Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 20. November 2012
Originalfassung zugänglich unter http://www.hin-online.de

HiN - Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (ISSN: 1617-5239)

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Eberhard Knobloch

Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß – im Roman und in Wirklichkeit

Zusammenfassung

Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ wird hoch gepriesen und streng kritisiert. Kehlmanns Kritiker lesen seine Satire als eine verfälschte Biographie von Gauss und Humboldt, obwohl der Autor wiederholt selbstironische Bemerkungen eingestreut hat, die sein wahres Ziel offenbaren. Der Aufsatz bemüht sich, Kehlmanns fiktiven Roman angemessen zu beurteilen und einige der wirklichen Aktivitäten und Errungenschaften von Gauss und Humboldt zu charakterisieren, indem Kehlmanns erzählte mit den historischen Tatsachen verglichen werden. Beide Wissenschaftler waren stark am Erdmagnetismus interessiert, was zeitweise zu einigen Spannungen zwischen ihnen führte. Humboldts Messmethoden und seine Überzeugung, dass alles Wechselwirkung ist, waren zwei Seiten derselben Medaille. Nur numerische Elemente  konnten helfen, die Gesetze zu finden, die die Natur regieren. Humboldts wissenschaftliche Techniken und Ziele (Methode der Mittelwerte) waren gut begründet. Humboldts Reisen und Forschen bildeten eine untrennbare Einheit. Humboldts Naturbegriff schloss beide Möglichkeiten ein, das heißt die natura naturans und die natura naturata, die schaffende und herrschende Natur und die Natur, die von bestimmten Gesetzen beherrscht war. Sein überragendes Interesse an Naturgesetzen gründete auf der Überzeugung, dass sie ewig waren und dass sie die Ordnung und Ewigkeit der Welt garantierten.

Résumé

Le roman de Daniel Kehlmann „Le mesurage du monde“ est célébré et critiqué fortement en même temps. Les critiques de Kehlmann lisent sa satire comme une biographie détériorée de Gauss et de Humboldt quoique l’auteur ait inséré à maintes reprises des remarques autoironiques qui révèlent sa vraie fin. L’article s’efforce de juger justement le roman fictif de Kehlmann et de caractériser quelques-unes des activités et conquêtes réelles de Gauss et de Humboldt en comparant les faits racontés par Kehlmann avec les faits historiques. Les deux savants s’intéressaient beaucoup au magnétisme terrestre ce qui entraînait quelques désaccords pendant quelques années. Les méthodes humboldtiennes de mesurage et sa conviction que tout est interaction étaient deux côtés de la même médaille. Seulement des éléments numériques pouvaient aider de découvrir les lois de la nature. Les techniques scientifiques et les fins de Humboldt (la méthode des valeurs moyennes) étaient bien fondées. Ses voyages et ses recherches formaient une unité inséparable. La notion humboldtienne de nature incluait les deux possibilités, à savoir la natura naturans et la natura naturata, la nature créative et gouvernante et la nature gouvernée par certaines lois. Son intérêt extraordinaire aux lois de la nature était basé sur sa conviction qu’elles sont éternelles and qu’elles garantissent l’ordre et l’éternité du monde.

Abstract

Daniel Kehlmann‘s novel „The measuring of the world“ is highly praised and strongly criticized as well, Kehlmann‘s critics read his satire as a deteriorated biography of Gauss and Humboldt though the author repeatedly inserted self-ironical remarks that reveal his true aim. The paper tries to do justice to Kehlmann‘s fictional novel and to characterize some of Gauss‘s and Humboldt‘s real activities and achievements by comparing Kehlmann‘s narrative with historical facts. Both scientists were strongly interested in earth magnetism that temporarily led to some tensions between them. Humboldt‘s measuring methods and his conviction that everything is interaction were two sides of the same medal. Only numerical elements could help to find the laws ruling the world.  Humboldt‘s scientific techniques and aims (method of mean values) were well founded. Humboldt‘s travelling and researching formed an unseparable unity. Humboldt‘s notion of nature implied both possibilities, that is natura naturans and natura naturata, the creative and governing nature and the nature governed by certain laws.  His outstanding interest in natural laws

* * *

1. Einleitung

Im Brandenburgsong von Rainald Grebe heißt es:

In Berlin bin ich einer von 3 Millionen.

In Brandenburg kann ich bald alleine wohnen.

Oh Brandenburg.

Ja, weiß denn dieser Ignorant nicht, dass in Berlin über 3,5 Millionen Einwohner leben, in Brandenburg immerhin noch knapp 2 Millionen? Sollte jemand auf die Liedsatire derart griesgrämig reagieren, könnte er kaum mit Verständnis rechnen. „Difficile est saturam non scribere“, hatte der römische Dichter Juvenal gesagt (Sat. 1, 30), „Schwer ist es, keine Satire zu schreiben.“ Aber eine Satire zu schreiben, die als solche erkannt und gewürdigt wird, ist es eben auch. Davon zeugen Ruhm und Kritik an Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“. Oder um es sinngemäß mit Schiller zu sagen (Prolog zu Wallensteins Lager, Vers 102f.):

Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,

schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.

