Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
Originalfassung zugänglich unter http://www.hin-online.de

H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                      III, 4 (2002)
 
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Ottmar Ette (Potsdam)

»... daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein«

Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika

 

 

5. Der Weltbürger als Staatsbürger

Nach dem Zusammenbruch des sogenannten »Dritten Reichs« veröffentlichte der zunächst in die Türkei und dann in die USA emigrierte Romanist Leo Spitzer im Jahre 1946 in der von Werner Krauss, Karl Jaspers, Dolf Sternberger und Alfred Weber herausgegebenen ersten Nummer der Zeitschrift Die Wandlung unter dem Titel »Das Eigene und das Fremde. Über Philologie und Nationalismus« einen Beitrag, der eine kritische Durchsicht der Entwicklung einzelner Nationalphilologien, aber auch unter dem Eindruck der deutschen Katastrophe eine schonungslose Bestandsaufnahme des deutschen Geisteslebens zu unternehmen suchte:

Es ist ja eine paradoxe Folge der lutherischen Innerweltlichkeit des deutschen Menschen, der sich um Politik nicht kümmerte, daß sein Weltsinn nur in dem Verständnis des Weitentfernten sich betätigt, daß er das Nah-Umgebende nicht kritisch distanziert aufnehmen konnte: der Deutsche überwand die Kleinstaaterei nicht innerlich mit der Reichsgründung, sondern übertrug gleichsam das Duodezformat seines politischen Denkens auf das neue Reich. In Weimar hatte man weltbürgerlich gedacht, in Berlin dachte man eng-nationalistisch. Welche geistige Enge eines mit seiner Behörde zufriedenen Staatsbeamten verrät nicht die Naivität des weltumspannenden Hegel, die Erfüllung des Weltgeistes in dem Preußen seiner Tage sehen zu wollen![41]

Der hier von Leo Spitzer aufgezeigte Kontrast zwischen der lokalen Weltbürgerlichkeit Weimars und der weltumspannenden Enge Berlins mußte Alexander von Humboldt geradezu notwendig in eine Auseinandersetzung mit Hegel treiben, konnte er dessen Vorstellungen von der Weltgeschichte und vom Wirken des Weltgeistes doch nicht teilnahmslos gegenüberstehen. Der Briefwechsel mit Varnhagen von Ense zeigt uns eine Reihe aufschlußreicher Reaktionen Humboldts bei seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie. So lesen wir etwa in einem Brief vom 30. Mai 1837 an den Freund:

Hegel's geschichtliche Studien werden mich besonders interessiren, weil ich bisher ein wildes Vorurtheil gegen die Ansicht hege, daß die Völker, ein jedes, etwas repräsentiren müssen; daß alles geschehen sei, »damit erfüllet werde« was der Philosoph verheißt. Ich werde aufmerksam lesen, und gern von meinem Vorurtheile zurückkommen.[42]

Zwei Tage später aber berichtete Humboldt bereits von seiner Hegel-Lektüre, ein "abstraktes Behaupten rein falscher Thatsachen und Ansichten über Amerika und die indische Welt" wirke auf ihn "freiheitraubend und beängstigend"[43]. Hier wird deutlicher, was Humboldt gegen Hegel hegt. Ohne an dieser Stelle auf weitere, oftmals verzweifelt spöttische Bemerkungen Humboldts über die jeder direkten Erfahrung bare Fabulierkunst des großen Philosophen eingehen zu können, läßt sich doch dem Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher insgesamt beipflichten, der den Gegensatz zwischen Humboldt und Hegel so zu fassen versuchte:

Während Alexander von Humboldt an die Auswertung seiner Reise und an die Rehabilitierung eines Kontinentes ging, sass in Deutschland ein Gelehrter wie Hegel in der Stube und brauchte die Diskriminierung Amerikas, um eine Fuge in seinem System zu leimen.[44]

