Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009 |
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Alexander von
HUMBOLDT im NETZ
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HiN
III,
4 (2002)
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Ottmar Ette (Potsdam)
»... daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein«
Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika
4. Was Preußen und Indianer verbindet, oder: Der kühne Vergleich als Antwort und Impuls einer globalisierten Wissenschaft
Im 28. Kapitel seiner Relation historique, das parallel zum Erscheinen des dritten und letzten Bandes seines Reiseberichts gemeinsam mit den beiden vorangehenden Kapiteln auch als eigenständiges Buch unter dem Titel Essai politique sur l'île de Cuba[33] veröffentlicht wurde, erörterte Alexander von Humboldt die spezifische Problematik der Bevölkerungsdichte auf der größten der Antilleninseln, um sodann in einer für ihn charakteristischen Volte - und einem Wechsel von der ersten Person Plural zur ersten Person Singular - fortzufahren:
Nous avons déjà rappelé plus haut combien la population de l'île de Cuba est susceptible d'augmenter dans la suite des siècles. Natif d'un pays du nord, qui est bien peu favorisé par la nature, je rappellerai que la Marche de Brandebourg, en grande partie sablonneuse, nourrit, sous une administration favorable aux progrès de l'industrie agricole, sur une surface trois fois plus petite que l'île de Cuba, une population presque double. L'extrême inégalité dans la distribution de la population, le manque d'habitans sur une grande partie des côtes, et l'énorme développement de ces dernières rendent impossible la défense militaire de l'île entière. On ne peut empêcher ni le débarquement de l'ennemi ni le commerce illicite.[34]
Der hier beobachtbare Übergang in die erste Person Singular, der sogleich wieder zugunsten einer distanzierteren Darstellungsweise zurückgenommen wird, gibt im Sinne einer kurzen autobiographischen Markierung den Blick auf die Herkunft des Reisenden an einer Stelle des Reiseberichts frei, an der man dies wohl am wenigsten erwartet hätte: zwischen Äußerungen zur Bevölkerungsverteilung und zu den militärischen Verteidigungsmöglichkeiten der spanischen Inselkolonie. Doch jenseits der autobiographischen Bedeutung des brandenburgisch-kubanischen Kontrapunkts verdeutlicht diese Passage nicht nur - und dies ist für Humboldts Schreiben keineswegs nebensächlich - Herkunft und Blickwinkel des europäischen Reisenden, sondern zugleich das Bestreben, die verschiedensten von ihm beobachteten Phänomene miteinander in Verbindung zu setzen. Wie die Metapher provoziert der Vergleich eine gedankliche Bewegung, solange er nicht darauf abzielt, durch Vergleichen gleichzumachen. Die in der obigen Passage skizzierte Bewegung erscheint auf den ersten Blick jedoch als allzu kühn: Denn die durchaus eingetroffene Prophezeiung Humboldts, die Bevölkerung Kubas werde zahlenmäßig wachsen, ohne daß die Ernährung einer vergrößerten Einwohnerzahl notwendig an natürliche Grenzen stoßen müßte, wird vom vergleichenden Hinweis auf die Mark Brandenburg freilich nur unzureichend abgesichert. Humboldt wußte selbst nur zu gut, wie unterschiedlich die naturräumlichen, geomorphologischen, klimatischen, aber auch wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen der Mark Brandenburg und der spanischen Kolonie waren. Daran änderte auch die implizite Kritik an den Kolonialverhältnissen nichts, die eine (im Vergleich zur preußischen Regierung) der Entwicklung der Landwirtschaft weit weniger günstige Politik betrieb. Warum also dieser gewagte Vergleich?
Was an dieser Stelle und einer Vielzahl ähnlicher Passagen vor allem ins Auge fällt, ist das beständige Bestreben Humboldts, möglichst alles mit allem durch Vergleich in Beziehung zu setzen. Nun besagt aber ein französisches Sprichwort weise: comparaison n'est pas raison - Vernunft ist im Vergleich also nicht notwendig enthalten. Dies scheint auch hier der Fall zu sein, trägt es zur wissenschaftlichen Erforschung Kubas und zur Abschätzung seiner langfristigen Entwicklungschancen doch wenig bei, wenn seine randtropische, kolonial auf Export ins Mutterland ausgerichtete, zunehmend als Monokultur strukturierte und mit Sklavenarbeit betriebene Landwirtschaft mit einer auf ungünstigen, sprichwörtlich mit Sumpf und Sand durchsetzten Böden in kühl-gemäßigten Breiten unter der Feudalherrschaft des preußischen Landadels betriebenen Versorgungslandwirtschaft eines unabhängigen Staates verglichen wird.