Jedenfalls gehört es zu den Lieblingsbüchern des Politikers und ehemaligen Kanzlerkandidaten Frank Walter Steinmeier[1].

2. Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“

Daniel Kehlmann hat eine satirische Auseinandersetzung mit dem verfasst, was es heißt, deutsch zu sein, eine satirische Ideologiekritik, in der Gestalt eines Pseudo-Sachbuchs, eines „Romans“, wie  im Titel ausdrücklich gesagt, aber allzu oft überlesen wird[2]. Um es mit Kehlmann zu sagen (Staatstheater Braunschweig 2008, 8): „Es sollte so klingen, wie ein seriöser Historiker es schreiben würde, wenn er plötzlich verrückt geworden wäre.“  Darf Kehlmann das? Die Frage stellen, heißt sie bejahen: Natürlich darf ein Schriftsteller historische Personen in einer Gesellschaftssatire bis zur Unkenntlichkeit verfremden. Zumal dann, wenn er wie Kehlmann durch selbstironische Einsprengsel an seinem Vorgehen keinen Zweifel lässt (Kehlmann 2005, 59): „Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne,“  heißt es gleich im ersten Abschnitt. Im zehnten Abschnitt redet Humboldt (Kehlmann 2005, 221): „Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen...Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde.“ Warum eigentlich meinen deutsche Kritiker, diese Aussagen übergehen zu können und oberlehrerhaft die Kehlmannschen Aussagen mit der vermeintlichen oder tatsächlichen Wahrheit vergleichen zu müssen? Kehlmann mit Verachtung oder vernichtender Kritik begegnen zu dürfen? Und doch ist die Gefahr nicht zu leugnen, die solches Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit nach sich zieht: Der Leser kann nicht mehr zwischen Sein und Schein unterscheiden, läuft Gefahr, beides für ein- und dasselbe zu halten, jedenfalls dann, wenn er es nicht besser weiß.

Auch der Münchener Mathematiker Roland Bulirsch, der eine Laudatio auf den Literaturpreisträger Kehlmann veröffentlichte (Bulirsch 2006, 850), ist dieser Gefahr nicht entgangen. „Das Credo des Galileo Galilei: „Alles Messbare messbar zu machen“ ist auch das Credo Humboldts“, heißt es dort. Nur: Galileis angebliches Credo war nicht sein Credo, sondern ist ihm nach jetzigem Kenntnisstand von dem französischen Historiker Thomas Henri Martin 1868 in den Mund gelegt worden (Kleinert 2009, 200-203). Als Humboldts Glaubensbekenntnis taugt es nur bedingt. Das ist noch näher auszuführen. Bestimmte Szenen sind bei Kehlmann derart grell überzeichnet, dass deren fiktionaler Charakter kaum zu übersehen ist: Das geradezu sadistische Verhalten Wilhelm von Humboldts gegenüber seinem jüngeren Bruder, den er in einen Schrank sperrt oder teilnahmslos fast ertrinken lässt (Kehlmann 2005, 21, 24f.); der erotomanische Gauß  mit seinen regelmäßigen Besuchen bei einer Prostituierten (der an manchen Politiker erinnert); der Besuch von Gauß beim dementen Hanswurst in Königsberg mit dem Namen Immanuel Kant (Kehlmann 2005, 94-97), eine Majestätsbeleidigung für Philosophen. Humboldt hat ihn sehr verehrt, aber Gauß war niemals in Königsberg.

Schwierig wird es, wenn es um wissenschaftliche Interessen, Überzeugungen und Tätigkeiten, etwa die Mess- und Reisetätigkeit Humboldts geht, die diesem im Kern nicht abzusprechen sind: Sowohl Humboldts Amerika- wie auch Russlandreise sind keine Fiktionen, sondern haben stattgefunden. Humboldts Messtätigkeit ist durch ungezählte Briefe, seine Tagebücher, seine Veröffentlichungen belegt; oder wenn es um Dinge geht, die möglich, aber weder bewiesen noch widerlegbar sind, etwa Humboldts Homosexualität, bei Kehlmann im Dialog zwischen den Brüdern eine Tatsache (Kehlmann 2005, 264). Im folgenden möchte ich deshalb vier zentrale Aspekte des Humboldtschen wissenschaftlichen Interesses, Tuns und Programms unter Heranziehung einschlägiger Zitate aus Kehlmanns Roman ansprechen, nämlich den Erdmagnetismus, die Gründe und Zwecke der Humboldtschen Messtätigkeit (kurz sein Forschungsprogramm), die dabei hauptsächlich verwandten Methoden und seinen Natur- und Gesetzesbegriff.