Gewiß lassen sich die Positionen Hegels und Humboldts jenem jahrhundertelangen Streit zuordnen, der gelehrte Vertreter beider Kontinente in ihrer Bewertung der »Neuen Welt«[45] entzweite, und dessen Folgen sich bis heute in der Ausgestaltung einer Vielzahl von Heterosteereotypen, von Klischees über die Bewohner Amerikas und ihren Kontinent, niederschlagen. Mir scheint aber, daß sich die Positionen Hegels und Humboldts weit über die Dimensionen eines säkularen Gelehrtenstreites hinausgehend als Entwürfe zweier sehr unterschiedlicher Projekte der Moderne begreifen lassen, die darin übereinstimmen, daß sie gleichermaßen weltumspannend zu sein vorgeben und die Moderne von europäischer Warte aus entwerfen. Doch während Hegels geschichtliche Teleologie in grundlegender Weise auf Ausschlußmechanismen basiert, die das kulturell Fremde unverkennbar zugunsten des Eigenen ausblenden oder für unterlegen erklären, wurzelt Humboldts Projekt in einer Tradition des Kosmopolitismus, die im heutigen Sinne natur-, kultur- und geisteswissenschaftliche Aspekte zusammendenkt, auf eigener Erfahrung beruht und integrative Mechanismen entwickelt, die das Eigene mit dem Fremden vermitteln und - wenn auch nach europäischem Vorbild - eine multipolare Entwicklung der Weltgesellschaft ermöglichen sollen. Vor dem Hintergrund der nationalistischen europäischen Großmacht- und Kolonialpolitik war bereits im 19. Jahrhundert aber unübersehbar, daß das Humboldtsche Moderne-Projekt auf verlorenem Posten stand und bis heute minoritär blieb, ja als solches gänzlich in Vergessenheit geriet. Alexander von Humboldt selbst wurde nachträglich »diszipliniert« - also auf verschiedene Disziplinen aufgeteilt -, auf die Maße eines »Naturwissenschaftlers« oder eines »Geographen« gestutzt, sein Werk selbst aber zum Steinbruch degradiert, aus dem sich bestenfalls noch das Bildungsbürgertum einzelne Fragmente herausbrechen konnte.

     Die interkulturell und transdisziplinär ausgerichtete Humboldtsche Wissenschaft aber basierte auf einem relationalen, unterschiedlichste Wissensbestände und Logiken miteinander in Beziehung setzenden Denken, in dem ein Projekt der Moderne Gestalt annahm, das einer Kosmopolitik im oben umschriebenen Sinne verpflichtet blieb. Das Humboldtsche Weltbewußtsein bildete die Grundlage einer neuen Wissenskonfiguration, die quer zur auch von Humboldt als notwendig erachteten Spezialisierung unterschiedlichste Wissensbestände miteinander verknüpfen sollte. Gerade heute kann sie für den aktuellen Wissenschaftsbetrieb und die hochspezialisierten Wissenschaftsstrukturen zu einem kritischen Bezugspunkt für transdisziplinäre Ansätze werden, die Mensch und Natur, Wissen und Gesellschaft nicht auseinanderdividieren.

     Nach seiner Übersiedelung nach Berlin im Jahre 1827, die seiner Reisetätigkeit - wie nicht nur die 1829 durchgeführte russisch-sibirische Forschungsreise belegt - keineswegs ein Ende bereitete, versuchte der Weltbürger Humboldt als Staatsbürger und gleichsam ungekrönter König der Wissenschaften in Preußen gesellschaftlich wirksam zu werden. Noch im selben Jahr dokumentierten seine sogenannten »Kosmos-Vorlesungen« an der Universität und - in noch weiteren Rahmen - im damals größten Berliner Saal der Singakademie erfolgreich den Versuch, mit seinem Wissen unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen zu erreichen und sein Wissen konkret fruchtbar werden zu lassen.

     Das Projekt der »Kosmos-Vorlesungen« ist sicherlich ein Paradebeispiel dafür, wie der Weltbürger sich als Staatsbürger in die Weiterentwicklung und Verbesserung der Gesellschaft seines Heimatlandes einbringen und gesellschaftlich wirken wollte. Es zielte auf eine Popularisierung und Demokratisierung des Wissens, auf eine relationale, soziale Probleme in Preußen mit weltweiten Entwicklungen, gutsherrschaftliche Verhältnisse mit Kolonialstrukturen vergleichende Sichtweise des Eigenen im Dialog mit dem Anderen ab. Die Bildung möglichst breiter Schichten der Bevölkerung lag ihm, der schon als junger Mann 1794 im preußischen Staatsdienst ohne vorherige Rücksprache mit seinem Ministerium für den Unterricht der ihm anvertrauten Bergleute gesorgt und im fränkischen Preußen auf eigene Kosten eine »freie Bergschule« gegründet hatte, sehr am Herzen. So betonte er noch Jahrzehnte später anläßlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft durch die Stadt Potsdam - die ihren Ehrenbürger allzu lange vergessen hat - am 21. Oktober 1849, diesen Bildungsbestrebungen sei sein "ganzes langes, vielbewegtes Leben gewidmet gewesen"[46]. Und er fügte an die Adresse der Stadtverordneten gerichtet nicht ohne mahnenden Unterton hinzu:

