Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                     I, 1 (2000)
 
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Ottmar Ette: Unterwegs zu Weltbewußtsein
Alexander von Humboldts Wissenschaftsverständnis
und die Entstehung einer ethisch fundierten Weltanschauung

 

Weltbewußtsein

Alexander von Humboldt sah sich selbst und seine eigenen Anschauungen stets innerhalb eines offenen geschichtlichen Prozesses, als dessen Teil und perspektivischer Fluchtpunkt er sich und seine eigene Zeit begriff. Das in seinem Brief vom 17. Mai 1837 an Varnhagen von Ense skizzierte Geschichtsmodell entfaltete er im zweiten, 1847 erschienenen Band seines Kosmos unter der Überschrift »Hauptmomente einer Geschichte der physischen Weltanschauung« in noch umspannenderer Weise, wobei er Land-Wasser-Verteilung des Mittelmeerraumes zum Ausgangspunkt einer weltgeschichtlichen Bewegung machte, in die sich letztlich auch seine eigene Reise nach Lateinamerika einfügen ließ:

Was aber, wie schon oft bemerkt worden, die geographische Lage des Mittelmeers vor allem wohlthätig in ihrem Einfluß auf den Völkerverkehr und die fortschreitende Erweiterung des Weltbewußtseins gemacht hat, ist die Nähe des in der kleinasiatischen Halbinsel vortretenden östlichen Continents; die Fülle der Inseln des ägäischen Meeres, welche eine Brücke für die übergehende Cultur gewesen sind; die Furche zwischen Arabien, Aegypten und Abyssien, durch die der große indische Ocean unter der Benennung des arabischen Meerbusens oder des rothen Meeres eindringt, getrennt durch eine schmale Erdenge von dem Nil-Delta und der südöstlichen Küste des inneren Meeres. Durch alle diese räumlichen Verhältnisse offenbarte sich in der anwachsenden Macht der Phönicier und später in der der Hellenen, in der schnellen Erweiterung des Ideenkreises der Völker der Einfluß des Meeres, als des verbindenden Elementes.(21)

Der in diesem Abschnitt zentral gestellte Begriff ist der des Weltbewußtseins, das zweifellos als Analogiebildung zu bereits eingeführten Begriffen wie Weltgeschichte, Weltverkehr und Welthandel, aber auch zu den damals nicht weniger bereits zur Verfügung stehenden Termini Weltliteratur und Weltbürgertum aufzufassen ist. In einem Brief vom 24. Oktober 1834 an Varnhagen von Ense, zu einem Zeitpunkt seiner bis zu seinem Lebensende andauernden Arbeit, an dem er noch hoffen durfte, seinen Kosmos in nicht mehr als zwei Bänden "zusammenzudrängen"(22), erläuterte er seinem Freund und Briefpartner, er habe sein Werk anfangs "Das Buch von der Natur" nennen wollen; doch sei nun sein Titel "Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung"(23). Den Begriff »Kosmos« habe er gewählt, um "die Menschen zu zwingen das Buch so zu nennen, um zu vermeiden, daß man nicht H.'s physische Erdbeschreibung sage", denn: "Weltbeschreibung (nach Weltgeschichte geformt) würde man als ungebräuchliches Wort immer mit Erdbeschreibung verwechseln."(24) Daran aber konnte Humboldt nicht gelegen sein.(25)

