Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
Originalfassung zugänglich unter http://www.hin-online.de

    HiN - Humboldt im Netz

______________________________________________________

Jörn Thiede
Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven

Russisch-Deutsche Zusammenarbeit
in Erforschung und Erschließung Nordsibiriens seit den Tagen von Alexander von Humboldt

4. Beispielhafte Vorhaben und Projekte

Die bisher durchgeführten  erfolgreichen russisch-deutschen Expeditionen in die Barents-, Kara- und Laptev-Meere nördlich von Sibirien, das angrenzende Nordpolarmeer sowie in das Ochotskische Meer und ausgewählte Landgebiete im äußersten Norden Sibiriens (dabei vor allem in der Republik Sakha) sind in einer Serie von gemeinsam publizierten Expeditionsberichten dokumentiert, die im Literaturverzeichnis aufgelistet sind und Zeugnis von der inzwischen aufgebauten engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Forschergruppen ablegen. Abbildung 3 gibt eine Übersicht über einige der wichtigsten Projekte, die dabei eingesetzten russischen und deutschen Koordinatoren und beteiligte Institutionen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit).

HiN | J. Thiede "Russisch-deutsche Kooperationen"

Abb. 3    

Beispiele russisch-deutscher Kooperationen mit den wichtigsten Koordinatoren und teilnehmenden Institutionen. S. Schriftenverzeichnis für die durchgeführten gemeinsamen Expeditionen.

 

Bescheidene Anfänge Forschungen in und um das Laptev-Meer Kara-Meer 
Ochotskisches Meer Forschungsvorhaben in den nordsibirischen Landgebieten

Die Zusammenarbeit begann unmittelbar nach der politischen Öffnung (1992) mit einer kleinen Expedition zu den neusibirischen Inseln, wo von einer kleinen russischen Polarstation auf Kotelny küstennahe Eisproben auf ihre Sedimenteinschlüsse untersucht werden sollten. Diese Inselgruppe liegt in der unmittelbaren Nähe der wichtigsten Bildungsgebiete von jungem Meereis, von dem wir heute wissen, daß es der Transpolaren Drift in die Fram-Straße und das europäische Nordmeer folgt. Diese Inseln liegen nahe der Unglücksstelle der US-amerikanischen „Jeanette“, deren Reste später vor Grönland gefunden worden waren und Fridtjof Nansen zu seiner großartigen Querung des Nordpolarmeeres auf der „Fram“ (1893-1896) inspiriert hatten. Unsere erste kleine Expedition (3 Teilnehmer) war noch über die damals noch russische Universität Tartu organisiert worden, bevor wir Kontakt zu den großen und leistungsfähigen Forschungseinrichtungen in Moskau, St. Petersburg und Murmansk aufgebaut hatten. Sie hatte jedoch bescheidene Vorläufer, als Forschungseinrichtungen in Kaliningrad und Murmansk erste vorsichtige Fühler ausstreckten, in dem sie Ende der achtziger Jahre ihre Forschungsschiffe Kiel anlaufen ließen und deutsche Nachwuchswissenschaftler zu Ausfahrten in das Barents-Meer einluden. Für beide Seiten war das damals noch ein schwieriges Unterfangen, das jedoch durch die bestehenden Kontakte von Wissenschaftlern aus der DDR, die ihren Wohnsitz nach Westen verlegt hatten und die mit ihren Russisch-Kenntnissen die notwendigen Kontakte halten konnten, ermöglicht wurde.

 

Bescheidene Anfänge Forschungen in und um das Laptev-Meer Kara-Meer 
Ochotskisches Meer Forschungsvorhaben in den nordsibirischen Landgebieten

Nach der ersten Expedition zu den Neusibirischen Inseln wurden das Laptev-Meer und das angrenzende Lena-Delta Ziel einer Serie von Expeditionen, die bis heute fortgesetzt werden ( Abb. 4). Sie wurden ermöglicht durch die enge Zusammenarbeit von GEOMAR und AWI mit dem staatlichen Arktis-Antarktis-Institut ( AARI) in St. Petersburg, dem P. P.Shirshov-Institut der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau und der Organisation Lena-Delta-Reservat der Republik Sakha. Ausnahmsweise gelang es, für die „Polarstern“ Forschungsgenehmigungen zu erhalten, aber in der Regel wurden russische Forschungsschiffe für die Expeditionen in das Laptev-Meer eingesetzt. Einen besonderen Höhepunkt stellt dabei eine kurze Expedition auf dem geotechnischen Bohrschiff „Kimberlit“ dar. Die Untersuchungen an Land wurden entweder in eigens eingerichteten Camps durchgeführt, aber im Gebiet des Lena-Deltas standen dafür auch die internationale Lena-Nordenskjöld Station und die Samoilov-Station zur Verfügung; beide werden vom Lena-Delta-Reservat betreut.