Und doch erfüllen die scheinbar willkürlichen Vergleiche, die weitaus seltener als die zahlreichen wohlfundierten Komparationen im Gesamtwerk Alexander von Humboldts sind, eine wichtige, aber bislang nicht erkannte Funktion. Denn sie sind nicht vorrangig der Ausdruck einer wild ins Kraut schießenden Vergleichssucht, nicht der unkontrollierbare Überschuß einer auf weltweitem Vergleich beruhenden wissenschaftlichen Methode, sondern ein rhetorisch-literarisches Mittel, auch das auf den ersten Blick Unvergleichbare miteinander in Beziehung zu setzen. Mit anderen Worten: Wie bei der kühnen Metapher im Bereich der Rhetorik ist der kühne Vergleich im Bereich einer gesellschaftlich verankerten Wissenschaft in der Lage, mit dem Mittel der Überraschung Denkverbindungen herzustellen, die zunächst als abwegig erscheinen müssen. Der Effekt des kühnen Vergleichs richtet sich also weder auf dessen Inhalt noch auf das tertium comparationis, sondern zielt auf die weltweite Vergleichbarkeit als solche ab, auf die Notwendigkeit also, innerhalb eines bestimmten Landes beobachtete Phänomene nicht als isolierte, in diesem Falle allein auf die Insel Kuba bezogene Wissensbestände zu verstehen, sondern mit anderem Wissen - und insbesondere jenem des eigenen Lebensbereichs - in Verbindung zu setzen. Auch wenn hier nicht über eine gewisse strukturelle »Vergleichswut« in der Humboldtschen Wissenschaft hinweggetäuscht werden soll: Der kühne Vergleich zielt auf die Aktivierung der Leserschaft und beabsichtigt, diese selbst zum vergleichenden Denken zu provozieren. Das Fremde soll durch die Kategorien des Eigenen bewußt verfremdet, das Eigene durch jene des Fremden so verändert werden, daß eine Art Außenblick auf das Eigene entsteht. Eigenes und Fremdes sind nicht klar voneinander geschieden, alles ist mit allem verbunden.
Aber sind Preußen und Kuba wirklich miteinander vergleichbar? Stellen wir die Beantwortung dieser Frage für einen Augenblick noch zurück. Wo im literarischen Text die Metapher die Kraft besitzt, unterschiedlichste Elemente miteinander in Beziehung zu setzen und gerade aus deren Differenz die Spannung des eigenen Textes zu beziehen, da sorgt der kühne Vergleich ähnlich überraschend, bisweilen sogar überfallartig für ein Weltbild, einen wissenschaftlichen Kosmos, in dem es nichts Isoliertes mehr gibt. Der kühne Vergleich ist Antwort und mehr noch Impuls einer globalisierten und zugleich globalisierenden Wissenschaft.
Dies läßt sich anhand einer Vielzahl von Beispielen im Humboldtschen Oeuvre belegen. Bleiben wir noch einen Augenblick beim Problem der Bevölkerungsentwicklung. Im vierten Kapitel des zweiten Buches seines Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne beschäftigt sich Humboldt mit der 1793 im Vizekönigreich Neu-Spanien, dem künftigen Mexico, durchgeführten Volkszählung und versucht, ausgehend von ihren Ergebnissen Prognosen für die weitere Bevölkerungsentwicklung dieser kurz vor ihrer politischen Unabhängigkeit stehenden spanischen Kolonie zu erstellen. Der preußische Forscher diskutiert dabei den unterschiedlich hohen Geburtenüberschuß in bestimmten Regionen und Bevölkerungsgruppen Neu-Spaniens in Zusammenhang mit weltweiten Entwicklungen:
Les parties de l'Europe dans lesquelles la culture n'a commencé que très-tard, et dans la dernière moitié du siècle passé, présentent des exemples très-frappans de cet excès de naissances. Dans la Prusse occidentale, il y eut en 1784, sur une population de 560,000 habitans, 27,134 naissances et 15,669 décès. Ces nombres donnent le rapport des naissances aux morts exprimé par 36:20, ou comme 180:100, rapport presque aussi avantageux que celui qu'offrent les villages indiens situés sur le plateau central du Mexique. Dans l'Empire russe, en 1806, on compta 1,361,134 naissances et 818,433 décès. Les mêmes causes produisent partout les mêmes effets. Plus neuve est la culture d'un pays, plus facile est la subsistance sur un sol nouvellement défriché, et plus rapide aussi est le progrès de la population.[35]