Denn gerade auf diese Analogiebildung kam es ihm an. Sein Kosmos umfaßte nicht zuletzt auch den "Weltraum"(26), folglich "Himmel und Erde, alles Geschaffene"(27), eine Totalität, die nicht nur die Materialität des Seienden, sondern auch die Historizität des Gewesenen und die Prozessualität des Gewordenen und Geschaffenen miteinschließen sollte. Die Serie analoger Wortbildungen macht Sinn: Eine Weltbeschreibung konnte nur auf der Basis eines Weltbewußtseins unternommen werden, das seinerseits Ergebnis der von Humboldt skizzierten zunehmend weltumspannenden Prozesse war und konsequenterweise vermittels der im Kosmos vorgelegten Weltbeschreibung das Weltbewußtsein des Publikums erhöhen sollte. Es überrascht daher kaum, daß Humboldts ursprünglich aus publikumswirksamen »Vorlesungen über physikalische Welt- und Erdbeschreibung« hervorgegangener Kosmos nicht nur im deutschsprachigen Raum zu einem Bestseller wurde, sondern zu einem wirklichen Welterfolg avancierte - zumindest in dem Sinne, daß es noch zu Humboldts Lebzeiten in den wichtigsten europäischen Weltsprachen vorlag. Wie der Mensch in Humboldts Naturkonzeption nicht fehlen durfte, so kann von den Begriffen Weltbeschreibung, Weltgeschichte oder Weltverkehr deren historisch gewachsene Wahrnehmung, das Weltbewußtsein, nicht abgekoppelt werden. Damit meint Kosmos gerade keine Erdbeschreibung und auch keine Geographie im heutigen Sinne, sondern eine ästhetische und materielle Ordnung und zugleich deren Erfassung und Reflexion durch den Menschen. Erdbeschreibung und Geographie sind wie viele andere Querschnittsdisziplinen und spezialisierte Wissensgebiete hierin eingeschlossen, stets aber an ein Bewußtsein, ein Weltbewußtsein, zurückgebunden. Eben hier erhält eine von Humboldt wohlüberlegt so genannte "Geschichte der physischen Weltanschauung" ihren wichtigen Platz. Aus diesem Grunde übersetzt Humboldt im Untertitel seiner Kapitelüberschrift diese Geschichte als "Hauptmomente der allmäligen Entwickelung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos, als einem Naturganzen, und fügt erläuternd hinzu:

Die Geschichte der physischen Weltanschauung ist die Geschichte der Erkenntniß eines Naturganzen, die Darstellung des Strebens der Menschheit das Zusammenwirken der Kräfte in dem Erd- und Himmelsraume zu begreifen; sie bezeichnet demnach die Epochen des Fortschrittes in der Verallgemeinerung der Ansichten, sie ist ein Theil der Geschichte unserer Gedankenwelt, in so fern dieser Theil sich auf die Gegenstände sinnlicher Erscheinung, auf die Gestaltung der geballten Materie und die ihr inwohnenden Kräfte bezieht.(28)

Humboldt entfaltet hier die Prolegomena einer Geschichte des Denkens im Raum. Damit ist weder eine Verräumlichung des Denkens noch eine geodeterministische, die Entwicklung der Menschheit allein aus ihren naturräumlichen Gegebenheiten ableitende Denkweise gemeint. Aber das Einrücken des Begriffs Weltanschauung in die Serie von Weltgeschichte, Weltverkehr, Welthandel oder Weltbeschreibung macht doch unmißverständlich deutlich: Eine Weltanschauung läßt sich nur dann als solche bezeichnen, wenn sie ein Denken im globalen Raum meint, kurz: auf einem Weltbewußtsein aufruht. Eine Weltanschauung im Humboldtschen Sinne bliebe ohne ein sich auf spezialisierte und zugleich vergleichende Untersuchungen gründendes Weltbewußtsein eine zutiefst unvollkommene Abstraktion. Diese Überlegung, so scheint mir, bildet den eigentlichen Kern von Humboldts Kritik an Hegel.

Mit guten Gründen hat Hartmut Böhme in einem grundlegenden Essay auf die Humboldt bewußte "Doppelmatrix" des Begriffs Kosmos als »Schmuck« und »Ordnung« hingewiesen, die für die vorsokratische Naturphilosophie die Bedeutung »Ordnung des Weltalls« und »Weltordnung« angenommen habe (29). Naturforschung im Selbstverständnis Humboldts ist eine genießende (30) (Natur-) Wissenschaft in dem Sinne, daß sie aus ihrer Fundierung durch empirisch erhobenes Datenmaterial stets einen ästhetischen Überschuß erzeugt, der den Naturforscher und sein Publikum miteinander verbindet. Zugleich ist diese Naturforschung eine bewußtseinsschaffende (Geistes-) Wissenschaft, in der die Worte und die Dinge, les mots et les choses in einen nie abschließbaren Prozeß des Weltbewußtseins eingebunden sind. Dies erklärt auch, warum Humboldt für sein Schaffen stets ein möglichst großes Publikum erreichen wollte und sich erfolgreich um die Verbreitung, ja Popularisierung des Wissens gerade auch über die außereuropäische Welt bemühte. Und sie ist schließlich eine kosmopolitische (Kultur-) Wissenschaft insoweit, als sie dieses Weltbewußtsein in eine Praxis, in ein Handeln überzuführen versucht, das sich immer als Teil einer gesamten gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Welt-Ordnung (und gewiß auch Welt-Unordnung) weiß. Eine anachronistische Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist - allein schon aufgrund ihres den menschen einschließenden Naturbegriffs - für die Humboldtsche Wissenschaft nicht pertinent.

