Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009 |
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HiN III, 5 (2002)
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Kristian Köchy
Das Ganze der Natur
Alexander von Humboldt und das romantische Forschungsprogramm
2.2 Naturwissenschaft und Naturphilosophie
2.4 Natur und Geist
Das synthetische Anliegen, das in Humboldts Versuchen der Ergänzung von Einzelfallanalyse und Gesetzeswissenschaft oder von Naturgefühl und Naturwissenschaft zum Ausdruck kam, ist auch für sein Verständnis von Geschichte und Natur leitend und prägt folglich dessen Vorstellung vom Verhältnis zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft. Sowohl die physische Weltbeschreibung als auch die Weltgeschichte können entsprechend dem oben Ausgeführten für Humboldt nicht aus Begriffen oder Prinzipien deduziert werden, sondern sind auf die empirische Auffassung der Einzelheiten der Wirklichkeit angewiesen - stehen also daher von ihrem Ausgangspunkt her auf derselben Stufe der Empirie. Beiden Erfahrungswissenschaften geht es zudem um sinnvolle Anordnung der Einzelerscheinungen nach einer inneren Notwendigkeit, die „alles Treiben geistiger und materieller Kräfte“ beherrscht (ebd. 33), also um das Auffinden von Gesetzen. Weiterhin erfasst die physische Weltbeschreibung die Natur als ein Werden. Jedes natürliche Sein ist seinem Umfang und seinem inneren Sein nach ein Gewordenes. Damit betrachtet die physische Weltbeschreibung zwar zunächst das Zusammenbestehende im Raum und das gleichzeitige Wirken der Naturkräfte, die so erfasste Natur ist aber lediglich dem Begreifen nach, nicht aber ihrem Sein nach vom Werden zu trennen. Insofern fehlen für eine wirkliche physische Weltgeschichte derzeit zwar noch die empirischen Daten, aber dieses bedeutet keine prinzipielle Trennung von Naturbeschreibung und Naturgeschichte (ebd. 63 f.).
Ebenso ist nach Humboldt zwar eine Gegenüberstellung von Natur und Geist oder von Natur und Kunst denkbar, aber eine solche Trennung ist keinesfalls mit der Abgrenzung des Physischen vom Intellektuellen zu verwechseln. Wissenschaft fängt im Gegenteil erst dort an, wo sich der Geist des Stoffes bemächtigt und wo der Versuch unternommen wird, die Masse der Erfahrungen der Vernunfterkenntnis zu unterwerfen (ebd. 69). Deshalb besteht eine innige Verbindung zwischen der Natur und dem Geist, denn die Außenwelt existiert für uns nur, wenn wir sie in einer Naturanschauung aufnehmen. Die wissenschaftliche Naturbeschreibung im Naturgemälde des Kosmos, das Naturgefühl, die dichterische Beschreibung der Natur mittels der Einbildungskraft, die Landschaftsmalerei - dieses sind jeweils verschiedene innere Reflexe äußerer Erscheinungen und damit Belege für die Verbindung zwischen Geist und Natur. Um die Natur in ihrer ganzen erhabenen Größe zu schildern, darf man folglich nicht bei den äußeren Erscheinungen verbleiben, sondern man muss die Natur auch so darstellen, wie sie sich im Inneren des Menschen abspiegelt. Der höhere Standpunkt des Kosmos soll deshalb die beiden Sphären gleichzeitig in lichtvoller Klarheit darstellen: die äußere, durch die Sinne wahrnehmbare Welt und die innere, reflektierte, geistige Welt (ebd., III, 8). In Humboldts Ansatz fließen deshalb die zwei Kulturen zusammen. Eine Trennung der Hoheitsgebiete von Kultur- und Naturwissenschaften ist nicht zu erkennen. Wenn dieses dem modernen Betrachter attraktiv erscheint, so hat er allerdings in Rechnung zu stellen, dass die Frage nach der Deutungshoheit - die uns Heutige beispielsweise angesichts der Erfolge und Anwendungen der Lebenswissenschaften umtreibt - bei Humboldt eindeutig durch sein Hierarchiemodell der Wissenschaften und Seelenvermögen entschieden ist: Es ist die Naturwissenschaft und die vernunftmäßige Durchdringung der Empirie, die für ihn die Spitze des Naturverständnisses und den momentanen Endpunkt der historischen Entwicklung der physischen Weltbeschreibung darstellt.
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