Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                     III, 4 (2002)
 
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Ottmar Ette (Potsdam)

»... daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein«

Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika

 

 

2. Alexander von Humboldt als Problem

Der Verfasser der Ansichten der Natur scheint mit dem Bilde Preußens, wie es sich bis heute entwickelt hat, wenig gemein zu haben. Im Rahmen der erwähnten Entdeckungsreise durch Brandenburg-Preußen wird dem preußischen Reisenden, Wissenschaftler und Schriftsteller - der Jahrzehnte seines Lebens nur einen Steinwurf vom Ausstellungsort entfernt lebte und arbeitete - keinerlei Aufmerksamkeit zuteil, erscheint er in einem informativen Artikel über Leopold von Buch doch allenfalls als Freund des großen deutschen Geologen[14]. Ist Alexander von Humboldt, der sich zeit seines Lebens für die Vermehrung der Verbindungen zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen und Kontinenten einsetzte und daher schon bald nach seinem Tod im Mai 1859 im Kontext nationalistischer und kriegerischer Vorstellungen und Ereignisse zwischen 1870 und 1945 einem bemerkenswerten Vergessen im deutschsprachigen Raum anheimfiel, nach der Überwindung der Teilung Deutschlands und im Umfeld der Zweihundertjahrfeiern seiner Amerikareise zu einer Art Kulturbotschafter der neuen Bundesrepublik geworden, so wirkt das Schweigen um Humboldt dann, wenn von Preußen oder Brandenburg die Rede ist, besonders auffällig - auch wenn es bislang noch kaum jemandem aufgefallen zu sein scheint. Dieses Schweigen mag uns nicht nur zeigen, wie sich Preußen nach Humboldts Tod selbst sah, sondern auch, wie es seitdem - gerade mit Blick auf »Preußen und die Welt« - gesehen wurde und wird. Doch ist es paradox, daß der jüngere der beiden Humboldt-Brüder für die Tradition einer kulturellen Offenheit Deutschlands gerne ins Feld geführt wird, nicht aber für jene Preußens steht, während seinem Bruder Wilhelm (nicht nur als Begründer der Berliner Universität und Schöpfer des in Deutschland bis in unsere Tage vorherrschenden Universitätsmodells) eine durchweg wichtigere Rolle innerhalb des Preußenbildes zugedacht wird. Es gilt daher zunächst dem Rätsel nachzugehen, warum Alexander von Humboldt zu einem (unausgesprochenen) Problem für Preußen und das noch immer vorherrschende Preußenbild werden konnte.

     Preußen wurde - von der Krönung des Kurfürsten Friedrichs III. in Königsberg[15] mit ihrer kleinen semantischen Verschiebung zum König Friedrich I. nicht von, sondern in Preußen bis zur Bismarckschen Reichsgründung gerechnet - einhundertsiebzig Jahre alt, Alexander von Humboldt immerhin neunundachtzig. Während seines gesamten Lebens existierte Preußen als Staat, auch wenn er dessen vorübergehenden Zusammenbruch unter der Hegemonialpolitik Napoleons mitansehen mußte und daher seine 1808 erstmals erschienenen Ansichten der Natur vorzugsweise "Bedrängten Gemüthern" widmete[16]. Als er 1769 in Berlin das Licht der Welt erblickte, sollte die Regierungszeit Friedrichs des Großen noch volle siebzehn Jahre, bis 1786, andauern: Der Aufstieg Preußens vom zersplitterten Kleinstaat der Hohenzollern zur kriegsbereiten Großmacht in Europa hatte gerade erst mit Macht begonnen. Und als der Verfasser des Kosmos noch vor Vollendung der Summa seines Wissens 1859 in Berlin verstarb, sollte es kaum mehr ein Dutzend Jahre dauern, bis Preußen - wie man heute immer wieder lesen kann - "in die deutsche Falle"[17] tappte.

