Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
Originalfassung zugänglich unter http://www.hin-online.de

______________________________________________________

HiN                                                      III, 5 (2002)

______________________________________________________

 

Kristian Köchy

Das Ganze der Natur
Alexander von Humboldt und das romantische Forschungsprogramm

 

2.2  Naturwissenschaft und Naturphilosphie

2.3  Vernunft und Gefühl

2.4  Natur und Gefühl

2.5  Wissenschaft und Kunst 

2.3 Vernunft und Gefühl

Aus dem Obigen bleibt noch die Frage zu klären, wie Humboldt zu der von der Romantik inaugurierten Wende zum poetischen oder religiösen Intuition und zum Naturgefühl steht. Zunächst wird der aufgezeigte wissenschaftliche Charakter von Humboldts Ansatz auch darin deutlich, dass er ihn betont der denkenden Betrachtung zuordnet. Diese ist es, die die Natur als Einheit in der Vielheit, als Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, als Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als lebendiges Ganzes erfasst (ebd., 5 f.). Allerdings ist auch hier kein absoluter Bruch zwischen naturwissenschaftlicher und gefühlsmäßiger Naturerfahrung feststellbar. Nach Humboldt werden wir uns bereits in den ersten gefühlsmäßigen, auf Genuss ausgerichteten, Beschäftigungen mit der Natur - vor allem angesichts der verschlungenen Fülle des tropischen Lebens - einer innigen Verwandtschaft mit allem Leben gewahr: Der geheimnisvolle Zusammenhang aller organischen Gestaltung wird von uns gefühlt (ebd. 9). Diese - auch von Cassirer im Essay on man (Cassirer 1992, 83 ff.) oder von Scheler in seinem Werk über Wesen und Formen der Sympathie (Scheler 1973, 92) gewürdigte - mythische und vorwissenschaftliche Sympathie allen Lebens, die zentrales Motiv der romantischen Konzeption ist, erschließt nach Humboldt das gemeinsame, gesetzliche und darum ewige Band, das die gesamte lebendige Natur umschlingt.

 

Demnach münden sowohl dunkle Gefühle, als auch die Verkettung sinnlicher Anschauungen und die Tätigkeit der kombinierenden Vernunft in einer übereinstimmenden Einsicht: Nicht die vermeintliche Vielfalt und Heterogenität der Naturerscheinungen bildet die grundlegende Struktur der Wirklichkeit, sondern ein einigendes Band der Ordnung. Allerdings entsteht mit dem Übergang von der bloß gefühlten Ahnung dieser Harmonie in der Natur zur vernunftmäßigen Gewissheit ein qualitativer Sprung in der Naturerfahrung. Dieser Sprung kommt u. a. in der neuen Qualität des Naturgenusses aus Ideen zum Ausdruck. Aus diesem Grund hält Humboldt die auch in den Reihen der Romantiker geäußerte Besorgnis für unbegründet, mit der naturwissenschaftlichen Betrachtung komme es zur Entzauberung der Welt und das Gefühl vom Geheimnisvollen und Erhabenen verschwinde. Für Humboldt entsteht vielmehr durch das Vermessen der Natur und durch das Auffinden numerischer Verhältnisse in ihr, durch sorgfältige naturwissenschaftliche Beobachtung über Mikroskop und Teleskop, eine höhere Kenntnis der Weltgesetze. Diese hat eine Schärfung des Natursinns zur Folge und geht nicht auf Kosten des Naturgenusses. Statt der Entzauberung der Natur entsteht der „Zauber des Unbegrenzten“ (Humboldt, 1845 ff., I, 20). Wieder nutzt Humboldt ein Grundkonzept der Romantik - die Leitidee des Unendlichen - und bringt sie mit der Metapher einer Bergwanderung in Verbindung zum höheren Standpunkt der allgemeinen Weltanschauung als einer naturwissenschaftlichen Erfahrung des Sinnlich-Unendlichen (ebd. 38).

