit im Himmel mit dem Lohn des ewigen Lebens wohl ergehen möge. Zweifelsohne hat Gott, unser Herr, Eure Hoheit dazu geschaffen, unsere Not zu beenden und nach uns zu sehen. Darum werde ich, Herr, so lange ich in diesem Tränental lebe, nicht müde werden, Gott zu bitten, dass er Eure Hoheit erleuchte und Euch mit der Fülle seiner Gnadenerweisungen in diesem wie in jenem Leben beistehe. Es küsst Eurer Hoheit die Hand Euer demütiger Sohn D. G. 4.5 Erklärungen, aus dem Französischen Diese Briefe in Guaraní-Sprache sind an den Vizekönig Marqués de Avilés in Buenos Aires gerichtet, der den Indianern der Missionen von Paraguay die Landarbeiten, die so genannten trabajos de comunidad, Fronarbeiten oder Gemeindeverpflichtungen, verringert hatte. Herr Lastarria hat sie nach Madrid gebracht; sie befinden sich jetzt in einem Manuskript im Besitz von Herrn Malte Brun, betitelt: Reorganización y plan de seguridad de las colonias del Río Paraguay (‚Neuordnung und Sicherheitsplan für die Kolonien vom Río Paraguay‘). Ich habe sie mit großer Sorgfalt abgeschrieben. Die Schrift ist schön, und ich glaube nicht, dass es Unsicherheiten gibt, nicht einmal bei r, das die Spanier oft wie x schreiben. (Alexander von) Humboldt Falls sie veröffentlicht werden, sollte vielleicht die freundliche Mitteilung durch Herrn Malte Brun erwähnt werden. Literaturverzeichnis Acosta 1848 Acosta, Joaquín: Compendio histórico del descubrimiento y colonización de la Nueva Granada en el siglo décimo sexto. Paris 1848. Adelung/Vater 1806–17 Adelung, Johann Christoph/Johann Severin Vater: Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe. Bd. 1–4. Berlin 1806–17. Anonymus 1795 Diccionario portuguez, e brasiliano. Primeira parte. Lissabon 1795. Duquesne 1795 Duquesne de la Madrid, José Domingo: Calendario de los Muiscas. Abschrift im Nachlass Wilhelm von Humboldts. Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Handschriften. Coll. ling. qu. 37. Duquesne 1848 Duquesne de la Madrid, José Domingo: Disertación sobre el calendario de los Muyscas, Indios naturales de este Nuevo Reino de Granada. Año de 1795. In: Acosta 1848, S. 405–417. Eckart 1778–79 Eckart, Anselm von: Specimen Linguae Brasilicae vulgaris. In: Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur. Bd. 6, 1778, S. 195–213, Bd. 7, 1779, S. 121 f. Edelweiss 1969 Edelweiss, Frederico: Estudos tupis e tupi-guaranis. Confrontos e revisões. Rio de Janeiro 1969 Figueira 1795 Figueira, Luiz: Arte da grammatical da lingua do Brasil. Lissabon 1795. Furlong 1953 Furlong, Guillermo: Bibliografía de las imprentas del Río de la Plata. I. La imprenta en las Reducciones del Paraguay 1700 1727. In: Ders.: Historia y bibliografía de las primeras imprentas rioplatenses 1700-1850. Band 1. Buenos Aires 1953. Guasch 2008 Guasch, Antonio; Diego Ortiz: Diccionario Castellano-Guaraní Guaraní-Castellano sintáctico-fraseológico-ideológico. 13. Auflage. Asunción 2008. Hervás 1787 Hervás y Panduro, Lorenzo: Saggio pratico delle lingue. Cesena 1787 (Idea dell’Universo. Bd. 21). A. v. Humboldt 1814–25 Humboldt, Alexander von: Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent. Relation historique. 