Sie haben, Ihrer würdig, neben der pflegenden Sorgfalt für das materielle Wohl, von höheren Ansichten geleitet, ihre theilnehmende Achtung auch für die Bestrebungen darthun wollen, die mit den Fortschritten des Wissens, der Volkserziehung und der Allgemeinen Bildung des Menschen zusammenhängen.[47]

Als Humboldt für die ihm erwiesene Ehre dankte, war der Achtzigjährige bereits mit der Niederschrift des dritten Bandes seines Kosmos beschäftigt und konnte neben seiner wissenschaftlichen und schriftstellerischen Tätigkeit auch auf ein langes politisches Wirken in Preußen zurückblicken. Als Intellektueller avant la lettre war er stets bestrebt gewesen, die Wissenschaft nicht aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, die weltbürgerliche Dimension nicht aus ihrer staatsbürgerlichen Funktion zu entlassen. Preußen und Amerika, Brandenburg und die Welt: Das waren für ihn nicht voneinander getrennte Bezirke, die bestenfalls punktuell und mit leicht folkloristischem Unterton miteinander in Verbindung standen, sondern Teile eines Kosmos, dessen Gesetze zum Nutzen der gesamten Menschheit - und nicht nur Preußens oder eines ganz bestimmten Weltgeistes - untersucht, beschrieben und gesellschaftlich wirksam vermittelt werden sollten. So heißt es - im offenkundigen Bewußtsein der Doppelgesichtigkeit des preußischen Staates[48], in dessen Modernität das eklatant Vormoderne stets präsent blieb - in den »Einleitenden Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze« im ersten Band des Kosmos:

Vervollkommnung des Landbaus durch freie Hände und in Grundstücken von minderem Umfang, Aufblühen der Manufacturen, von einengendem Zunftzwange befreit, Vervielfältigung der Handelsverhältnisse, und ungehindertes Fortschreiten in der geistigen Cultur der Menschheit, wie in den bürgerlichen Einrichtungen, stehen (das ernste Bild der neuen Weltgeschichte dringt diesen Glauben auch dem Widerstrebendsten auf) in gegenseitigem, dauernd wirksamem Verkehr mit einander.[49]

Der Verfasser des Kosmos verkörperte einen integralen und zugleich fundamentalen Bestandteil Preußens, auch wenn sich dieser im weiteren geschichtlichen Verlauf bis zum Untergang in der nationalen Katastrophe nicht durchzusetzen vermochte. Preußen auf Militarismus und damit auf seine schwarze Legende, gleichsam seine leyenda negra zu reduzieren, ist längst nicht mehr ernsthaft möglich; dazu bedürfte es des Verweises auf Humboldt nicht[50]. Doch das Bild Preußens verändert sich, wenn wir es nicht länger auf Preußen und Deutschland oder bestenfalls einen Teil der mitteleuropäischen Geschichte verengen. Hier wird der Republikaner am Königshof, der Weltreisende in der kleinen Residenzstadt, der "bis in alle Kleinigkeiten pariserisch"[51] gewordene Berliner, der zum Ausgangspunkt für die Lateinamerika-Forschung nicht nur speziell im berlin-brandenburgischen Raum wurde, zugleich zum Ausgangspunkt einer sich verändernden Sichtweise Preußens und der Geschichte Deutschlands. Denn Alexander von Humboldts gesamtes Schaffen, sein wissenschaftlich-schriftstellerischer Kosmos des Wissens und der Wissenschaften, sucht, die Konsequenzen aus der (nach der sogenannten »Entdeckung« Amerikas durch Columbus) zweiten Phase beschleunigter Globalisierung in der Neuzeit, aus jener räumlichen, kolonialen und wissenschaftlichen Expansion Europas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu ziehen. Er entwickelte dabei Vorstellungen und Einsichten, die in der dritten Phase, jener des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, weitgehend in den Hintergrund gedrängt wurden, die aber für unsere aktuelle vierte Phase beschleunigter Globalisierung, die wesentlich von den elektronischen Medien mitgetragen und geprägt wird, ohne sich doch auf diese Medien zu beschränken, von unschätzbarem Wert sind. Es geht darum, die relationale Logik der Humboldtschen Wissenschaft wie des Humboldtschen Moderne-Projekts kritisch aufzunehmen und mit Blick auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts insbesondere im Spannungsfeld zwischen Europa und Amerika weiterzuentwickeln[52].