3. Humboldt und Gauß

Gauß hatte Humboldt im Herbst 1826 in Göttingen kennen gelernt. Die gegenseitige Wertschätzung, ja Verehrung der beiden Männer für einander ist durch ihren Briefwechsel hinreichend belegt (Biermann 1958/59). Davon ist bei den Kehlmannschen Romangestalten so gut wie nichts zu spüren. Nur in den Jahren 1833 bis 1836 herrschte zwischen beiden eine drei Jahre währende, vorübergehende Verstimmung, die mit ihrem gemeinsamen starken Interesse für den Erdmagnetismus zu tun hatte. Eine Verstimmung, die sich allerdings auch noch später bei Gauß nachweisen lässt, wie gezeigt werden soll. Dieses gemeinsame Interesse (für den Erdmagnetismus) spielt auch bei Kehlmann eine wichtige Rolle: Gauß erhält dort Humboldts Brief aus Russland, während er gerade die Intensität der magnetischen Kraft misst. Humboldt bittet darin um Nachsicht wegen seiner magnetischen Messdaten, da er eine vorgeschriebene Reiseroute zu beachten habe. „Zum ersten Mal tat Humboldt ihm leid“, schreibt Kehlmann (2005, 274). Umgekehrt  heißt es von Humboldt, der bei Kasan entsprechende Magnetmessungen vornimmt: „Plötzlich tat Gauß ihm leid...Der arme Mann hatte nie etwas von der Welt gesehen“ (Kehlmann 2005, 276).

Tatsächlich hatte Humboldt diese Untersuchung zu einer der Hauptaufgaben seiner Unternehmung gemacht, wie er im „Kosmos“ berichtet (Humboldt 1845-1862 I, 193 mit Anm. 158). Die Aufgabe bestand darin, die verschiedenen Zeiten zu bestimmen, in denen die Magnetnadel an verschiedenen Orten dieselbe Anzahl von Schwingungen ausführt, oder die verschiedenen Anzahlen von Schwingungen innerhalb desselben Zeitraums. Unter Heranziehung der Werte von Paris fand er durch Vergleich mit den in Kuba, Mexiko und Südamerika ermittelten Schwingungszahlen das empirische Gesetz (Honigmann 1984, 58) :„Die Intensität der erdmagnetischen Kraft nimmt vom magnetischen Äquator zum magnetischen Nordpol hin zu.“ In der „Relation historique“ (Humboldt 1814-1825 III, 615) hatte er dazu gesagt: „J’ai regardé la loi du décroissement des forces magnétiques, du pôle à l’équateur, comme le résultat le plus important  de mon voyage américain“ [„Ich habe das Gesetz der Abnahme der magnetischen Kräfte vom Pol zum Äquator als das wichtigste Ergebnis meiner amerikanischen Reise betrachtet“]. Humboldt erwähnte das Gesetz 1829 in seiner Petersburger Akademierede (Knobloch u.a. 2009, 278). Er zitierte die Stelle des Reiseberichts im „Kosmos“, ein Beweis für die Wichtigkeit, die er seiner Entdeckung beimaß.

Der Nachteil der Humboldtschen Messmethode bestand in einer Abhängigkeit: Die Verteilung des freien Magnetismus in den Teilchen der Nadel wurde als unverändert vorausgesetzt, was nur für kleine Zeiträume zutrifft. Gauß stellte am 15. Dezember 1832 in der Göttinger Akademie der Wissenschaften seine Methode vor, die Intensität der erdmagnetischen Kraft auf ein absolutes Maß zurückzuführen. Die Anzeige davon erschien neun bzw. zwölf Tage später in den Göttinger Gelehrten Anzeigen am 24. und 27. Dezember 1832 (Gauß 1832, 2042):

Die ersten Aufklärungen über die Intensität des Erdmagnetismus verdanken wir Herrn von Humboldt, welcher auf allen seinen Reisen ein Hauptaugenmerk darauf gerichtet und eine sehr grosse Menge von Beobachtungen geliefert hat, aus denen sich die allmähliche Abnahme dieser Intensität, von dem magnetischen Äquator der Erde nach den magnetischen Polen zu, ergeben hat. Sehr viele Beobachter sind seitdem in die Fusstapfen jenes grossen Naturforschers getreten.

Freundliche Worte voller Anerkennung, nur dass kurioser Weise Humboldts Gesetz auf den Kopf gestellt ist: Aus der Zunahme ist eine Abnahme geworden, ein Fehler, der unverändert in den Wiederabdruck in der Werkausgabe übernommen wurde (Gauß 1867, 293)[3]. Humboldt hat diese Anzeige ins Französische übersetzt, wie er Gauß am 17.2.1833 mitteilte (Biermann 1977, 42-46), ohne dass seine Übersetzung in Paris gedruckt wurde, so dass offen bleiben muss, wie er mit dem Fehler umgegangen ist. Im Brief spricht er diesen nicht an, anerkennt jedoch den Fortschritt, den Gauß mit seiner Methode für die Erforschung des Erdmagnetismus erzielt hat, und fügt hinzu (Körber 1958, 4): „Ich träume, daß meine Bitten, die Versuche, die Sie in meinem Hause mit Auffindung der Inclination...gemacht haben mitgewirkt haben zu dem Entschlusse, diesen verworrenen Theil der Physik aufzuklären.“ Gauß hat diesen Traum in seiner Antwort vom 13.6.1833 höflich zurückgewiesen:

Daß die unbedeutenden Versuche, die ich vor 5 Jahren bei Ihnen zu machen das Vergnügen hatte, mich der Beschäftigung mit dem Magnetismus zugewandt hätten, kann ich zwar nicht eigentlich sagen, denn in der That ist mein Verlangen danach so alt, wie meine Beschäftigung mit den exacten Wissenschaften überhaupt, also weit über 40 Jahre.