     Früh schon stieg auch der junge Alexander von Humboldt zu einer nicht nur nationalen, sondern auch internationalen Berühmtheit auf und avancierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu dem weltweit fraglos meistgeachteten und meistbeachteten Gelehrten des deutschsprachigen Raumes. Anders jedoch als bei seinem Bruder Wilhelm, dem Staatsmann und Gelehrten, und anders als bei dem nicht aus Preußen stammenden Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der in Berlin gleichsam zum »Staatsphilosophen« wurde, siedelten sich jene Dinge, für die Alexander von Humboldt berühmt wurde, im wesentlichen außerhalb Preußens an. Es waren die großen Forschungsreisen - allen voran die von 1799 bis 1804 durchgeführte »Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents« -, aber auch die vielfältigen Aktivitäten und Veröffentlichungen während seiner von 1804 bis 1827 reichenden Pariser Jahre, die den Preußen zum herausragenden Gelehrten der ersten Jahrhunderthälfte machten. Daß Humboldt sein - wie er oft formulierte - "vielbewegtes Leben"[18] jahrzehntelang in Preußen, vor allem in Berlin und Potsdam, zubrachte, daß er dem preußischen König und dessen Hof nicht nur nahestand, sondern ihm als Kammerherr bis an sein Lebensende diente, trat angesichts der Vielzahl seiner Reisen, der Niederschrift des größten Teiles seines Reisewerkes in französischer Sprache sowie der weitgespannten Beziehungen dieses Nomaden der Wissenschaft nur allzu schnell in den Hintergrund. Daß Alexander von Humboldt Preußen in Frankreich im diplomatischen Dienst jahrzehntelang so klug vertrat, daß er vom Berliner Volksmund nicht als »Gesandter« - dies war der preußische Botschafter -, sondern als »Geschickter« bezeichnet wurde, geriet ebenso in Vergessenheit wie die Tatsache, daß sein Begräbnis zu einem Staatsakt wurde, bei dem ihm nicht nur eine ungeheure Menschenmenge die letzte Ehre erwies, sondern auch der preußische Prinzregent Wilhelm, der spätere König und Kaiser Wilhelm I.  mit seiner Anwesenheit ehrte[19].

     Doch blieb der Name Alexander von Humboldts - und dafür gibt es gute Gründe - nicht in erster Linie mit Preußen verbunden. Nicht allein seine wissenschaftlichen Reisen nach Amerika und nach Asien, sondern auch sein hohes Maß an gelebter Internationalität und sein zwischen verschiedenen kulturellen Traditionen angesiedelter Lebensstil machten ihn früh, lange vor den vielen chauvinistischen Anfeindungen am preußischen Königshof, zur Inkarnation eines weltoffenen Preußentums, das in das Bild eines eng verstandenen territorialisierten Preußenstolzes nicht passen wollte. Dem gegenüber verkörperte der weltgewandte und vielsprachige Berliner ein anderes Preußen. Ein früher und zugleich schmerzlicher Beleg für diese Tatsache stammt aus der Feder seines eigenen Bruders Wilhelm, der zum damaligen Zeitpunkt preußischer Gesandter in London war und seiner Frau Caroline anläßlich des Besuchs seines Bruders in der englischen Hauptstadt am 3. Dezember 1817 mitteilte:

Alexander ist gestern früh abgereist. Er schien sich diesmal mehr zu gefallen...

Obgleich anfangs Alexanders Ankunft mir hier etwas zu früh kam, so hatte es sich gegen das Ende so gemacht, daß wir sehr angenehm miteinander waren und uns nicht störten. [...] Er hat versprochen, gegen das Frühjahr wiederzukommen, und sein Weggehen hat mir leid getan. Außer der persönlichen Zuneigung bringt er auch immer Bewegung ins Leben. Aber wahr bleibt dabei immer, daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein und bis in alle Kleinigkeiten pariserisch geworden ist. Auch die Berg hat das gefunden, und was am schlimmsten ist, auch bei Lesung seines Buches. Hierin ist nun jetzt nichts mehr zu ändern. Überhaupt ist es wunderbar, wie alles in ihm auf dies Talent der Äußerung in einer gewissen gegebenen Art geht. So spricht er merkwürdig gut Englisch, und alle, mit denen er hier gesprochen, bemerkten es, dennoch kann ich Dir versichern, daß, wenn ich zufällig etwas mit ihm las, er sehr oft bekannte Worte und Wendungen nicht verstand. Er ist sicher eine der merkwürdigsten Naturen, die es jemals gegeben hat.[20]

