Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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HiN                                                      III, 5 (2002)

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Kristian Köchy

Das Ganze der Natur
Alexander von Humboldt und das romantische Forschungsprogramm

 

2.2  Naturwissenschaft und Naturphilosophie

2.3  Vernunft und Gefühl

2.4  Natur und Geist

2.5  Wissenschaft und Kunst 

2.5 Wissenschaft und Kunst

Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen kann nun noch einmal abschließend Humboldts Konzept des „Naturgemäldes“ in den Blick kommen (vgl. Böhme 2001). Wie eingangs erwähnt ist das Programm der physischen Weltbeschreibung eng mit diesem Begriff verwoben. Beide Begriffe haben ihr Gemeinsames darin, dass sie die Vorstellung eines höheren Standpunktes zum Ausdruck bringen. Humboldt will von dieser Höhe aus, bei der das Einzelne nur als gruppenweise Verteilung im Raume erscheint, eine anschauliche Darstellung dieses Ganzen und seiner Teile erstellen (Humboldt 1845 ff., I, 79 f.). Anschaulichkeit erfordert es jedoch, dass nicht die gesamte „gestaltenreiche Mannigfaltigkeit“, sondern nur die großen geschiedenen Massen im Bild erscheinen. Dabei ist die gesamte Darstellung auf Lebendigkeit des Ausdrucks ausgerichtet, so dass sich die sinnliche Anschauung naturwahr spiegelt. Diese Vorgabe macht deutlich, dass Humboldt auf der Basis der obigen Verbindung zwischen äußeren Naturerscheinungen und inneren Naturanschauungen nach einer möglichst adäquaten Form der Repräsentation der Ganzheit der Natur sucht. Dabei sollen unermessliche Verschiedenheit und harmonischer Eindruck zum Ausgleich kommen. Zugleich ist mit diesem Anliegen ein naturwissenschaftliches und ein literarisches Problem angesprochen: Naturwissenschaftlich geht es darum, die allgemeinen Grundzüge in der Vielfalt der Naturbildungen herauszustellen, wobei beispielsweise mathematische Abstraktionsverfahren wie die Erstellung statistischer Mittelwerte ein Moment des Stetigen in den Wechsel der Form bringen. Literarisch geht es um die kompositorische Aufgabe der Erstellung eines schönen Naturbildes, das den Reichtum der Natur nicht durch die Anhäufung einzelner Details, sondern durch die Ruhe des harmonischen Totaleindrucks versinnbildlicht.

 

Diese zwiefache Richtung seines Schaffens - die naturwissenschaftliche und die ästhetische Seite, die Humboldt u. a. in den Vorreden zu den Ansichten der Natur hervorhebt - sowie der Versuch, eine harmonischen Einheit zwischen beiden Seiten herzustellen, ist das letzte wichtige Verbindungsstück zur Romantik. Humboldt will zugleich durch lebendige Darstellung den Naturgenuss erhöhen und durch harmonische Zusammenstellung der Daten den Stand der Naturwissenschaft auf ein höheres Niveau führen. Diesem inhaltlichen Anliegen trägt er auch in der formalen Gestaltung seiner Werke Rechnung. Wo die Romantik die Einheit des Seins in seiner Vielfalt auf die Textur ihrer Werke als Fragmente oder als Aphorismensammlungen überträgt, welche nach Novalis den Gesetzen der Repräsentationslehre folgen müssen, greift Humboldt zu einem anderen stilistischen Mittel: Er weist dem Haupttext seiner Arbeiten eine andere Funktion zu als den Fußnoten und erzeugt so zwei parallele, aufeinander verweisende Texte (vgl. auch Beck 1986). In den Ansichten der Natur transportiert beispielsweise der Haupttext das poetische Anliegen und stellt einen nach dichterischen Maximen komponierten Essay über den Gesamtzusammenhang einer bestimmten geographischen Region dar, während die Fußnoten die naturwissenschaftliche Datensammlung der Einzelfakten ergänzen. Im Kosmos bleiben beide Texte dem Programm der physischen Weltbeschreibung untergeordnet: Wieder liefert jedoch der Haupttext die anschauliche und zusammenfassende Darstellung der allgemeinen Ordnung und die Fußnoten ergänzen die Fülle der Einzelfakten.

 

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