Im Gegensatz zum obigen Beispiel haben wir es hier mit einem durch umfangreiches statistisches Zahlenmaterial gestützten und argumentativ gut vor- und nachbereiteten Vergleich zu tun, in dessen Zentrum gleichwohl die Vergleichbarkeit zwischen der Bevölkerungsentwicklung indianischer Hochlanddörfer und westpreußischer Tieflandbereiche steht. Liegen die miteinander verglichenen Gegenstände auch in vielerlei Hinsicht gewiß nicht weniger weit auseinander als die kubanische und die brandenburgische Landwirtschaft dies bis zum heutigen Tage tun, so zielt dieser Vergleich doch gerade nicht auf Überraschung, sondern auf ein Denken, in dem Entwicklungen weltweit miteinander in Beziehung gesetzt und allgemeine und allgemeingültige Regeln und Gesetzmäßigkeiten daraus abgeleitet werden sollen. Wenn denn weltweit dieselben Gründe dieselben Folgen zeitigen, dann muß es auch möglich sein, nicht nur die Bevölkerungsentwicklung des mexikanischen Hochlands mit jener der westlich der Weichsel gelegenen preußischen Besitzungen zu vergleichen, sondern auch die Entwicklung westpreußischer Dörfer mit jener bestimmter Indianerdörfer. Die Suche nach allgemeingültigen Gesetzen steht hier im Vordergrund, verändert aber zumindest potentiell den Blick auf das so vertraute Eigene: Kaum jemand wäre im damaligen Preußen auf die Idee gekommen, Parallelen zwischen Westpreußen und Neu-Spanien, zwischen Pommern und Anáhuac zu ziehen. Doch Humboldt weiß sich hier in einer globalen, die lokalen Kirchtürme und Sterberegister hinter sich lassenden Denktradition, wie sie in der Frage des Bevölkerungswachstums Thomas Robert Malthus in seinen wenige Jahre zuvor erschienenen "Essays on the principles of population" begründet hatte, ein Werk, das noch heute vieldiskutiert ist und schon für Humboldt ein "ouvrage d'économie politique des plus profonds qui aient jamais paru"[36] darstellte. Der argumentativ eingebettete Vergleich ist weniger Impuls als Antwort einer in globalen Entwicklungen denkenden Wissenschaft, die auf Weltbewußtsein beruht und bei ihrem Lesepublikum zugleich Weltbewußtsein anzuregen sucht.
Gegen Ende des ersten Bandes seines Politischen Versuchs über das Königreich Neu-Spanien kommt Alexander von Humboldt noch einmal, aber gleichwohl überraschend auf einen Vergleich zwischen den Verhältnissen im Norden des spanischen Kolonialreichs in Amerika und bestimmten Königreichen im nördlichen Europa zurück. Mit gesellschaftskritischer und fortschrittsskeptischer Geste weist er nun auf die Lage der abhängigen indianischen Bevölkerung und der Bauern in Neu-Spanien beziehungsweise im späteren Mexico hin. Humboldt macht dabei auf die Tatsache aufmerksam, daß man in der bisherigen Geschichtsschreibung viel über die Geschichte der »großen Umwälzungen« ("grandes révolutions politiques"[37]), über »Kriege, Eroberungen und andere Geißeln, welche die Menschheit heimsuchen«[38], nur wenig aber über »das beklagenswerte Schicksal der ärmsten und zahlreichsten Klasse der Gesellschaft«[39] erfahren könne. Dieser Forderung nach einer Mentalitätsgeschichte und einer Geschichte der Alltagskultur avant la lettre fügt er dann hinzu:
Il n'y a qu'une très-petite partie de l'Europe dans laquelle le cultivateur jouisse librement du fruit de ses travaux, et cette liberté civile, nous sommes forcés de l'avouer, n'est point autant le résultat d'une civilisation avancée que l'effet de ces crises violentes pendant lesquelles une classe ou un état a profité des dissensions des autres. Un vrai perfectionnement des institutions sociales dépend sans doute des lumières et du développement intellectuel; mais l'enchaînement des ressorts qui meuvent un état est telle que, dans une partie de la nation, ce développement peut faire des progrès très-marquans, sans que la situation des dernières classes en devienne plus heureuse. Presque tout le nord de l'Europe nous confirme cette triste expérience: il y existe des pays dans lesquels, malgré la civilisation vantée des hautes classes de la société, le cultivateur vit encore aujourd'hui dans le même avilissement sous lequel il gémissoit trois ou quatre siècles plus tôt. Nous trouverions peut-être le sort des Indiens plus heureux, si nous les comparions à celui des paysans de la Courlande, de la russie et d'une grande partie de l'Allemagne septentrionale.[40]
