Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
Originalfassung zugänglich unter http://www.hin-online.de

H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

__________________________________________________________________

HiN                                                     I, 1 (2000)
 
__________________________________________________________________

Ottmar Ette: Unterwegs zu Weltbewußtsein
Alexander von Humboldts Wissenschaftsverständnis
und die Entstehung einer ethisch fundierten Weltanschauung

 

Geräusche und Töne des Urwalds

In die Weltgeschichte im Humboldtschen Sinne gehen ebenso die Wanderungen der Pflanzen wie die Migrationen der Menschen und des Wissens, ebenso die globalen Ströme der Edelmetalle wie die Meeresströmungen, ebenso vom Menschen gesteuerte wie vom Menschen niemals zu steuernde Prozesse ein. Natur und Mensch sind untrennbar miteinander verbunden, in Humboldts Weltanschauung gehen sie mit ihrer je spezifischen Dynamik ein.

Diese Weltanschauung ist freilich keine Welt-Anschauung, die sich allein vom Gesichtsinn, vom Optisch-Visuellen leiten ließe. Von der vorgeblichen und oft angeführten Abneigung Alexander von Humboldts gegenüber der Musik hat man allzu schnell - gleichsam von dem ihn bewundernden Goethe her denkend - auf den »Augenmenschen« Humboldt geschlossen. Doch seine Gemälde der Tropennatur, seine Vues des Cordillères, seine Ansichten der Natur verdanken sich nicht ausschließlich optischen Anregungsmitteln, sind keine »Farbenlehre« einer Natur - auch wenn der preußische Naturforscher deren graphische Umsetzung sehr wohl selbst überzeugend zu leisten wußte und darüber hinaus insbesondere die Landschaftsmalerei nach Kräften unterstützte. Humboldts Weltanschauung wie deren Bekanntmachung und Verbreitung waren auf das Zusammenwirken der Kräfte wie das Zusammenspiel der Medien gerichtet, die Bestandteile seines naturforscherischen und literarisch-künstlerischen Gesamtwerks folglich auch nicht zufällig intermedial konzipiert.

Dies zeigt sich auch in einem Buch mit dem so vielfältig deutbaren, auf unterschiedliche Schreib- und Wissenschaftstraditionen verweisenden Titel wie den Ansichten der Natur. Diese »Ansichten« deuten auf die Visualisierung von Wissensbeständen wie deren intellektuelle Durchdringung, auf die Pluralität von Standpunkten wie die Partikularität von Gegenständen. Ihnen ist die geistige Offenheit des Essays ebenso eigen wie die Perspektivik der Kunst des Raumes. Doch Humboldt wußte auch, daß die Welt Klang ist, daß seit der Antike Kosmos ohne Klang nicht vorstellbar ist. Wohl aus diesem Grund hat Humboldt in die dritte und letzte, 1849 erschienene Ausgabe dieses Bandes einen auf Potsdam im Juni 1849 datierten und den ersten der beiden Bände abschließenden literarisch durchgefeilten Text mit dem Titel »Das nächtliche Thierleben im Urwalde« im doppelten Wortsinne aufgenommen. In diesem kurzen Prosatext, der zunächst mit einigen sprachlichen und begrifflichen Erläuterungen einsetzt - etwa der semantischen Präzisierung des Begriffs »Urwald» im Kontext analoger Bildungen wie »Urzeit« und »Urvolk« -, entfaltet Humboldt dramaturgisch geschickt das, was seine Erzählerfigur zu Beginn dieses Textes als "ästhetische Behandlung großer Naturerscheinungen" bezeichnet (44). Dem Publikum, das vielleicht einwenden könnte, daß die geschilderten Erlebnisse bei der Niederschrift dieses Textes bereits ein halbes Jahrhundert zurücklagen, wird vorsorglich verraten, man habe auf seine bei weitem nicht ausgeschöpften Tagebücher zurückgegriffen, die "eine umständliche Schilderung des nächtlichen Thierlebens, ich könnte sagen der nächtlichen Thierstimmen, im Walde der Tropenländer" enthalten (45). Nach einer kurzen Darstellung der Umgebung am Flußufer des Orinoco setzen diese Tierstimmen mit dem "Schnarchen der Süßwasser-Delphine" (46) ein, bis nach 23 Uhr ein solcher Lärm im Urwald entstand, "daß man die übrige Nacht hindurch auf jeden Schlaf verzichten mußte"(47).

Auch wenn in Humboldts jüngst veröffentlichtem Tagebuch die Helligkeit des Mondlichts - "Welch prachtvoll mondhelle Nacht!"(48) - gepriesen wird: Das Ohr ist nun geweckt, bleibt hellwach und beherrscht die sinnlichen Eindrücke. Mit Hilfe der Indianer erkennt man "das einförmig jammernde Geheul der Aluaten (Brüllaffen), der winselnde, fein flötende Ton der kleinen Sapajous, das schnarrende Murren des gestreiften Nachtaffen (nyctipithecus trivirgatus, den ich zuerst beschrieben habe), das abgesetzte Geschrei des großen Tigers, des Cuguars oder ungemähnten amerikanischen Löwen, des Pecari, des Faulthiers, und einer Schar von Papageien, Parraquas (Ortaliden) und anderer fasanenartiger Vögel" (49).