Humboldt brauchte drei Jahre, um seine Verstimmung über diese Zurückweisung zu überwinden. Aber auch Gauß scheint umgekehrt über Humboldts ‚Traum’ verstimmt gewesen zu sein. Jedenfalls finden sich in seiner 1841 erschienenen Schrift „Intensitas vis magneticae terrestris ad mensuram absolutam revocata“ einige bemerkenswerte Änderungen gegenüber der deutschen Anzeige aus dem Jahre 1832. Dort heißt es nunmehr (Gauß 1841a, 81):

Illustri Humboldt inter tot alias ea quoque laus debetur, quod primus fere huic argumento animum advertit, inque itineribus suis magnam copiam observationum circa intensitatem relativam magnetismi terrestris congessit, e quibus continuum incrementum huius intensitatis, dum ab aequatore magnetico versus polum progredimur innotuit. Permulti physici vestigiis huius naturae scrutatoris insistentes … [Dem berühmten Humboldt schuldet man neben so vielen anderen auch dieses Lob, dass er fast als Erster den Geist auf dieses Thema gelenkt hat und auf seinen Reisen eine große Menge von Beobachtungen zur relativen Intensität des Erdmagnetismus sammelte, aus denen die ständige Zunahme dieser Intensität bekannt wurde, wenn wir vom magnetischen Äquator zum Pol fortschreiten. Sehr viele Naturforscher traten in die Fußstapfen dieses Naturforschers …]

Die Unterschiede habe ich im lateinischen Text durch Unterstreichung gekennzeichnet: Aus den „ersten Aufklärungen“ ist „fast der Erste“ geworden, aus der „sehr großen Menge“ eine „große Menge“ von Beobachtungen, aus dem „großen Naturforscher“ ein „Naturforscher“. Wer möchte hier an Zufall glauben? Die Übersetzungen sind völlig unzuverlässig und machen bezeichnender Weise diese Änderungen nicht mit: Sie lassen „Illustri“ beiseite (Gauß 1841b; 1841c), ebenso „fere“ (Gauß 1841b, 241), verwechseln es mit „fortassis“ (wohl) (Gauß 1841c, 3) oder bleiben gemäß der Anzeige beim „großen“ (Gauß 1841c, 3) oder „so großen“ (Gauß 1841d, 5), weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Noch vor seiner lateinischen Abhandlung über die Intensität der erdmagnetischen Kraft erschien Gaußens „Allgemeine Theorie des Erdmagnetismus“ (Gauß 1839). Humboldt hatte sie mit Hilfe des Mathematikers Jacobi intensiv studiert (Biermann 1971, 102f.). Humboldts große Anzahl magnetischer Beobachtungen aus dem russischen Reich wurden von Gauß erwähnt und in seiner analytischen Theorie verwendet (Gauß 1839, 154-156). Freilich hatte er zu Beginn der Schrift einschränkend gemahnt (Gauß 1839, 122):

Vom höheren Standpunkt der Wissenschaft aus betrachtet ist aber die möglichst vollständige Zusammenstellung der Beobachtungen noch nicht das Ziel selbst. Man hat nur Bausteine, kein Gebäude, solange man nicht die verwickelten Erscheinungen Einem Prinzip unterwürfig gemacht hat... Es ist jedenfalls gut, dies höchste Ziel vor Augen zu haben.

Was sich vielleicht wie eine leise Kritik am Vorgehen Humboldts liest, entsprach in Wahrheit dessen eigener Vorstellung von einem pragmatischen, erfolgreichen Forschungsprogramm. Ja, Gaußens Wortwahl erinnert an das, was Humboldt in seiner Abhandlung über isotherme Linien und Wärmeverteilung auf der Erdoberfläche aus dem Jahre 1817 ausdrücklich gesagt  und in den „Kleineren Schriften“ wenige Jahre vor seinem Tod wiederholt hatte (Humboldt 1817, 20; Humboldt 1853, 207):

Kann man verwickelte Erscheinungen nicht auf eine allgemeine Theorie zurückführen, so ist es schon ein Gewinn, wenn man das erreicht, die Zahlen-Verhältnisse zu bestimmen, durch welche eine große Zahl zerstreuter Beobachtungen mit einander verknüpft werden können, und den Einfluß localer Ursachen der Störung rein empirischen Gesetzen zu unterwerfen. Das Studium dieser Gesetze erinnert die Reisenden, auf welche Probleme sie vorzüglich ihre Aufmerksamkeit zu richten haben.