HiN | J. Thiede "Laptev-Meer und Lena-Delta"

Abb. 4    

Das Laptev-Meer und das Lena-Delta sind seit einen Jahrzehnt Ziel von russisch-deutschen Expeditionen, die meist mit russischer Logistik durchgeführt worden sind. Das in der Abbildung gezeigte Schiff ist der weltweit größte konventionell angetriebene Eisbrecher, die „Kapitan Dranitsin“ aus Murmansk, deren Einsatz eine Winterexpedition in das Laptev-Meer ermöglichte.

Das Laptev-Meer liegt, abgeschirmt von den Einflüssen des Atlantiks im Westen und des Pazifiks im Osten, vor Zentral-Nordsibirien und stellt das wichtigste Gebiet der Bildung von jungem Meereis dar. Der jahreszeitlich stark schwankende Süßwasserzustrom durch die Lena und anderer Ströme aus Zentralsibirien prägt die Hydrographie des flachen Laptev-Meeres. Hier „sammelt“ das Meereis seine Fracht an suspendierten, meist relativ feinkörnigen Sedimenten, deren Anreicherung durch Schmelzvorgänge mehrjährigem  Meereis eine merkwürdige braune Färbung geben kann und die auch noch nach dem Passieren des Nordpolarmeeres durch die Fram-Straße in das Europäische Nordmeer transportiert werden. Der größte Teil des jungen Meereises bildet sich im Herbst, Winter und Frühjahr in der sog. “Flaw Lead Polynia“, die auch im Winter durch ablandige Winde offen gehalten wird und in der sich das Oberflächenwasser stark abkühlen kann.

Der Meeresboden des Laptev-Meeres ist nicht von kontinentalen Eisschilden überformt worden und daher flach und eben; nur die fossilen Flusstäler, die während der glazialen Niedrigstände des Meeresspiegels den Laptev-Schelf kreuzten, prägen die Morphologie dieser Schelfgebiete. Anhand der Stratigraphie von Sedimentkernen, die die holozänen und spätquartären Sedimente in einzelnen flachen Sedimentbacken durchteuft haben, kann die Geschichte der postglazialen Transgression im Detail rekonstruiert werden.

Der Laptev-Meer Schelf wird über weite Gebiete durch das Vorkommen von submarinem Permafrost geprägt, der lokal von einer dünnen Lage holozäner Sedimente bedeckt ist, z. T. jedoch direkt am Meeresboden ausstreicht und der vermutlich ein Relikt vergangener Eiszeiten darstellt. Auf bis vor wenigen Jahren noch kaum zu interpretierenden hochauflösenden seismischen Profilen konnte inzwischen mit Hilfe von flachen geotechnischen Bohrungen Vorkommen und Alter von spätglazialem Permafrost nachgewiesen werden. Da im Gebiet des Laptev-Meeres zeitweise hohe Sommertemperaturen auftreten, die auch zur schnellen Zerstörung der Küstenlinien der eiszeitlichen Eiskomplexe ( Abb. 5) und zum Zerfall einzelner kleiner, an aufragende Reste von Eiskomplexen gebundene Inseln führen, ist es zur Zeit nicht klar, ob auch die submarinen Permafrostvorkommen großräumig erodiert werden. Dieses kann nur durch Tiefenbohrungen nachgewiesen werden, wie sie im Frühjahr 2005 im unmittelbaren Küstenbereich abgeteuft worden sind und wie sie für den off-shore Bereich für den Spätsommer 2005 geplant waren (die letzteren konnten aufgrund besonders schwieriger Eisverhältnisse in der Straße von Wilkitsky, die ein Auslaufen des geotechnischen Bohrschiffes „Kimberlit“ verhinderten, nicht durchgeführt werden und mussten daher in die Zukunft verschoben werden).