Nicht nur anderen wie Frau von Berg, der Freundin der preußischen Königin Luise, sondern auch dem eigenen, in seinen Beobachtungen stets sehr präzisen Bruder kommt Alexanders "Natur" nicht nur "merkwürdig" und "wunderbar", sondern zugleich auch nicht länger "deutsch" vor. Zeichen dieser Andersartigkeit ist das nach außen Gewandte, die Fähigkeit zur Äußerung, die freilich - so wird hier suggeriert - nicht notwendig auf inneren Kenntnissen beruhen muß, wie sich bei gemeinsamer Lektüre englischsprachiger Texte herausstellt. Auch der weitere Fortgang dieses Briefes, in dem Alexander als derjenige erscheint, der auf die Äußerlichkeiten der Vermählung der Kinder seines Bruders achtet und diesen etwa fragt, warum sie denn "keine reichen Partien"[21] gemacht hätten, unterstützt diese These. Immer wieder wird die Wendung »nach außen«, zum »Äußerlichen«, zu dem als »anders« Empfundenen als auffällig und eher »pariserisch« denn als »deutsch« gedeutet, ein Gegensatz, welcher der Abgrenzung festgefügter nationaler beziehungsweise protonationaler Identitäten entspricht, wie sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Grenzziehungen zwischen französischem esprit und deutschem Geist charakterisieren sollte. Innerlichkeit und Tiefe des Deutschen (und a fortiori Preußischen) versus Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit des Französischen zeichnen sich selbst innerfamiliär als »merkwürdige« Merkmale einer Ab- und Ausgrenzung ab. Auf diesen allzu simplen, aber bis heute nur schwer aus der Welt zu schaffenden Binarismus läßt sich letztlich auch die Zuwendung zum »Inneren«, zum »Eigenen« von jener zum »Äußeren« und zum »Anderen« beziehen. Esprit und Conversation versus Geist und Gespräch bilden für lange Zeit Pole eines deutsch-französischen Gegensatzes, den Alexander von Humboldt als öffentliche Figur zum Ärgernis der Vertreter eines »wahren« Deutschtums unterlief. Fehlender Gedankentiefe wird man den schnellzüngigen und konversationsgewandten Preußen nicht bezichtigen können, doch zog es ihn immer zur (flinken) Äußerung und zum (kulturell) Anderen, wenn auch nie so, daß er darüber die eigene Herkunft, den eigenen Standort aufgegeben hätte. Doch genügte sein ausgeprägtes Interesse am Anderen, um ihn in den Augen mancher Zeitgenossen und wesentlich mehr noch im nationalistisch aufgeheizten Europa der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als einen Menschen erscheinen zu lassen, der eher Weltbürger als Staatsbürger war. Auf die komplizierten Mechanismen einer solchen Ausbürgerung zum Weltbürger wird im folgenden noch zurückzukommen sein.

     Nicht unwichtig für die zeitgenössische wie die spätere Rezeption dürfte die Tatsache sein, daß Alexander von Humboldt zwar eine Gesamtschau Neu-Spaniens oder Kubas, nicht aber Preußens verfaßte, daß er wohl eine Vielzahl bisweilen grimmiger, grell ausgeleuchteter Portraits von Zeitgenossen in der Berliner Gesellschaft oder am Potsdamer Hof, aber keine »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« hinterließ, die ihn bei aller Kritik noch als einen »Preußen« oder gar als einen »Märker« identifiziert hätten. Stallgeruch haftete ihm nicht an. Nicht zuletzt die kurz nach seinem Tod und ohne sein Einverständnis erfolgte Veröffentlichung seines Briefwechsels mit Varnhagen von Ense[22], in welchem Humboldt posthum vor aller Augen mit spitzer Zunge Preußisches und Allzu-Preußisches kommentierte und nicht selten aufspießte, tat ein Übriges, um Alexander von Humboldt aus preußischer Perspektive als Problem erscheinen zu lassen. Den Hintergründen und der Hintergründigkeit dieses Problems wollen wir uns aber nun im Spannungsfeld zwischen Preußen, Europa und Amerika zuwenden.