Die Theorie der Wärme-Verteilung werde in dem Maße an Ausdehnung und Schärfe gewinnen, wie die Beobachtungen vervielfältigt werden. Der fast neunzigjährige Humboldt nahm die metaphorische Sprechweise von den „verwickelten Naturerscheinungen“ mehrfach auf, eine Metaphorik, die ihr Vorbild in Kants „Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ hat: Kant spricht dort von der Auswickelung der Ordnung der Natur nach bestimmten Gesetzen (Kant 1755, 232). Dass Kant in der kurzen Einleitung zum fünften Buch des „Kosmos“ ausdrücklich zitiert wird (Humboldt 1845-1862 V, 8), ist danach offenbar kein Zufall. Humboldts Ziel sei es gewesen, partielle Kausalzusammenhänge zu erforschen. Die allmähliche Zunahme der Verallgemeinerungen seien für jetzt die höchsten Zwecke der kosmischen Arbeiten. Kurz: Noch allzu viele Kenntnisse entzögen sich einer mathematischen Gedankenentwicklung, als dass seine Weltbeschreibung zugleich eine Welterklärung sein könnte. Ein durchaus Newtonischer Gedanke! Hatte es doch Newton im Scholium generale seiner „Principia mathematica“ ebenso abgelehnt, die Gravitation zu erklären, Hypothesen zu ersinnen, und sich programmatisch darauf beschränkt, die Wirkung der Gravitation zu beschreiben. Dementsprechend war Humboldts Ziel die Entdeckung von Gesetzen realer Naturprozesse und das Aufdecken eines Kausalzusammenhanges (Humboldt 1845-1862 V, 9).

4. Alles ist Wechselwirkung

Abb.1: „Geographie der Pflanzen in den Tropen-Ländern; ein Naturgemälde der Anden“, Kupfertafel aus: A. von Humboldt, Ideen zu einer Geographie der Pflanzen usf., Tübingen 1807 (alle Abbildungen: Alexander von Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften/Verf.).
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„Es erfüllte Humboldt stets mit Hochgefühl, wenn etwas gemessen wurde“, heißt es bei Kehlmann anlässlich der französischen Vermessung eines Längengrades (2005, 39). Und etwas später zu Bonplands Ungeduld über Humboldts ständige Messtätigkeit auf dem Weg nach Madrid: „Ein Hügel, von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft und mache ihn unruhig“ (2005, 42). Messen als paranoide Beschäftigung um ihrer selbst willen? Tatsächlich hatte Humboldt am 20. März 1837 gegenüber Johann Gotthelf Fischer von Waldheim bekannt (Handschrift: Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften F. 260, op. 2, Nr. 50, l. 11): „J’ai la fureur des chiffres exactes“ [„Ich bin von exakten Zahlen besessen“]. Seine Schriften und sein Briefwechsel legen von dieser „fureur“ beredtes Zeugnis ab. Ortsbestimmungen, die die geographische Breite und Länge bis zu bestimmten Bogensekunden genau erfassten, Temperaturmessungen mit Zehntelgraden waren keine Seltenheit.

Über Gründe und Zwecke des Humboldtschen Vorgehens ist damit noch nichts gesagt: Hauptgrund für die Gewinnung möglichst vieler, möglichst genauer Messdaten war Humboldts empirischer Induktivismus, seine Überzeugung, dass nur so eine verlässliche Grundlage für das Auffinden von Naturgesetzen und das Ausarbeiten von Theorien gewonnen werden kann. Hauptzweck war, mit Hilfe des Zahlenmaterials funktionale Zusammenhänge aufzudecken, das Bilden von Zahlenverhältnissen, wie es Humboldt nannte, das Zusammenwirken der Naturkräfte zu entschlüsseln. Das Zahlenmaterial stand im Dienste von Humboldts holistischer Weltsicht. Die Werte einer Größe  blieben nicht isoliert, sondern wurden in Beziehung zu anderen Größen gesetzt. Messen war kein Selbstzweck, sondern für das zu gewinnende Weltverständnis unentbehrlich. Zwar ging es nicht wie bei Kepler um das Auffinden eines göttlichen Schöpfungsplans gemäß der „Weisheit Salomonis“ (11, 20), nach der Gott alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hatte. Aber um Schöpfung durchaus: Wenn Kehlmann Humboldt sagen lässt, er habe keine anderen Geheimnisse gesucht als die so offen liegenden Wahrheiten der Schöpfung (Kehlmann 2005, 218), so verwendet er historische zutreffende Begrifflichkeit. Darauf wird noch einzugehen sein.

Anfang August 1803 notierte Humboldt in seinem Tagebuch (Faak 2003a, 358; 2003b, 258): „L’évaporation, causée par la chaleur, produit le manque d’eau et de rivières, et le manque d’évaporation (source principale du froid atmosphérique) augmente la chaleur. Alles ist Wechselwirkung.“ [„Die von der Wärme verursachte Verdunstung bringt den Mangel an Wasser und Flüssen hervor, und der Mangel an Verdunstung (die Hauptquelle der atmosphärischen Kälte) vermehrt die Hitze. Alles ist Wechselwirkung.“] Dieser Ausspruch ist zu Recht berühmt geworden und hat noch jüngst Eingang ins Magazin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz aus dem Jahre 2009 gefunden (Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2009). Sein Kerngedanke, die Verkettung der Naturkräfte, wird besonders deutlich durch Humboldts großartiges Naturgemälde der Anden. Den ersten Entwurf dazu hatte Humboldt nach eigenen Angaben im Februar 1803 im ecuadorianischen Hafenort Guayaquil ausgearbeitet, wo er die Zeit vom 4.1. bis zum 17.2.1803 verbrachte (Humboldt 1807, 72). Während der „Essai sur la géographie des plantes“ seit 1805 in Paris erschien, wurde das Bild erst 1807 als Beilage gestochen. Die deutsche, von Humboldt selbst stammende Bearbeitung des „Essai“ und des „Tableau physique“ erschien 1807 unter dem Titel: „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer, auf Beobachtungen und Messungen gegründet, welche vom 10. Grade nördlicher bis zum 10. Grade südlicher Breite, in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802 und 1803 angestellt worden sind, Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland 1807“.