     Es kann nicht darum gehen, Alexander von Humboldt dreihundert Jahre nach der eigentlichen Gründung des preußischen Staates und hundertdreißig Jahre nach dessen Untergang nachträglich in einen Paradepreußen zu verwandeln, wohl aber, von seiner Figur ausgehend ein erweitertes, nicht allein auf »deutsche Schicksalsfragen« reduziertes Preußenbild zu entwerfen. Der sprach- und weltgewandte Intellektuelle hatte keineswegs aufgehört, "deutsch zu sein"[53]; doch hatte sich der preußische Weltbürger - und dies scheint mir für unser Jahrhundert zukunftsweisend zu sein - gegen allen Zeitgeist - und auch gegen den heimischen Weltgeist - vehement geweigert, nur deutsch zu sein.

 


[41] Spitzer, Leo: Das Eigene und das Fremde. Über Philologie und Nationalismus. Hier zitiert nach: Lendemains (Berlin) XVIII, 69 - 70 (1993), S. 188.

[42] Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, a.a.O., S. 43.

[43] Ebda., S. 44.

[44] Loetscher, Hugo: Humboldt und die Rehabilitierung eines Kontinentes. In: Du (Zürich) XXX (1970), S. 666.

[45] Vgl. Gerbi, Antonello: La Disputa del Nuovo Mondo. Storia di una Polemica: 1750 - 1900. Nuova edizione a cura di Sandro Gerbi. Milano - Napoli: Riccardo Ricciardi Editore 1983.

[46] Humboldt, Alexander von: Dankadresse an den Magistrat und die Stadtverordneten der Stadt Potsdam, a.a.O., S. 28.

[47] Ebda.

[48] Diese wird auch in der Gesamtdarstellung preußischer Geschichte deutlich bei Heinrich, Gerd: Roter Adler - Schwarzer Adler. Brandenburg als Markgrafschaft und preußische Staatsprovinz. In: Marksteine, a.a.O., S. 25-44.

[49] Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. I. Stuttgart - Tübingen: Cotta 1845, S. 37.

[50] Bemerkenswert ist, daß Alexander von Humboldt wie in vielen anderen Darstellungen Preußens auch bei Sebastian Haffner nur als Ikone vorkommt - in Form einer doppelseitigen Abbildung von Eduard Hildebrandts bekannter Repräsentation des Gelehrten in seinem Arbeitszimmer, verbunden mit dem knappen Kommentar: "Der 87jährige Naturforscher Alexander von Humboldt in seiner Bibliothek im Jahr 1856." Haffner, Sebastian: Preußen ohne Legende, a.a.O., S. 363. Naturforscher und Ikone, bestenfalls randlich vermerkt: In der Geschichte Preußens war Alexander von Humboldt bislang höchstens eine schmuckvolle Marginalie - auch dies eine Folge seiner Marginalisierung im Zeichen von Chauvinismus und Nationalismus.

[51] Gespräche Alexander von Humboldts, a.a.O., S. 51.

[52] Vgl. García Canclini, Néstor: La globalización imaginada. México - Buenos Aires - Barcelona: Paidós 1999, S. 10, der zu dieser schlicht als »Globalisierung« bezeichneten aktuellen Etappe anmerkt: "Se trata de repensar cómo hacer arte, cultura y comunicación en esta etapa. Por ejemplo, si al mirar la recomposición de las relaciones entre Europa, Estados Unidos y América Latina, se podría entender este proceso desde la cultura, y actuar en él de manera distinta a quienes sólo lo ven como intercambio económico."

[53] Gespräche Alexander von Humboldts, a.a.O., S. 51.

 

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