Ein Gutteil von Humboldts Aktivitäten als Intellektueller im europäischen 19. Jahrhundert ist auf die Erzeugung dieses Weltbewußtseins und eine auf diesem gründende Kosmopolitik ausgerichtet. Sie ist gerade nicht die Politik jener, die Alexander von Humboldt, "nach einem fast achttägigen Aufenthalte in Potsdam, der mich sehr entmuthigt hat", in einem am 22. Oktober 1837 um 2 Uhr nachts geschriebenen Brief als die "Berliner Weltelephanten", als "des momies en service extraordinaire" (31) bezeichnete. Bevor er Varnhagen mit diesem Ausblick eine "Gute Nacht" wünschte, betonte er ihm gegenüber noch für seine eigene Person, selbst "am meisten" danach zu streben, "nicht fossil zu werden, so lange ich mich noch bewege"(32). Von den "Weltelephanten" erwartete er weder solche Bewegungen noch eine auf Weltbewußtsein gründende verantwortliche Kosmopolitik.

Immanuel Kant hat in seiner 1795 in Königsberg erschienenen Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf einen auch aus juristischer Perspektive innovativen und substanzreichen Gedanken eingeführt, der - wie manch Anderes aus der Feder des Königsberger Philosophen - nicht ohne Einfluß auf Humboldts Konzeptionen gewesen sein dürfte:

 

Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.(33)

Kants skeptische Einschränkung bezüglich einer kontinuierlichen Annäherung an den Weltfrieden hat nach den schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mehr denn je Bestand. Gleichwohl dürfte auch der junge Humboldt, der im Gegensatz zu dem Königsberg verhafteten Kant die Gastfreundschaft, die Hospitalität (34) anderer Völker sehr häufig in Anspruch nehmen sollte, diese Vorstellungen zu einem unverzichtbaren Bestandteil nicht nur seiner éducation sentimentale, sondern mehr noch seiner éducation morale gemacht haben - selbst wenn dies wohl nicht auf dem juristisch-kameralistischen Lehrplan seiner ersten Universität, der Viadrina in Frankfurt an der Oder, gestanden hatte. Nachdem wir uns bislang mit Humboldt der Entfaltung des kollektiven Weltbewußtseins zugewandt haben, sollten wir zumindest einen Blick auf die Entwicklung eines individuellen Weltbewußtseins bei dem in der von Mutter und Hauslehrern geprägten Welt von Tegel am Rande Berlins Aufgewachsenen werfen.

In einem auf den 25. Februar 1789 datierten Brief aus Berlin an seinen Freund Wilhelm Gabriel Wegener wußte der damals noch nicht zwanzigjährige Humboldt zu berichten, die "Beschäftigung mit der Natur" bereite ihm "Genuß der reinsten, unschuldigsten Freude, von tausenden von Geschöpfen umringt, die sich (seeligster Gedanke der Leibnizischen Philosophie!) ihres Daseins freuen"; viel häufiger noch als bisher wolle er mit seinem Freund, dem Botaniker Willdenow, "Hand in Hand in den großen Tempel der Natur" treten, um das Reich der Botanik zu erkunden (35). Nachdem er seinem Ärger über "das elende Kameralisten-Volk" Luft gemacht und insbesondere darüber geklagt hatte, "daß unter den anderen 145000 Menschen in Berlin kaum 4 zu zählen sind", die sich diesem "Theil der Naturlehre" (36) widmeten, fuhr er weitsichtig fort:

 

Je mehr die Menschenzahl und mit ihr der Preis der Lebensmittel steigen, je mehr die Völker die Last zerrütteter Finanzen fühlen müssen, desto mehr sollte man darauf sinnen, neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel zu eröfnen. Wie viele, unübersehbar viele, Kräfte liegen in der Natur ungenutzt, deren Entwikkelung tausenden von Menschen Nahrung oder Beschäftigung geben könnte. Viele Produkte, die wir von fernen Welttheilen haben, treten wir in unserem Lande mit Füßen - bis nach vielen Jahrzehenden ein Zufall sie entdekt, ein anderer die Entdekkung vergräbt oder was seltener der Fall ist, ausbreitet. [...] Was helfen alle Entdekkungen, wenn es keine Mittel giebt, sie exsoterisch zu machen.(37)

Der längst nicht mehr nur in Tegel, sondern auch im Tiergarten und der weiteren Umgebung Berlins herborisierende Humboldt hat über seiner Botanisiertrommel die Welt nicht aus den Augen verloren. Im Gegenteil: Humboldts Worte sind bereits 1789 von einer Hinwendung zum Naturstudium geprägt, die auf zumindest drei grundlegenden Elementen basiert: Weltbewußtsein (als Wissen um die immer stärkere globale Vernetzung und Interdependenz aller Vorgänge und Phänomene), Nutzbarmachung (als Instrumentalisierung der Natur für die Bedürfnisse einer sich vergrößernden Menschheit im Sinne des Projekts der Moderne) und Bekanntmachung (als Einsicht in die Notwendigkeit eines möglichst umfassenden Zugangs zum Wissen). Naturstudium, Naturerkenntnis und Naturverständnis stehen nicht für sich.

An der ethischen Verankerung der drei wichtigen Kreuzungspunkte des Humboldtschen Denkens - Weltbewußtsein, Nutzbarmachung, Bekanntmachung - kann ebenso wenig ein Zweifel bestehen wie an der Tatsache, daß Humboldt die diesen Vorstellungen wie dem Projekt der europäischen Moderne überhaupt inhärenten Widersprüche und Aporien nicht zu umgehen vermochte (38). Von einem Scheitern des Humboldtschen Vorhabens zu sprechen, scheint mir aber nur dann vertretbar, wenn man ein solches auf das Scheitern des Projekts der europäischen Moderne insgesamt ausweitet. Kein Zweifel: Humboldt glaubte an jenen Universalismus, den das Jahrhundert der europäischen Aufklärung auf die Welt zu projizieren suchte. Doch war er zugleich einer der wenigen Europäer, die auch von aufklärerischen Geistern außerhalb Europas - wie im Vizekönigreich Neuspanien etwa von dem großen Gelehrten an der Universität von Mexico, Carlos de Sigüenza y Góngora, oder Francisco Javier Clavijero (39) - wußten. Humboldt war selbstverständlich ein Kind seiner Zeit und ihrer Möglichkeiten, die Welt zu denken. Und doch bieten die Humboldtsche Wissenschaft wie das Humboldtsche Denken insgesamt eine Vielzahl von Möglichkeiten an, die über das Projekt der europäischen Moderne hinausweisen und in ihrer Denkwürdigkeit erst heute erkannt zu werden beginnen.

In dem angeführten Brief an Wegener erwähnt Humboldt die Arbeit "an einem Werke über die gesamten Kräfte der Pflanzen", das freilich seine eigenen Kräfte übersteige, so daß er "mehrere Menschen mit mir zu vereinigen strebe": "So lange arbeite ich daran zu meinem eigenen Vergnügen und stoße oft auf Dinge, bei denen ich (trivial zu reden) Nase und Ohren aufsperre."(40) Unersättliche Neugier und Vergnügen, ja Lust am Wissenserwerb waren ebenso grundlegend für Humboldts Wissen(schaft)skonzeption wie sein beständiges Bemühen, Gruppen von Wissenschaftlern um sich zu scharen und wissenschaftliche Netzwerke aufzubauen. Wie sehr der Wissenserwerb für ihn eine sinnliche Leidenschaft war, dürfte schon die keineswegs triviale Rede vom Aufsperren von Nase und Ohren belegen. An Arbeitseifer und Zielstrebigkeit mangelte es ihm dabei nicht: In einem wohl im Herbst 1791 in Freiberg abgefaßten Brief an Paul Usteri konnte Humboldt vermelden, daß er das Werk, das er "vielleicht in 20-30 Jahren zu vollenden" gehofft hatte, nun schneller abschließen könne, "da Forster seit vorigen Winter sich mit mir zur Ausarbeitung dieses so vernachlässigten Theils der Universalgeschichte vereinigt" habe.(41)