In dieser aufschlußreichen Bemerkung wird nicht mehr nur die Landwirtschaft oder die Bevölkerungsentwicklung, sondern die gesellschaftliche Lage der nordeuropäischen Bauernschaft mit der indianischen verglichen, ein Vergleich, dessen Überraschungseffekt zweifellos eine gesellschaftskritische Stoßkraft entwickelt, insoweit sie auf gesellschaftlichen Sprengstoff nicht nur in der fernen Kolonialwelt Amerikas, sondern in der nahen, vertrauten Feudalwelt Europas unmißverständlich aufmerksam macht. Die erste Person Plural signalisiert hier keine distanzierte Beobachterposition, sondern eine implizite europäische Leserschaft, die sicherlich nicht von selbst auf den Gedanken verfallen wäre, die Leibeigenen Europas mit den Indios Amerikas zu vergleichen. Die Kühnheit des Vergleichs funktioniert wie eine Blitzlichtaufnahme, die ein grelles Licht auf ein europäisches Selbstverständnis wirft, das im Selbstbewußtsein einer »fortgeschrittenen Zivilisation« derlei Dinge niemals miteinander zu vergleichen unternommen hätte. Und doch wird eine neue Dimension des Eigenen belichtet. Der weltweite Vergleich entbindet hier eine politische, mehr noch: eine kosmopolitische Dimension im Sinne einer Kosmopolitik, die gesellschaftliche Probleme weltweit nicht länger voneinander isoliert zu betrachten gewillt ist. Insoweit ist Amerika, ist das Los der Indianer auch für Preußen, für das Schicksal der unter der Knute des preußischen Adels lebenden Bauernschaft von Bedeutung. Nach dem napoleonischen Sturm hatte eine Gruppe umstrittener, aber zielstrebiger und entschlossener Reformer vom Schlage eines Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein oder eines Karl August Fürst von Hardenberg in Preußen erst wenige Jahre zuvor die Bauernbefreiung ins Werk gesetzt, so daß ab dem Martini-Tag des Jahres 1810 - gegen den Widerstand weiter Teile des preußischen Landadels - offiziell alle Gutsuntertänigkeit aufhörte. Humboldt stellte seinen Vergleich folglich vor einem sehr konkreten gesellschaftspolitischen Hintergrund an, in dem er selbst klar Position bezog. Die Humboldtsche Wissenschaft als Weltwissenschaft setzt mit Hilfe des Vergleichs - und speziell auch des kühnen Vergleichs - ein Weltbewußtsein in Gang, das den Weltbürger nicht in einem kosmopolitischen Nirgendwo beläßt, sondern zu einem Staatsbürger macht, der aus dem Blickwinkel einer Kosmopolitik die Verhältnisse nicht zuletzt in seinem eigenen Staatswesen betrachtet. So kann aus dem Weltbürger ein doppelt nützlicher Staatsbürger werden.
[33] Humboldt, Alexandre de: Essai politique sur l'île de Cuba. Avec une carte et un supplément qui renferme des considérations sur la population, la richesse territoriale et le commerce de l'archipel des Antilles et de Colombia. 2 Bde. Paris: Librairie de Gide fils 1826. Zur komplexen Veröffentlichungsgeschichte vgl. Fiedler, Horst (+) / Leitner, Ulrike: Alexander von Humboldts Schriften. Bibliographie der selbständig erschienenen Werke. Berlin: Akademie Verlag 2000, hier S. 118 f.
[34] Humboldt, Alexander von: Relation historique du Voyage aux Régiones équinoxiales du Nouveau Continent fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803, et 1804 par Al. de Humboldt et A. Bonpland rédigé par Alexandre de Humboldt. Neudruck des 1814 - 1825 in Paris erschienenen vollständigen Originals, besorgt, eingeleitet und um ein Register vermehrt von Hanno Beck. Bd. III. Stuttgart: Brockhaus 1970, S. 407. Tatsächlich erschienen die abschließenden Teile des dritten Bandes der Relation historique aber erst im Frühjahr 1831.
[35] Humboldt, Alexandre de: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne. Bd. I. Paris: Chez F. Schoell 1811, S. 338. [Oktavausgabe]
[36] Ebda., S. 339. Malthus' eigentlich An essay on the principle of population genannter Klassiker war 1798, also kurz vor Humboldts Aufbruch nach Amerika und ein knappes Jahrzehnt vor der Niederschrift des Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne erschienen. Die Parallelen zu der von Malthus aufgestellten Gesetzmäßigkeit in der Progression des Bevölkerungswachstums und der mit der Zeit nachlassenden Fruchtbarkeit der Böden sind evident.
[37] Ebda., S. 420.
[38] Ebda.
[39] Ebda.
[40] Ebda., S. 420 f.
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