3 Bände. Paris 1814–25. W. v. Humboldt o. J. Humboldt, Wilhelm von: Grammatik der S. u. N. Guarani Sprache. 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Madrid 1639 Montoya 1639 b Ruiz de Montoya, Antonio: Tesoro de la lengua guarani. Madrid 1639. Montoya 1640 Ruiz de Montoya, Antonio: Arte y Bocabulario de la lengua guarani. Madrid 1640. Montoya 1989 Ruiz de Montoya, Antonio: Conquista espiritual hecha por los religiosos de la Compañía de Jesús en las Provincias de Paraguay, Paraná, Uruguay y Tape, estudio preliminar y notas de Ernesto J. A. Maeder, Rosario Mörner 1985 Mörner, Magnus: Actividades políticas y económicas de los jesuitas en el Río de la Plata. Buenos Aires 1985 Mueller-Vollmer 1993 Mueller-Vollmer, Kurt: Wilhelm von Humboldts Sprachwissenschaft. Ein kommentiertes Verzeichnis des sprachwissenschaftlichen Nachlasses. Paderborn 1993. Restivo 1724 Restivo, Pablo: Arte de la lengua Guarani. Con los Escolios Anotaciones y Apéndices del P. Paulo Restivo. Pueblo de Santa Maria la Mayor 1724. Restivo 1892 Restivo, Paulo: Linguae Guaraní Grammatica Arte de la lengua Guaraní inscripta. Hrsg. Christian Friedrich Seybold. 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Zitierweise Ringmacher, Manfred (2014): Zwei Briefe auf Guaraní in Alexander von Humboldts Handschrift. In: HiN - Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (Potsdam - Berlin) XV, 29, S. 90-101. Online verfügbar unter: <http://www.uni-potsdam.de/romanistik/hin/hin29/ringmacher.htm> Permanent URL unter <http://opus.kobv.de/ubp/abfrage_collections.php?coll_id=594&la=de> [1] Zu den amerikanischen Sprachpapieren vgl. Mueller-Vollmer 1993, S. 180 f., 194 (Coll. ling. fol. 46, Bl. 167r: „Ce fragment trouvé dans les archives de Santa Fe de Bogota m’a été envoyé par M. Don Manuel Restrepo Ministre de l’interieur de la republique de Colombie | Juin 1824 | [Alexandre de] Humboldt.“), 211, 289 f., 295 f., 317 (Bl. 67); aus dem Umkreis des Kawi-Werks (W. v. Humboldt 1836–39) S. 135, 140, 142, 162, 214; zum Ägyptischen S. 173; zum Griechischen S. 233, 237 („Allmähliges Erfinden der Sprache, Diod. I c. 8“, von Alexander notiert). [2] Vgl. Ringmacher 2012, S. 14–17. [3] Mueller-Vollmer 1993, S. 180, 194. [4] Ebd., S. 211. [5] Duquesne 1795; vgl. Duquesne 1848. [6] Mueller-Vollmer 1993, S. 295. [7] Ebd., S. 295 f. [8] Tauste 1680, S. 153 f., 159 f. Bopp identifiziert in Taustes Wortformen Pronominalpräfixe und notiert gleich auf S. 1 (der ersten Seite nach den Tauste-Fragmenten) sein – voreiliges – Ergebnis: „Die pronomina personalia sind zugleich possessiva, sie werden ihrem Substantiv unverändert vorgesetzt“ (vgl. A. v. Humboldt 1814–25, Bd. 1, S. 481). Alexander von Humboldt verweist in seinen Notizen auf „Schlegel“ zum Semitischen (Schlegel 1808, S. 55) und „Wilhelm“ zum Baskischen (vgl. A. v. Humboldt 1814–25, Bd. 1, S. 482, Anm. 1); er bezieht sich auf Friedrich Schlegels These von der organischen Geformtheit nur der mit dem Sanskrit zusammenhängenden Sprachen, also nicht zum Beispiel der amerikanischen (Schlegel 1808, S. 46–48). [9] A. v. Humboldt 1814–25, I, S. 474–491, insbesondere 480–485; vgl. Trabant 2012, S. 79 f. [10] Mueller-Vollmer 1993, S. 317. [11] Vgl. W. v. Humboldt 