Die Beständigkeit und Hartnäckigkeit bei der Verfolgung seiner Ziele und Projekte - sie führte in diesem Falle zu seinen später in die Ansichten der Natur aufgenommenen »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse« (1806) sowie zu seinem Essai sur la géographie des plantes (1807) - sollte uns bei aller Kontinuität nicht zu dem vorschnellen Schluß verleiten, daß im "Konzeptuellen" bei Humboldt "eine eigentümliche Entwicklungslosigkeit" herrsche (42). Denn Humboldts Schriften, über einen Zeitraum nahezu dreier Generationen von Wissenschaftlern verteilt, lassen sehr wohl konzeptuelle und epistemologische Veränderungen und Umbesetzungen erkennen (43), eine Tatsache, die sich nicht zuletzt in der Anlage seiner Schriften als works in progress gepaart mit ständigen Umarbeitungen, Querverweisen auf parallel entstehende Texte usw. niederschlug. Nicht nur sein Denken, auch seine Schriften bilden Netzwerke, intratextuelle Konstrukte, die durch neue Publikationen unablässig reorganisiert wurden. Seine Ansichten der Natur sind 1808, 1826 und 1849 nicht nur in drei sehr verschiedenen Ausgaben erschienen, diese nehmen auch unterschiedliche bewegliche Standorte innerhalb des Geflechts der Humboldtschen Schriften im ersten, dritten und fünften Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein. Wollte man überhaupt von einer »Entwicklungslosigkeit« bei Alexander von Humboldt - der, wie wir sahen, Wert darauf legte, stets in Bewegung zu bleiben und nicht fossil zu werden - sprechen, so betrifft sie nicht die konzeptuelle beziehungsweise epistemologische, sondern die ethische Dimension seines bisweilen erschreckend rastlosen Schaffens. Im Zentrum dieses Humboldtschen Ethos - als Haltung, nicht als Lehre - steht das, was wir mit der von ihm gewählten Wortschöpfung als Weltbewußtsein bezeichnen dürfen.

 

Anmerkungen:

(21) Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. 5 Bde. Stuttgart - Tübingen: Cotta 1845-1861, hier Bd. 2, S. 154.

(22) Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, a.a.O., S. 22.

(23) Ebda.

(24) Ebda.

(25) Spätere Einengungen seiner Zielrichtung auf »Erdkunde«, »Geographie« oder gar »Physische Geographie« hat diese Aussage allerdings nicht verhindern können.

(26) Ebda., S. 21.

(27) Ebda., S. 22.

(28) Humboldt, Alexander von: Kosmos, Bd. 2, a.a.O., S. 135.

(29) Böhme, Hartmut: Ästhetische Wissenschaft. Aporien der Forschung im Werk Alexander von Humboldts. In: Ette, Ottmar / Suckow, Christian / Hermanns, Ute / Scherer, Bernd M. (Hg.): Alexander von Humboldt - Aufbruch in die Moderne. Berlin: Akademie Verlag 2001 (im Druck).

(30) Humboldt betonte vielfach, auch zu Beginn seines Kosmos, den Zusammenhang zwischen Forschung, Genuß und Weltbewußtsein: "Wer die Resultate der Naturforschung nicht in ihrem Verhältniß zu einzelnen Stufen der Bildung oder zu den individuellen Bedürfnissen des geselligen Lebens, sondern in ihrer großen Beziehung auf die gesammte Menschheit betrachtet, dem bietet sich, als die erfreulichste Frucht dieser Forschung, der Gewinn dar, durch Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen den Genuß der Natur vermehrt und veredelt zu sehen." Humboldt, Alexander von: Kosmos, a.a.O., Bd. I, S. 4.