Dann setzt der Ich-Erzähler, mit Hilfe der expliziten intratextuellen Tagebucheinblendungen (die sich bei einem Vergleich mit dem Tagebuch freilich nicht als Zitate, sondern als grundlegende literarische Umgestaltungen entpuppen) gleichsam verdoppelt, diese Szenerie einer weiter zunehmenden Dynamik und Dramatik aus: Die Stimmen der Tiere verraten nun rasch wechselnde Standorte. Während die Indianer "lächelnd" davon sprechen, die Tiere feierten den Vollmond, hält der Reisende in einer Deutung, deren aus heutiger Sicht darwinistisch anmutende Untertöne letztlich von einer grundlegenden Harmonievorstellung wieder aufgefangen werden, kontrastierend fest: "Mir schien die Scene ein zufällig entstandener, lang fortgesetzter, sich steigernd entwickelnder Thierkampf."(50)

Eine derartige Deutung findet sich in Humboldts Orinoco-Journal ebenso wenig wie eine bewußt dramatisierende, einen Spannungsbogen erzeugende Erzählweise, die brennspiegelartig auch andere Passagen des Tagebuches einer verdichtenden ästhetischen Bearbeitung zuführt. Ohne an dieser Stelle eine ausführliche Analyse der gesamten Darstellung vorlegen zu können, sei doch darauf hingewiesen, daß der Erzähler am Ende dieses Textes, der im Gegensatz zu den meisten anderen in den Ansichten der Natur versammelten Prosaschriften von nur sechs recht kurzen Anmerkungen begleitet wird, wieder Licht hinzutreten läßt und die akustischen vorübergehend durch optische Eindrücke ergänzt. Das Akustische herrscht aber auf den letzten Zeilen wieder vor: Viele Tiere verstecken sich nun, entziehen sich den Blicken des Erzählers wie des Publikums, und so

lauscht man bei dieser scheinbaren Stille der Natur auf die schwächsten Töne, die uns zukommen, so vernimmt man ein dumpfes Geräusch, ein Schwirren und Sumsen der Insecten, dem Boden nahe und in den unteren Schichten des Luftkreises. Alles verkündigt eine Welt thätiger, organischer Kräfte. In jedem Strauche, in der gespaltenen Rinde des Baumes, in der von Hymenoptern bewohnten, aufgelockerten Erde regt sich hörbar das Leben. Es ist wie eine der vielen Stimmen der Natur, vernehmbar dem frommen, empfänglichen Gemüthe des Menschen.(51)

Hatte der Erzähler zu Beginn darauf verwiesen, wie auffällig zahlreich "in alt-castilianischen Idiomen die vielen Ausdrücke für die Physiognomik der Gebirgsmassen" seien, so stellt er im weiteren Ablauf dieser Naturszenerie die Vielfalt ihm selbst zu Gebote stehender oft lautmalerischer Begriffe für unterschiedlichste Laute und Geräusche unter Beweis. Der Kosmos klingt, Natur ist Polyphonie. Es gibt keinen Beleg dafür, daß Alexander von Humboldt, der am preußischen Hofe dem König wie der königlichen Familie recht regelmäßig auch als Vorleser diente, diesen Text in Potsdam oder Berlin zu königlichem Gehör gebracht hätte. Doch verdient es die Klangstruktur des Textes, laut gelesen zu werden, um einen klanglichen Eindruck dieser »ästhetischen Behandlung« wahrnehmen und in ihrer Vielstimmigkeit genießen zu können. Ottiliens Tagebuch gab Goethe in seinen Wahlverwandtschaften die bekannte Formulierung ein: "Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören!"(52) Man möchte hinzufügen: »Wie gern hätte ich ihn nur einmal diesen Text lesen mögen.«