2011, S. 239 f. [12] W. v. Humboldt 2011, S. 257–349, herausgegeben von Harald Thun. [13] Ein erster Versuch, diese Texte zu lesen, ist in dem Konvolut Coll. ling. fol. 145 im Anschluss an Bl. 67 dokumentiert: Einem Zeitungsausschnitt (La Tribuna vom 28. Juli 1971) zufolge übergab der deutsche Botschafter eine Kopie von Bl. 67 an Juan Boggino (Universidad Nacional 2009, S. 66, und laut Prof. Hedy Penner, Asunción, brieflich), den Präsidenten der 1920 von Guillermo Tell Bertoni gegründeten Akademie für Guaraní-Sprache und -Kultur (Bl. 73 v). Der Misserfolg seines Leseversuchs hat sicher nichts mit fehlenden Sprachkenntnissen zu tun, denn er stammte aus Villarrica, der Hochburg des Guaraní in Paraguay, sondern vor allem mit der Vertracktheit von Alexanders Handschrift. Ich widme diesen erneuten Leseversuch Ingo Schwarz, der mich gelehrt hat, Alexander von Humboldts Handschrift zu lesen. [14] Lastarria 1805. Eine Kopie offenbar aus der Biblioteca Mitre, Buenos Aires, wurde im Druck veröffentlicht (Lastarria 1914). Die auf Guaraní geschriebenen Passagen sind dort viel weniger durch Fehler entstellt als in Alexander von Humboldts Abschrift. Ich danke Franz Obermeier, Kiel, für den hilfreichen Hinweis auf Lastarria. [15] Montoya 1639 a, Bl. 8v. Der Autor betont noch, dass es sich nicht um den Silberpeso (peso duro) zu acht Reales (etwa eine Unze Silber) handelt, sondern um den Peso hueco, eine Verrechnungseinheit, die im Wert nur einem Drittel von einer Unze Silber entsprach. Es war offensichtlich viel interessanter, den Tribut zu bezahlen als ihn abzuarbeiten. [16] Vgl. Mörner 1985. [17] Lastarria 1805. [18] Vgl. Montoya 1639 b, Montoya 1640, Restivo 1724/1892, Yapuguay 1727. [19] Montoya 1640, Bl. IV r. Südmeer und Nordmeer sind der Atlantik südlich und nördlich der Stadt Natal. Der ‚Staat Brasilien’ (Estado do Brasil) lag im Süden, der ‚Staat Maranhão’ im Norden, nahe der Amazonas-Mündung (König 2006, S. 46–49). [20] Coll. ling. fol. 23, 24 und 58; vgl. W. v. Humboldt 2011, S. 241 f. [21] Sein unmittelbares Vorbild dabei war Johann Severin Vater, der im Mithridates das Volk der „Nord-Guarany, das ist Tupi oder Ureinwohner Brasiliens“ erwähnte (Adelung/Vater 1806–17, Teil 3, Abteilung 2, S. 439). [22] Figueira 1795. [23] Anonymus 1795. [24] Eckart 1778–79. [25] Zu diesen verschiedenen Sprachformen vgl. Edelweiss 1969, S. 123–133, 188–196. [26] W. v. Humboldt 1994, S. 194; W. v. Humboldt 2009, S. 96. Er schrieb allerdings neben vollständigen Grammatiken auch Darstellungen, die sich auf die „Conjugationsform“ einer Sprache konzentrieren (W. v. Humboldt 2011, S. 235–703). [27] Wilhelm von Humboldt konnte die beiden Briefe schon deshalb nicht auswerten, weil er nicht einmal ein Wörterbuch hatte und weil die spanische Übersetzung für Rückschlüsse auf den Guaraní-Text zu frei war. Er ließ nach 1827 eines der Wörterbücher von Montoya abschreiben, aber es war das falsche, in der Richtung Spanisch-Guaraní (Montoya 1639 b), während er die Richtung Guaraní-Spanisch (Montoya 1640) gebraucht hätte (vgl. W. v. Humboldt 2011, S. 241). [28] Vgl. Anm. 47. [29] Ein Muster für überkurze „Sprachproben“ sind Werke wie das von Lorenzo Hervás (Hervás 1787, S. 86–227) und der ganze Mithridates (Adelung/Vater 1806–17), die ein sehr kurzes Gebet, das Vaterunser, als Beispieltext nutzen. Im Mithridates werden für das 15.