[14] Vgl. Hoppe, Günter: Leopold von Buch: Der bedeutendste deutsche Geologe seiner Zeit. In: Marksteine, a.a.O., S. 378-380.

[15] In der »unernsten Geschichte Brandenburgs« ist diese Szene hübsch gestaltet: "Die Königszeremonie 1701 in Königsberg, das schon immer so hieß, weil hier eines Tages gekrönt werden sollte, lief wie am Schnürchen, da sie ja der Kandidat mit Sophie Charlotte schon x-mal durchexerziert hatte. Noch in der Königsnacht, in den Königsberger Schloßbetten, erklärte sie ihm: »Du glaubst doch wohl nicht, daß ich in dieser Taiga versauere! Gleich morgen geht es zurück nach Berlin, wo schon Leibniz und der Friseur auf mich warten.«"

Sie wußte auch gleich, wie man den Umzug in die Taiga umgehen konnte: »Königsberg ist zwar jetzt unser Hauptwohnsitz, wir werden aber ständig, wie dazumal Kurfürst Joachim und Elisabeth, in unserer Nebenwohnung leben, und die ist in Berlin.« (Dill, Hans-Otto / Stecher, Gerta: Die unernste Geschichte Brandenburgs, a.a.O., S. 128 f.)

[16] Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Erster Band. Tübingen: Cotta 1808, S. VII. Wissen und Wissenschaft dienten ihm gleichwohl niemals - wie noch zu zeigen sein wird - zur Flucht aus der politischen Realität seiner Zeit.

[17] Vgl. u.a. Haffner, Sebastian: Preußen ohne Legende, a.a.O., Klappentext.

[18] Humboldt, Alexander von: Dankadresse an den Magistrat und die Stadtverordneten der Stadt Potsdam vom 21. Oktober 1849. In: Engelmann, Gerhard: Alexander von Humboldt in Potsdam. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages. Potsdam: Bezirksheimatmuseum Potsdam 1969, S. 28.

[19] Damit war bei Humboldts Trauerfeier in gewisser Weise bereits der künftige Triumph und Untergang des preußischen Staates zugegen. Daß Alexander von Humboldt ungeachtet aller Verehrung, die man ihm entgegenbrachte, auch zahlreiche Feinde besaß, von denen einige ihm selbst noch nach seinem Ableben grollten, bezeugen symbolhaft die kuriosen Störungen bei der Überführung seiner Leiche nach Tegel; vgl. hierzu Biermann, Kurt-R. / Schwarz, Ingo: »Gestört durch den Unfug elender Strolche«. Die skandalösen Vorkommnisse beim Leichenbegängnis Alexander von Humboldts im Mai 1859. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins (Berlin) XCV, 1 (Januar 1999), S. 470-475.

[20] Gespräche Alexander von Humboldts. Herausgegeben von Hanno Beck. Berlin: Akademie-Verlag 1959, S. 51 f.

[21] Ebda., S. 52.

[22] Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagen's Tagebüchern und Briefen von Varnhagen und Andern an Humboldt. [Hg. von Ludmilla Assing.] Leipzig: F.A. Brockhaus 1860. Die Herausgeberin stellte dieser breit rezipierten Ausgabe freilich in legitimatorischer Absicht ein Zitat aus einem Brief Humboldts an Varnhagen vom 7. Dezember 1841 voran, in dem es mit Blick auf die Briefe hieß: "Über solch Eigenthum mögen Sie nach meinem baldigen Hinscheiden walten und schalten. Wahrheit ist man im Leben nur denen schuldig, die man tief achtet, also Ihnen." (Ebda., S. V; ich danke Ingo Schwarz für diesen Hinweis). Ob Humboldt mit einer Edition der Briefe nicht durch (den längst verstorbenen) Varnhagen, sondern durch die ihm persönlich bekannte Ludmilla Assing einverstanden gewesen wäre, ist zumindest fraglich.

 

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