Abb. 5    

Zerfallende Eiskomplexe an den Küsten des Laptev-Meeres. Ein aus dem Eis herausgeschmolzener Mammutzahn gibt ein Beispiel für die z. T. hervorragend erhaltenen Fossilien der Eiskomplexe.

Die Lena, die weite Bereiche Zentral- und Nordsibiriens entwässert und die durch einen jahreszeitlich stark schwankenden Abfluß gekennzeichnet ist (mit einem über die Jahre hinweg relativ stabilen Abflußmaximum im Juni) hat in ihrem Mündungsbereich in das Laptev-Meer eine komplexe Delta-Struktur aufgebaut. Da im eigentlichen Deltagebiet auch ältere Formationen (Festgesteine) Inseln bilden und die vermutlich hauptsächlich quartären Ablagerungen des eigentlichen Deltas in Terrassen unterschiedlicher Genese gegliedert sind und wir deren Stratigraphie nur ansatzweise kennen, müssen zur Geschichte dieses Deltas noch viele Daten erhoben werden. Da die meisten Inseln des Deltas jedoch aus Formationen des (an der Oberfläche noch aktiven) Permafrostes bestehen und sich auf komplexe Weise aus dem Polygonen von Eiskeilen gebildet haben, stellen sie hervorragende Meßgebiete für die modernen Stoffumsätze (jahreszeitlich stark wechselnde Gasflüsse) durch die oberflächlichen Zonen des Permafrostes dar.

Die älteren Teile der Eiskomplexe mit den hervorragend erhaltenen pleistozänen Groß-Säugerfossilien (Mammute etc., vgl. Abb. 5) unterliegen z. Zt. wegen der relativ warmen Sommer intensiven Abschmelzprozessen, vor allem entlang von Flussufern und den Küsten des Laptev-Meeres. Sie sind gleichzeitig hervorragende Archive einer Zeit, als NW-Eurasien von den Eisschilden der letzten großen Kaltzeit bedeckt waren, Nordsibirien mit seinen extrem kalten steppenähnlichen Polarlandschaften jedoch noch einen Lebensraum für eine diverse Fauna von Wirbeltieren und vermutlich auch für den Menschen bot.    

 

Bescheidene Anfänge Forschungen in und um das Laptev-Meer Kara-Meer 
Ochotskisches Meer Forschungsvorhaben in den nordsibirischen Landgebieten

Das Projekt SIRRO (Siberian River Runoff), das gemeinsam vom AWI und dem Vernatsky-Institut für Geochemie der russischen Akademie der Wissenschaften mit zusätzlichen Partnern in Rußland und Deutschland getragen wird, untersucht die Zufuhr und Verteilungsmechanismen von organischen und anorganischen Schwebstoffen von Ob und Jenessei im südlichen Kara-Meer. Eine Expedition des FS „Boris Petrov“ hat auch das Seegebiet vor den nördlichen Svernaja Zemlja-Inseln untersucht, um festzustellen, wo die NE Begrenzung des eurasischen Eisschildes des letzten glazialen Maximums (vor. ca. 20 000 J.) zu suchen sei. Dieses war ein wichtiger Beitrag zu dem internationalen QUEEN-Programm (Quaternary Environments of the Eurasian North) der ESF (European Science Foundation), das auf bilateralen Kooperationen von westeuropäischen Forschungseinrichtungen aus 9 Ländern mit russischen Partnern aufbaute und erstmalig nachweisen konnte, daß der eurasische Eisschild des letzten glazialen Maximums nie weiter nach Osten als in das westliche und nördliche Kara-Meer (unter Einschluss von Novaja Zemlja) reichte.

 

Bescheidene Anfänge Forschungen in und um das Laptev-Meer Kara-Meer 
Ochotskisches Meer Forschungsvorhaben in den nordsibirischen Landgebieten