(31) Briefe Alexander von Humboldts an Varnhagen von Ense, a.a.O., S. 47.

(32) Ebda.

(33) Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In (ders.): Werkausgabe. Bd. XI, 1: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 216 f. Daß Kant hier nicht nur an Europa dachte, sondern den gesamten Planeten im Auge hatte, verdeutlichen seine Ausführungen nur wenige Seiten zuvor: "Vergleicht man hiermit das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Kap etc. waren, bei ihrer Entdeckung, für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts." (ebda., S. 214 f.) Zumindest angemerkt sei, wie stark sich Kants Analyse am Ende des 18. Jahrhunderts bis in Formulierungen hinein mit jener von Clifford Geertz am Ende des 20. Jahrhunderts in einigen Grundeinsichten der Globalisierung deckt: "so können heute Veränderungen an irgendeinem Ort Störungen an einem beliebigen anderen herbeiführen." (Geertz, Clifford: Welt in Stücken. Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen übersetzt von Herwig Engelmann. Wien: Passagen Verlag 1996, S. 69.) Auf die Analysen dieses Anthropologen und Kulturwissenschaftlers komme ich noch zurück.

(34) Hospitalität bestimmt Kant - man kann es an dieser Wende zum dritten Jahrtausend nach Christus nicht oft genug in Erinnerung rufen - bündig als "das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden" (ebda., S. 213).

(35) Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787 - 1799. Herausgegeben und erläutert von Ilse Jahn und Fritz G. Lange. Berlin: Akademie-Verlag 1973, S. 41.

(36) Ebda.

(37) Ebda. Vor kurzem haben, wenn auch aus anderer Perspektive, Kurt-R. Biermann und Ingo Schwarz in einem Internet-Beitrag für die Alexander-von-Humboldt-Stiftung unter dem Titel "Rezepte des jungen Alexander von Humboldt von 1789 gegen Mangel an Arbeit und an Subsistenz" (Mai 2000) auf die Aktualität dieses Jugendbriefes aufmerksam gemacht.

(38) Auf diese Widersprüche im Humboldtschen Denken habe ich mehrfach aufmerksam gemacht, vgl. etwa in bezug auf Lateinamerika »Unser Welteroberer«: Alexander von Humboldt, der zweite Entdecker, und die zweite Eroberung Amerikas. In: Amerika: 1492 - 1992. Neue Welten - Neue Wirklichkeiten. Essays. Herausgegeben vom Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz und Museum für Völkerkunde Staatliche Museen zu Berlin. Braunschweig: Westermann 1992, S. 130-139; sowie speziell zur Situation in Neuspanien bzw. Mexico Bernecker, Walther L.: Der Mythos vom mexikanischen Reichtum. Alexander von Humboldts Rolle vom Analysten zum Propagandisten. In: Ette, Ottmar / Bernecker, Walther L. (Hg.): Ansichten Amerikas. Neuere Studien über Alexander von Humboldt, a.a.O. S. 79-104.

(39) Beispiele auch aus anderen Teilen der Welt ließen sich mehren.

(40) Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts, a.a.O., S. 41.

(41) Ebda., S. 164.

(42) Böhme, Hartmut: Ästhetische Wissenschaft, a.a.O. (im Druck, Ms. S. 1).

(43) Dies hat vor kurzem am Beispiel von Humboldts Beziehung zur Naturphilosophie Schellings überzeugend aufgezeigt Werner, Petra: Übereinstimmung oder Gegensatz? Zum widersprüchlichen Verhältnis zwischen A.v. Humboldt und F.W.J. Schelling. Berlin: Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle (Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 15) 2000; Auch die zunehmende »Historisierung« der Humboldtschen Schriften, in denen die Geschichte zum Fundament für ein Verstehen des Empirischen beziehungsweise empirisch gewonnenen Datenmaterials wird, könnte die epistemologische Entwicklungs- und Leistungsfähigkeit der Humboldtschen Wissenschaftskonzeption belegen.

 

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