Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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HiN                                                      III, 5 (2002)

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Kristian Köchy

Das Ganze der Natur
Alexander von Humboldt und das romantische Forschungsprogramm

 

2. Humboldts Wissenschaft von der Ganzheit der Natur

Zur Ermittlung weiterer Spezifika des Ansatzes, die Humboldts Postulat von der eigenständigen synthetischen Disziplin jenseits der einzelnen Fachwissenschaften rechtfertigen, sollen im Folgenden verschiedene Relationen betrachtet werden:

 

2.2  Naturwissenschaft und Naturphilosophie

2.3  Vernunft und Gefühl

2.4  Natur und Geist

2.5  Wissenschaft und Kunst 

2.2 Naturwissenschaft und Naturphilosophie

Das Ziel von Humboldts neuer Wissenschaft der Natur ist die Aufzählung gleichartiger oder verwandter Naturverhältnisse, um so eine generelle Übersicht über deren räumliche Verteilung oder deren Beziehung zu bestimmten Erdzonen zu gewinnen. Damit ist weder bloße Detailbetrachtung der Einzeldinge der Natur, noch deren logisch-systematische Ordnung nach inneren Analogien, noch eine rein formale Abstraktion etwa im Sinne eines Ausschlusses des spezifischen Kontextes bestimmter Erdzonen gefordert. Vergleichbar etwa mit Hegels Überlegungen in der Enzyklopädie (Hegel 1986, 13 ff., §§245 ff.), sucht Humboldt nach einem Standpunkt, der eine Vermittlung zwischen dem abstrakt Allgemeinen und dem ungeordnet Besonderen ermöglicht. Wo Hegel allerdings den vermittelnden Standpunkt in der Naturphilosophie sieht, die nach ihm auf das Innere des Inneren der Natur gerichtet ist, bleibt Humboldts Weltbeschreibung Naturwissenschaft und ist zunächst und vorrangig auf äußere Naturerscheinungen gerichtet. Angesichts der oben dargestellten Unterscheidung von naturphilosophischer Innenperspektive und naturwissenschaftlicher Außenperspektive bei Schelling wird damit auch ein maßgeblicher Unterschied zur romantischen Naturphilosophie deutlich. Trotz aller Versuche der Romantiker, auch die Naturwissenschaft in Richtung auf die Erfassung der Ganzheit der Natur und ihrer Einzelbildungen zu erweitern, bleibt doch deren gemeinsamer Tenor, dass es weniger die Naturwissenschaften als vielmehr die Naturphilosophie oder gar deren Übergang zur Poesie ist, die eine adäquate Darstellung des Naturganzen erwarten lässt.

 

Allerdings ist der Abstand zwischen Humboldt und der Romantik so groß nicht, denn prinzipiell kann auch nach Humboldt kein Widerspruch zwischen einer in allen Teilen ausgebildeten Naturphilosophie und dem Inbegriff der Erfahrungserkenntnisse entstehen (Humboldt 1845 ff., I, 69). Humboldts Konzept besitzt deshalb - wie Hegels Ansatz und auch wie viele romantische Überlegungen - einen aristotelischen Zug, denn es geht ihm darum, von dem für uns Ersten, dem besonderen Einzelereignis, zu dem von Natur aus Ersten überzuleiten, d. h. das gesetzmäßig Allgemeine im Einzelnen zu erkennen. Dabei lehnt Humboldt jedoch die vorschnelle Induktion und Schlussfolgerung aus nur wenigen, unvollständigen empirischen Befunden ebenso ab, wie eine bloße Deduktion aus spekulativen Prinzipen (ebd., 17). Seine Kritik trifft vor allem Konzepte, die nach ersten induktiven Schritten vorschnell ein dogmatisches System etablieren und nun nicht mehr durch zusätzliche Tatsachen erschüttert werden können, was sicherlich auch für viele romantische Ansätze zutrifft. Humboldt grenzt seinen Ansatz deshalb vehement von allen geschlossenen deduktiven und induktiven Systemen ab. Gleiches gilt allerdings auch für relativistische Ansätze, die Natur ausschließlich als Chaos, Kontingenz oder Ausnahme deuten. Humboldts vermittelnder Ansatz soll nicht „rationelle Wissenschaft der Natur“ sein, sondern die „denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen als eines Naturganzen“ (ebd. 31).

 

Diese besondere Betrachtung des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Ganzen, seine Auffassung als Teil der Erscheinungen des gesamten Kosmos, sucht Humboldt - in Übereinstimmung mit den Aufklärern Diderot und d’Alembert aber auch mit den Romantikern (Schelling, VI 379 f.; Ritter 1984, 10) - als „höheren Standpunkt“ darzustellen (Humboldt 1845 ff., I, 40). Allerdings zieht Humboldt eine deutliche Grenze zur Enzyklopädie (ebd.). Im Gegensatz zu den enzyklopädischen Sammlungen der Franzosen und auch zum romantischen Trend zu Fragmenten und Aphorismensystemen steht Humboldt gewissermaßen in der Tradition der Systemphilosophie. Nicht ein enzyklopädisches Aggregat von Fakten oder eine Rhapsodie, sondern eine vereinheitlichende und systematische Betrachtung ist sein Ziel. Wie Schelling[1], Oersted[2] oder Burdach (1842, I, 6) versinnbildlicht auch Humboldt dieses Anliegen mit der Metapher von der Bündelung von vielfachen Strahlen des Naturwissens in einem gemeinsamen Brennpunkt (Humboldt, 1845 ff., I, 60).


[1] Schelling, Werke I, 158: „Es ist schwer, der Begeisterung zu widerstehen, wenn man den großen Gedanken denkt, daß so wie alle Wissenschaften [...] immermehr dem Punkt vollendeter Einheit entgegeneilen, auch die Menschheit selbst, das Princip der Einheit [...] realisiren werde; daß, so wie alle Strahlen des menschlichen Wissens und die Erfahrung vieler Jahrhunderte sich endlich in Einem Brennpunkte der Wahrheit sammeln und die Idee zur Wirklichkeit bringen werden [...]“. So auch 1798 in der Weltseele (Werke II 350 f.).

[2] Oersted 1812, 275 f.: „Es ist erfreulich zu sehen, wie sich die Chemie nach und nach zu einer solchen Allgemeinheit der Gesetze erhoben hat, und wie das treue Streben so vieler Forscher, obgleich es sich oft in entgegengesetzte Richtungen verbreitete, am Ende doch [...] in einem Brennpunkte, in einer Einheit zusammentrifft.“

 

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