Die Erinnerung an die von Emma Kann am Ende ihres Gedichts sich "aus dem Meer der Töne" hebende Zukunft, die "Wahnsinn mit Vernunft in sich verwebt", mag uns erkennen lassen, daß in diesem kurzen, von der Humboldt-Forschung kaum einmal zur Notiz genommenen Text ein Weltbewußtsein zum Ausdruck kommt, in dem das Zusammenwirken aller Kräfte (53) wie eine vom Menschen nicht bestimmte, sondern nur gehörte und erahnte Natur ihren Platz finden. Die zitierten Passagen des Jahres 1789 wie die vielen anderen hier angeführten Textpassagen, in denen von den "Kräften" der Natur die Rede war, zeigen, daß auf dieser vom Humboldtschen »Weltethos« bestimmten Ebene eine große Kontinuität beobachtbar ist. Hier zeigt sich: Die Humboldtsche Wissenschaft (Humboldtian Science) ist ohne das Humboldtsche Schreiben (Humboldtian Writing) nicht vorstellbar, bleibt dieses doch gerade nicht bei der rationalen wissenschaftlichen Analyse stehen, sondern wirkt bewußtseinsschaffend, indem es Bewußtseinszustände ästhetisch reflektiert und rezeptionsästhetisch erzeugt. Es besitzt nicht nur eine beschreibende, darstellende, einer möglichen Nutzung zuführende und bekanntmachende, sondern eine fundamental transformatorische Funktion, die es erlaubt, empirisch überprüfte und nachprüfbare Sachverhalte innerhalb komplexer und vielfältig deutbarer Zusammenhänge in ihrer Vielstimmigkeit zu erfahren. Es verleiht seinem klaren Denken eine von der semantischen Dichte der Literatursprache aufgeladene Vielschichtigkeit, die seine ästhetische Wissenschaft ethisch fundiert. Erst im Weltbewußtsein werden Wissenschaft und Literatur, Empirie und Experiment, Naturforschung und Naturphilosophie ästhetisch vermittelbar und ethisch gebündelt zum Humboldtschen Weltentwurf, zur Humboldtschen Weltanschauung.

 

Anmerkungen:

(44) Humboldt, Alexander von: Das nächtliche Thierleben im Urwalde. In (ders.): Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Nördlingen: Greno 1986, S. 216.

(45) Ebda., S. 220. Dort heißt es nicht ohne Nachdruck weiter;: "Ich halte diese Schilderung für vorzugsweise geeignet, einem Buche anzugehören, das den Titel: Ansichten der Natur führt." (ebda., S. 221)

(46) Ebda., S. 223.

(47) Ebda., S. 224.

(48) Humboldt, Alexander von: Reise durch Venezuela. Auswahl aus den amerikanischen Reisetagebüchern. Herausgegeben von Margot Faak. Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 245. Im Tagebucheintrag hatte es übrigens von diesem einsetzenden Lärmen geheißen, daß es "uns ebenso am Schlaf hinderte, als ein Hochheittanz im Wirtshause" (ebda.). Etwas später trug Humboldt ein, es sei ein solcher Lärm entstanden, "daß man schwere Artillerie im Anzuge glaubte" (ebda.). Das Schnaufen der Delphine eröffent im Tagebuch nicht etwa die Geräuschkulisse, sondern schließt sie gegen Morgen ab - auch dies ein Beleg dafür, wie sehr Humboldt seine Texte künstlerisch - auch mit Blick auf die Dispositio - bearbeitete.

(49) Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur, a.a.O., S. 224.

(50) Ebda., S. 224.

(51) Ebda., S. 236.

(52) Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. In (ders.): Werke. Auswahl in 16 Bänden. Leipzig o.J., S. 138.

(53) Diese von Humboldt mehrfach gebrauchte und später durch seinen Kosmos popularisierte Formel findet sich bereits in einem Brief aus Caracas vom 14. Dezember 1799 an den berühmten französischen Astronomen Jerôme Joseph de Lalande, für den Humboldt sein Forschungsprojekt wie folgt zusammenfaßte und dabei zugleich den später oft mißdeuteten Begriff einer physique du monde erläutert:e: "mais vous savez que mon but principal est la physique du monde, la composition du globe, l'analyse de l'air, la physiologie des animaux et des plantes, enfin les rapports généraux qui lient les êtres organisés à la nature inanimée, ces études me forcent d'embrasser beaucoup d'objets à la fois." Humboldt, Alexander von: Briefe aus Amerika 1799 - 1804. Herausgegeben von Ulrike Moheit. Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 68. Bereits 1796 hatte Humboldt Pläne für eine wissenschaftlich umfassende und weltumspannende physique du monde geschmiedet, die in einem Brief vom 24. Januar 1796 an den mit ihm befreundeten Schweizer Physiker und Naturforscher Marc-Auguste Pictet einen bereits klar ausgeprägten transdisziplinären Charakter besitzt; vgl. Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts, a.a.O., S. 487. Unmittelbar vor seiner Abreise von La Coruña meldet er am 3. Juni 1799 an den Freiherrn von Moll, der "Hauptzweck meiner Reise" sei auf das "Zusammenwirken der Kräfte" abgestellt: "auf diese Harmonie sollen stäts meine Augen gerichtet seyn" Und er fügte eine Formel hinzu, die er fast wörtlich auch in anderen »Abschiedsbriefen« verwendete: "Der arbeitsame Mensch muß das Gute und Grosse wollen. Ob er es erreiche, hängt von dem unbezwungenen Schicksale ab." (ebda., S. 682)

 

letzte Seite | Übersicht | nächste Seite