Das Gemälde - ein Ausschnitt daraus schmückt Kehlmanns Einbandumschlag - ist eine Symbiose aus Text und Bild und zeigt, wie für Humboldt Wissenschaft, Ethik und Ästhetik ein unauflösbares Ganzes bildeten (Ette 2001, 52). Nach eigenem Anspruch (Humboldt 1807, 44) stellte er alle (!) Erscheinungen zusammen, die die Oberfläche der Erde und die jene einhüllende Atmosphäre zwischen 10. Grad nördlicher und 10. Grad südlicher Breite dar. Damit umfasste das Gemälde Natur und menschliche Kultur. Humboldts Erläuterungen gelten dem Profil, das heißt der Kontur des Schnittes, der Geographie der Tropenpflanzen und schließlich den sechzehn Spalten tabellierter Angaben. Der Schnitt durch den höchsten Gipfel der Anden, den Chimborazo (6310m) und den südamerikanischen Kontinent reicht vom Pazifischen bis zum Atlantischen Ozean. Auf der östlichen Seite ist durch eine Unterbrechung die für die Aufzeichnung unvermeidbare Verkürzung dieser Seite der Anden angedeutet. Hinter dem Chimborazo hat Humboldt den zweithöchsten Vulkanberg der Anden, den Cotopaxi (5897m) gezeichnet. Die Höhe des Rauches (über 900m) ist maßstäblich zutreffend eingetragen.

Die Tropenpflanzen hat er in neun Vegetationsstufen eingeteilt. Leben ist, wie Humboldt feststellt, in allen Räumen der Schöpfung verbreitet (Humboldt 1807, 93): Auf die unterirdischen Sporenpflanzen folgen die Palmen und Bananen-Gewächse, Farnkräuter und Fieberrinde bis hin schließlich zu Alpenkräutern, Gräsern und in über 4600 m Höhe Flechten. Die restliche Bergschnittfläche hat er mit den Namen der Pflanzen beschrieben, die in der jeweiligen Höhe wachsen. Die sechzehn Spalten endlich enthalten gleichsam alles, was die Naturlehre damals in Zahlen darbot, wie Humboldt sagte (Humboldt 1807, 102). Alle Erscheinungen werden in ihrer Abhängigkeit von der Höhe numerisch erfasst: Die horizontale Strahlenbrechung; die Entfernung, in welcher Berge auf der Meeresfläche sichtbar sind; Höhenmessungen in verschiedenen Erdteilen; Kultur der Bewohner nach Verschiedenheit der Höhe; Abnahme der Schwere (nach Theorie berechnet); Luftbläue; Abnahme der Feuchtigkeit (berechnete Mittelwerte); Luftdruck (nach Laplacescher Formel berechnet); mittlere Lufttemperaturen; chemische Natur der Atmosphäre (des ‚Luftkreises’); untere Grenze des ewigen Schnees in Abhängigkeit von geographischer Breite; Grundzüge zu einem zoologischen Gemälde (Tiere und Höhe ihres Wohnortes); Siedehitze des Wassers; geognostische Ansicht der Tropenwelt im Vergleich mit europäischen Gebirgen usf. Vier Aspekte verdienen, besonders hervorgehoben zu werden:

 (1) Entwurf als Wagnis

Abb. 2: Vegetationsprofile des Chimborazo, Montblanc und Sulitelma (aus: A. von Humboldt, Atlas géographique et physique.... du nouveau continent, Paris 1814. Tafel 2).
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Humboldt nannte seinen Entwurf eines physikalischen Gemäldes der Äquinoktialländer ein Wagnis (Humboldt 1807, 69). Hatte doch schon Platon das Vertrauen auf den Mythos seiner Erdbeschreibung im “Phaidon“ ein „schönes Wagnis“ (kalòs kíndynos) (Phaidon Kap. 63) genannt. Auch noch sein Alterswerk, den „Kosmos“, wird Humboldt Entwurf nennen, „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“, und zwar wegen des stets unzureichenden Wissensstandes der Naturwissenschaften. Dessen war sich Humboldt stets bewusst.