–18. Jahrhundert 39 „Vaterunser-Polyglotten“ gezählt (Adelung/Vater 1806–17, Teil 1, S. 646–676). [30] Furlong 1953, S. 351. [31] Vgl. Anm. 40 und 42. [32] Lastarria 1914, S. 368 f., 371 f. [33] Diese Siedlung (tába) wurde 1626 von dem Jesuiten Diego de Boroa gegründet (Maeder, in Montoya 1639 a; Montoya1989, S. 215) und nach der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom benannt. Es gab noch eine Siedlung Santa María de la Fe nördlich des Río Paraná. [34] ‚In sehr großer Gelassenheit der Demut’, als Entsprechung von „con la mayor sumission“ (‚mit größter Ergebenheit’) in der spanischen Übersetzung. [35] Diese Form soll ‚die, die vergessen worden sind’ bedeuten. Sie vermischt zwei Ausdrücke: *tesaraipĭ ramo oroico bae (vgl. Montoya 1639 b, Bd. 2, S. 118: heçaray pĭré), wo allerdings aus dem Zustandsprädikat hesarai ein transitives Verb (mit einem Passiv auf -pĭ) gemacht wird, und die im älteren Guaraní zutreffende Lösung, hesaraiha baecuéra ‚die in Vergessenheit gewesen sind’ (vgl. Restivo 1892, S. 162). [36] Der Satzbau in diesem Brief erinnert an juristische Formulare mit Präambeln. Nach einer Kette von untergeordneten Prädikaten auf -bo bzw. -vo („Gerundien“) ist das erste Hauptsatzprädikat ereyehu (... ramo) ‚du erweist dich (als ...)’. Das erste Glied der Kette von „Gerundien“, ore renohêvo (‚weil du uns herausgeleitest’), hat das Subjekt ‚du’, die übrigen das Subjekt ‚wir’. Diese syntaktische Freiheit kann auf Unachtsamkeit oder die Wirkung spanischer Vorbilder zurückgehen. [37] Alexander von Humboldt sprang beim Abschreiben vom ersten Namen nach dem Corregidor zur letzten Amtsbezeichnung, denn er wusste, dass es seinem Bruder nicht auf Listen von Eigennamen und Ämtern, sondern auf vollständige Sätze als „Sprachproben“ ankam. [38] ‚Mich und meine Söhne’ – Dámaso Guayaré spricht von den Bewohnern von Santa María la Mayor wie die Geistlichen der Jesuitenzeit (1609–1768) von ihren Indianern. Er setzt diese Formel auch ein, um sich am Schluss des Briefes dem Vizekönig gegenüber als ‚dein Sohn’ (nde raĭ bzw. su hijo) zu bezeichnen. Es ist nicht auszuschließen, dass er damit auf seine eigene indianische Herkunft anspielt. [39] Die Ortsangabe ўbágape ‚im Himmel’ ist nicht von dem Verb (tomeê), sondern von dem Substantiv tecobe abhängig; in streng idiomatischem Guaraní wäre darum die appositive Ableitung tecobe ... ўbagapegua zu erwarten gewesen. [40] Ndébe für betontes ‚dich’ (mit Postposition, nach dem Vorbild von spanisch a tí) und der Relativsatz nde apo baecuéra (‚der dich gemacht hat’) zum Ausdruck der Vergangenheit (mit cuéra) im Hauptsatz (‚[Gott] hat dich gemacht’) sind charakteristische Formen des modernen Guaraní im Gegensatz zum Guaraní der Jesuitenzeit. [41] ‚In meinen Gebeten’. Diese Stelle liefert den deutlichsten Hinweis auf den geistlichen Beruf von Dámaso Guayaré. [42] Der Possessor in i-gracia (‚seine Gnade’) ist identisch mit dem Subjekt in tanemoĭnĭhê (‚er erfülle dich’). Im älteren Guaraní gibt es für eine solche Reflexität ein