 

Trotz dieser Überzeugung stimmt Humboldt dem grundsätzlichen Einwand Kants zunächst zu, der da lautet, das Ganze der Natur entziehe sich sowohl der naturwissenschaftlichen Erfassung als auch der formalen Betrachtung durch die Philosophie (was bei Kant allerdings auf der transzendentalen Trennung von diskursivem Verstand und ganzheitlicher Anschauung beruht). Humboldt betont deshalb, dass die Vielheit der Erscheinungen des Kosmos eine rationale Zusammenfassung in einer Einheit des Gedankens nur in Form eines focus imaginarius ermöglicht. Erfahrungswissenschaften sind niemals vollendet. Eine Einheit des Naturbegriffs wird sich aus der Fülle sinnlicher Erfahrung nicht bilden lassen, heißt es in der Einleitung zum dritten Kosmos-Band (ebd., III, 10), deshalb kann man nur von der Erfahrung ausgehen und durch sie das Vernunftgemäße erfüllen, muss sich aber häufig in der Naturforschung mit dem Auffinden empirischer Generalisationen bescheiden. Eine Einsicht, die auch die Romantiker gewonnen hatten, weshalb sie aber nach philosophischer, religiöser oder poetischer Erweiterung der Naturwissenschaft suchten. Humboldt beantwortet dieses Problem zunächst innerhalb der Naturwissenschaften. Er verweist darauf, dass die gruppenweise Sonderung der Phänomene in immer größeren Kreisen erfolgen müsse und dennoch angesichts der Heterogenität und Fülle der Natur zu einem schier unendlichen Unterfangen anwachse. Dabei scheint ihm eine logische oder rein formale Vereinheitlichung zwar denkökonomisch geboten - ist aber angesichts der tatsächlichen vernetzten Ordnung der Natur nur bedingt gerechtfertigt (ebd., I, 66 f.). Demnach ist die Verkettung der Naturglieder zwar notwendig und regelmäßig, hat aber nicht den Charakter einer lineare Reihung, sondern - ähnlich wie bei Bergson, der in L’Évolution Créatrice die Schöpfung als "canevas" bezeichnet (Bergson 1991, 514; vgl. Köchy 1999b) - eines netzartig verschlungenen Gewebes (Humboldt 1845 ff., I, 33). Die Natur als Ganzes erscheint deshalb auch bei Humboldt - und bewusst mit einem Schelling-Zitat dargestellt - nicht als totes Aggregat, sondern als lebendiges, selbstorganisierendes und wachsendes System (ebd. 39)[1]. Dieses System gilt es, in einem gestuften Verfahren der Sonderung und Vereinheitlichung wissenschaftlich zu erfassen - ausgehend von der Beobachtung muss über das Experiment, den Analogieschluss und die Induktion bis zur Aufstellung empirischer Gesetze fortgeschritten werden.

 

Zugleich ist die Unendlichkeit und Fülle der Natur kein Grund für einen resignativen wissenschaftskritischen Rückzug. Zwar führt beispielsweise jedes naturwissenschaftliche Eindringen in das wundervolle Gewebe des Organismus immer nur an den Eingang neuer Labyrinthe (Köchy 1999c), aber gerade diese Mannigfaltigkeit erregt doch auf allen Stufen des Wissens neues freudiges Erstaunen (Humboldt 1845 ff., I, 21 f.). Mit diesem Ausgangspunkt des taumaxein, dem klassischen Motiv des Erstaunens, wird sowohl der philosophische als auch der wissenschaftliche Motor für neue und weitergehende Forschung aufgedeckt. Gerade in dieser Perspektive erweist sich die Natur als das ewig Wachsende, im Bilden und Entfalten Befindliche - ein mit seinem Bezug zu Carus unbezweifelbar romantischer Gedanke. Somit ist die Konsequenz aus der unendlichen Aufgabe der Einheitssuche nur das frohe Bewusstsein des Strebens nach dem Unendlichen (ebd., III, 10).

 

Die generalisierende Perspektive der Weltbeschreibung führt deshalb nach Humboldt zu einem höheren und geläuterten Begriff von der Würde und der Größe der Natur. So wird nicht nur der Geist geläutert und beruhigt, sondern es wird zugleich jeder Organismus als Teil des Ganzen erkennbar, jedes individuelle Geschehen wird zum Glied im Gesamt der verketteten Naturformen (ebd., I, 23). Auch indem Humboldt das theoretische Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis in eins mit dem praktischen Motiv der Würde der Natur und der Läuterung des Geistes nennt, werden Verbindungen zur Romantik deutlich. Diese hatte ebenfalls die innige Verbindung zwischen methodologischer Katharsis als Ausschluss von Vorurteilen und Täuschungen und der religiös respektive moralisch konnotierten Reinigung betont. Wie in der Romantik führt auch bei Humboldt wahre Erkenntnis der Natur zur Anerkennung der Natur.


[1] Linden (1942, 48) deutet Humboldts Naturwissenschaft deshalb als Goethische Gestaltenlehre und Morphologie: Die lebendige Gestalt steht im Vordergrund und es geht um die Erfassung der lebendigen Einheit der gestalteten Erscheinungen.

 

______________________________________________________

 

<< letzte Seite  |  Übersicht  |  nächste Seite >>