(2) Zusammenarbeit

Wie der „Kosmos“, so beruhte auch sein Naturgemälde auf einer Zusammenarbeit mit befreundeten Wissenschaftlern. Jean-Baptiste Biot berechnete die Werte für die horizontale Strahlenbrechung und die Schwächung der Lichtstrahlen in der Erdatmosphäre. Jean-Baptiste Delambre steuerte eigene Messungen zum Tableau der Berghöhen bei. Marie Riche de Prony berechnete mehr als vierhundert der Humboldtschen Höhenangaben. Es sind also nicht Messdaten, sondern berechnete numerische Werte.

(3) Natur und Kultur

Im „Kosmos“ will Humboldt Natur- und Geistesgeschichte zusammenführen, will Intellekt und Gefühl, Verstand und Gemüt ansprechen, durch wissenschaftliche Aufklärung den Naturgenuss erhöhen und zum Naturstudium  anregen (Knobloch 2005, 2). Dementsprechend beschränkt sich Humboldt auch beim Naturgemälde nicht auf physikalische Angaben, sondern bezieht die Kultur des Menschengeschlechtes ein.

(4) Holistisches Anliegen

Abb.3: Pflanzengeographie am Pico del Teide, Teneriffa (3718 m), Tafel aus: A. von Humboldt, A. Bonpland, S. Kunth, „Nova genera et species plantarum ... Prolegomena“, Paris 1815. Bei dem im Hintergrund sichtbaren, von Humboldt als Cerro de Yzaña bezeichneten Berggipfel handelt es sich um den später durch astronomische Expeditionen sehr berühmt gewordenen Berggifel Montaña La Guajara (2717 m) am Rande der Cañadas del Teide.
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Sein holistisches Anliegen veranlasst ihn, die Tropenwelt in ständigem Vergleich mit europäischen Gegebenheiten zu sehen, nie das Ganze angesichts der Fülle der Einzeldaten aus dem Auge zu verlieren. Das von Plinius dem Älteren genommene Motto des „Kosmos“ durchzieht die „Ideen“ und prägt das Naturgemälde (Naturalis historia VII,1): „Aber die Kraft und die Großartigkeit der Dinge der Natur entbehren in all ihren Wechseln der Glaubwürdigkeit, wenn jemand im Geiste nur deren Teile und sie nicht als ganze erfasst.“ Bei Kehlmann wird daraus (2005, 117): „Alle großen Ströme seien verbunden. Die Natur sei ein Ganzes.“

Es mindert nicht Humboldts Verdienste um die Pflanzengeographie und die Anfertigung des Naturgemäldes, das er mit seiner dreidimensionalen Zonierung der Vegetation, mit seiner Forschungsmaxime, kein Element der Natur dürfe getrennt vom Rest betrachtet werden, Vorgänger hatte. 1790 nannte er Jean-Louis Giraud-Soulavie den Gründungsvater der Pflanzengeographie (Bourguet 2002, 111). Für den Baron Louis-François-Elisabeth Ramond de Carbonnières fand Humboldt in den „Ideen“ die wärmsten Worte (Humboldt 1807, 94) und widmete die deutsche Bearbeitung dem darüber hoch erfreuten Goethe, der selbst ein Profil 1807  anfertigte, da Humboldts Profil zunächst nicht fertig geworden war. Tatsächlich einte beide die Überzeugung von der Einheit in der Natur, die Neigung zur Botanik. Aber Humboldts von Anbeginn praktizierte instrumentelle Vernunft, die eine allmähliche Vervollkommnung der Naturwissenschaften nur auf eine Vermehrung genauer Beobachtungen und Messungen gründen wollte, entsprach nicht Goethes Herangehensweise.

Ein Naturgemälde, das seinen Namen den zahlreichen numerischen, physikalischen Daten verdankte, hat Humboldt nicht nochmals veröffentlicht, wohl aber Vegetationsprofile, die wiederholt auch den Chimborazo betrafen. Den 1815 erschienenen „Einleitenden Vorbemerkungen über die Einrichtung des Werkes und die geographische Verteilung der Pflanzen entsprechend der klimatischen Beschaffenheit und der Höhe der Berge“ (Humboldt 1815a) war ein farbiger Kupferstich „Grundlinien der Pflanzengeographie“ (Geographiae plantarum lineamenta) beigegeben (Neudruck in Dobat 1985, 192): Er verdeutlicht für den Chimborazo und Popocatepetl sowie die europäischen Bergmassive des Montblanc, Montperdu und Sulitelma die Temperaturabhängigkeit der Pflanzen in horizontaler (vom Äquator zum Nordpol) und vertikaler (vom Meeresniveau bis zur Vegetationsgrenze) Erstreckung. Humboldts „Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau continent“ erschien in den Jahren 1814 bis 1838 in Paris. Die Tafeln 2 (1817) „Tableau physique des Iles Canaries, Géographie des Plantes du Pic de Ténériffe“ (Abb. 3., Neudruck in Dobat 1985, S. 188 f.) und 9 (1825) „Voyage vers la cime du Chimborazo, tenté le 23 Juin 1802 par Alexandre de Humboldt, Aimé Bonpland et Carlos Montúfar“ (Neudruck in Dobat 1985, S. 186 f.) ahmen das berühmte Vorbild dadurch nach, dass die Bergrücken mit den Namen der dort wachsenden Pflanzen beschrieben sind.