Das Ochotskische Meer und die vulkanische Halbinsel Kamtschatka waren das Ziel mehrjähriger Expeditionen im Rahmen des KOMEX (Kurile Okhotsk Marine Experiment), während derer es gelang, erstmals seit vielen Jahren, mit einem ausländischen Forschungsschiff, nämlich der deutschen „Sonne“, moderne marin-geowissenschaftliche Untersuchungen in diesem geodynamisch hochaktiven Gebiet durchzuführen. Das Ochotskische Meer ist ein „Back-Arc“-Becken, das sich hinter der durch den Kurilen-Inselbogen markierten Subduktionszone entlang der Grenze zwischen Pazifischer und Eurasischer Platte entwickelt hat. Hier kommt es neben intensiven tektonischen und als Konsequenz auch vulkanischen Prozessen zu quantitativ bedeutsamen Austauschprozessen zwischen dem Meeresboden und der überlagernden Wassersäule. Das Ochotskische Meer ist vermutlich das Teilgebiet des Weltmeeres, das im Vergleich die höchste Methan-Zufuhr erfährt und an dessen Meeresboden aufgrund einzigartiger geochemischer Bedingungen Baryt ausfällt. Durch die jahreszeitlich schnell wechselnde Meereisbedeckung im nördlichen Ochotskischen Meer erhält dieses Meeresgebiet auch ozeanographisch und paläozeanographisch eine große Bedeutung, weil es vermutlich während der Eiszeiten Herkunftsgebiet einer beinahe weltweit verfolgbaren Wassermasse war, die über den gesamten Pazifik und darüber hinaus verfolgt werden konnte.

Die Arbeiten im Rahmen des KOMEX-Projektes wurden in Deutschland durch GEOMAR (Kiel), AWI (Bremerhaven) sowie das Institut für Biogeochemie und Marine Chemie der Universität Hamburg getragen, auf russischer Seite durch SIO (P. P. Shirshov Institut für Ozeanologie der RAS in Moskau), POI (das Pazifische Ozeanologische Institut der RAS in Vladivostok), das staatliche VNII Okeangeologiya in St. Petersburg, das Institut für vulkanische Geologie und Geochemie in Petropavlovsk-Kamchatsky, sowie das Geologische Institut des Fernen Ostens, auch in Vladivostok.  

 

Bescheidene Anfänge Forschungen in und um das Laptev-Meer Kara-Meer 
Ochotskisches Meer Forschungsvorhaben in den nordsibirischen Landgebieten

Neben den marin-geowissenschaftlichen Forschungsprojekten, die in Rußland als Kooperationsprojekte zwischen deutschen und russischen Forschungseinrichtungen seit der Perestroika entwickelt wurden, hat es auch wichtige Forschungsinitiativen in terrestrischen Gebieten gegeben, die hier nur kursorisch erwähnt werden können, aber in den entsprechenden Expeditionsberichten ausführlich dokumentiert sind.

Sie begannen mit limnologischen und paläoklimatischen Untersuchungen auf der Taimyr-Halbinsel sowie geowissenschaftlichen Beobachtungsprogrammen der Permafrostgebiete in Zentralsibirien. Im Lena-Delta wurden systematische Aufnahmen der Eiskomplexe und umfangreiche Aufsammlungen ihrer Fossilien durchgeführt, die erstmals eine Chronologie des Faunenumschwunges gegen Ende der letzten Eiszeit ermöglichen. Die Nutzung und der weitere Ausbau der Station des Lena-Delta-Reservates auf der Insel Samoilov sind die logistische Basis für umfangreiche regionale Aufnahmen der pleistozänen und holozänen Sedimentverteilungen im Lena-Delta, sowie die technische Voraussetzung für die Einrichtung eines Observatoriums zur Bestimmung der Gasflüsse aus den Permafrostböden und der im jahreszeitlichen Auftau- und Gefrierzyklusses schnell wechselnden  Stoffflüsse in der aktiven Zone  der Polygonböden.

Ein besonders herausragendes Beispiel der russisch-deutschen Zusammenarbeit stellt die Eisbohrung durch die Akademik NAUK-Eiskappe auf Severnaja Zemlja dar, die durch Mitarbeiter des AARI und des AWI abgeteuft werden konnte. In den kommenden Jahren sollen Bohrungen durch die Sedimentfüllung des Elgygytgyn-Sees in NO-Sibirien Aufklärung über die spättertiären und quartären Klimaänderungen geben. Dieser See ist das Ergebnis eines pliozänen Meteoriteneinschlags; da er niemals von einen glazialen Eisschild überfahren worden ist, ist die Sedimentschichtung völlig ungestört und kann daher mit den äquivalenten Ablagerungen des Baikal Sees in S-Sibirien verglichen werden. Langfristziel dieser Kooperation könnte die monographische Bearbeitung der tertiären und quartären Geschichte des Lena-Flusslaufs sein.

______________________________________________________

<< letzte Seite  |  Übersicht  |  nächste Seite >>