eigenes Präfix, o- und nicht i-. Zumindest Dámaso Guayaré kennt es nicht mehr; darin ähnelt seine Sprache dem modernen paraguayischen Guaraní. [43] Die Postposition pĭpe ‚in’ (che ñemboe pĭpe ‚in meinen Gebeten’) und ‚durch, mit’ (tanemoĭnĭhê igracia pĭpe ‚er erfülle dich mit seiner Gnade’) und das Adverb quie ‚hier’ sind aus der Sprache der Jesuitenzeit bekannt und im modernen Guaraní nicht mehr nachzuweisen. Der Briefschreiber bedient sich hier offenbar einzelner Brocken aus erinnerten Katechismustexten. [44] In den Formen ўbágape (modern und spontan verfügbar) und ўbápe (alt und in Mustertexten verankert) zeigen sich die zwei Schichten der Sprachkenntnis eines Guaranísprechers, der seine Alltagssprache sprach und außerdem Zugang zu alten Texten hatte. [45] Sowohl die Mitglieder des Gemeindekapitels als auch Dámaso Guayaré bieten dem König den Handkuss an. Aber während der Schreiber des Kapitels in wohlerzogenem Reduktionsguaraní sagt: ‚Wir applizieren unsere Münder auf deine Hand’, sagt Dámaso Guayaré volkstümlich derb: ‚Ich beschnuppere deine Hand’. Das Verb hetû für ‚küssen’ ist im Wörterbuch von Guasch (2008, S. 561: ‚oler, besar’) für das 20. Jahrhundert belegt, aber schon Montoya 1640 (S. 154v) kennt diesen Ausdruck und tadelt ihn. [46] Die spanische Übersetzung zerlegte den Satz mbae ñeêpa aiporúne (‚welches ñeê werde ich gebrauchen?’) entsprechend den beiden Bedeutungen von ñeê: ‚Sprache’ und ‚Wort’, in zwei Sätze. Diese Möglichkeit ergab sich wohl daraus, dass schon der Schreiber mit der Mehrdeutigkeit spielte und eine auf die rhetorische Etikette bezügliche Bescheidenheitsfloskel benutzte, um sich selbst zu fragen: soll ich in seinem Idiom, Spanisch, oder in meinem Idiom, Guaraní, schreiben? Wenn er sich für das Guaraní entschied, ist zu vermuten, dass er nicht damit rechnete, dass sein Brief wirklich gelesen wurde. [47] Der gedruckte Text (Lastarria 1914, S. 372) hat ebenfalls den auffälligen Gallizismus relebar, offenbar nach französisch relever quelqu’un d’une obligation ‚einen von einer Pflicht entbinden’. Der stilistisch viel schlichtere Guaraní-Text sagt nur: ‚damit du unsere Not ansiehst’; die spanische Übersetzung zerlegt dies in zwei Phrasen: ‚um unsere Nöte zu beheben und nach uns zu sehen’. Alexander von Humboldt schlägt ein gut spanisches Wort vor, das ‚erleichtern’ bedeutet; er scheint das Spanische noch im Ohr zu haben. Er ist jedoch der Sache nach im Unrecht, denn der Indianer-Tribut wurde nicht leichter gemacht, sondern ganz abgeschafft. [48] Gabriel de Avilés Itúrbide y del Fierro war 1799–1801 Vizekönig in Buenos Aires; er setzte durch, dass die Bewohner der vormals von Jesuiten betreuten Siedlungen ihren rechtlich definierten Indianer-Status ablegen durften. [49] Alexander weiß von Wilhelms Absicht, die Ergebnisse seiner Studien über die amerikanischen Sprachen zu veröffentlichen. Er muss die Abschriften zwischen 1823 und 1826 genommen haben, da Lastarria seinen Text am 30. Dezember 1822 aus dem Kriegsministerium zurückerhielt (Lastarria 1914, S. VIII) und Malte Brun, der den Text direkt von ihm erworben haben muss, am 14. Dezember 1826 starb.
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