5. Methoden, Zwecke

„Hier gebe es keine frühe oder späte Stunde, murmelte Humboldt. Hier gebe es nur Arbeit, und die werde getan“ (Kehlmann 2005, 15). Die Reaktion des Kehlmannschen Humboldt auf den Versuch von Eugen Gauß, deren späte Ankunft zu entschuldigen, eines workaholics, der kein Schlafbedürfnis kannte. Eine Schilderung, die dem historischen Humboldt durchaus nachempfunden ist. Das eine betraf seine glückliche, körperliche Konstitution, ohne die er kaum seine beiden großen Reisen nach Lateinamerika und durch Russland so unbeschadet überstanden hätte. Das andere war kein blinder Aktionismus, sondern methodisch wohlüberlegte, von einem Zweck geleitete Tätigkeit. Er war von unstillbarer Wissbegierde getrieben, im lateinischen Sprachgebrauch von „curiositas“, die sich bei Humboldt als „curiosité“ wieder findet (Humboldt 1814-1825 I, 320; Ette 1991, 256f.). Insofern liegt ein tieferer Sinn in dem Umstand, dass ausgerechnet die Leopoldina mit dem Motto „Numquam otiosus“ [„Niemals müßig“], den erst 23jährigen Humboldt als erste Akademie zum Mitglied gewählt hat, die heutige deutsche Nationalakademie. Sie bezeichnete sich ja als „Academia naturae curiosorum“, als „Akademie der auf die Natur Wissbegierigen“, „Akademie der Naturforscher“, wie sich ja Humboldt selbst oft bezeichnet hat: naturaliste (Humboldt 1814-1825 I, 223; Ette 1991, 216), physicien et géologue (Humboldt 1837, 29).

Abb. 4: Zusammenstellung geographischer Breiten und mittlerer Temperaturen (Tabelle adaptiert nach: A. von Humboldt, Von den isothermen Linien und der Verteilung der Wärme auf dem Erdkörper, Kleinere Schriften Bd.1, Stuttgart und Tübingen 1853. S. 247, 249).
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Die Gründer der Leopoldina nannten sich Argonauten, setzten wissenschaftliche Forschung und Seefahrt einander gleich, eine auch sonst beliebte Metapher (Müller 2008, 22f.). Einer der wirklichen Argonauten war Lynkeus, berühmt wegen seiner scharfen Augen. Ihm hat Goethe mit dem Türmer im „Faust“ (2. Teil, 5. Akt, Vers 11288f.) ein Denkmal gesetzt: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“. Humboldts Lebensmaxime war, sich durch Reisen die Welt anzusehen, durch ein sehr bewusstes, durchdachtes Beobachten des natürlichen Geschehens. Er verband auf diese Weise die drei möglichen Weltzugänge Denken, Handeln, Anschauen. Diese kamen im Begriff Wissen zusammen, so wie es in Schleiermachers Dialektik-Vorlesungen deutlich wurde (Zachhuber 2008, 185).

Während die Komponenten Handeln und Anschauen damit deutlich sind, ist die Komponente Denken in Humboldts methodischem Vorgehen zu suchen, um Naturgesetze aufzudecken. Wie leitet man aus der Menge der Daten ein empirisches Gesetz ab, wie Humboldt Gesetze nannte, die er seinen beobachteten oder berechneten Werten entnahm? Sein Bekenntnis zur Methode der Mittelwerte zieht sich wie ein roter Faden durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Zum Zusammenhang zwischen Deklination der Sonne und dem Beginn äquatorialer Regengüsse hieß es schon 1818 (Humboldt 1818, 190): „...pour découvrir les lois de la nature, il faut, avant d’examiner les causes des perturbations locales, connaître l’état moyen de l’atmosphère et le type constant de ses variations.“ [„... um die Naturgesetze zu entdecken, muss man, bevor man die Ursachen der lokalen Störungen prüft, den mittleren Zustand der Atmosphäre kennen und den konstanten Typ seiner Veränderungen.“]. Dementsprechend heißt es in seinem Alterswerk, dem „Kosmos“ (Humboldt 1845-1862 I, 82): Bei allem Beweglichen und Veränderlichen im Raume seien mittlere Zahlenwerte der letzte Zweck, ja der Ausdruck physischer Gesetze. Sie zeigen uns das Stetige im Wechsel und in der Flucht der Erscheinungen. Der Fortschritt der neueren messenden und wägenden Physik sei vor allem durch Erlangung und Berichtigung mittlerer Werte gewisser Größen bezeichnet. So träten wiederum, wie einst in der italischen Schule – gemeint sind die Pythagoreer -  doch in erweitertem Sinn, die Zahlen als Mächte des Kosmos auf (Böhme 2001, 19 Anm. 8).

Im vierten Buch des „Kosmos“ spricht er von der „einzig entscheidenden Methode“ (Humboldt 1845-1862 IV, 288). Auf diese Weise hat er den Zusammenhang zwischen dem Funkeln von Fixsternen und ihrer Höhe über dem Horizont, zwischen Klima und Zahl der Sonnenflecken, zwischen Sternschnuppen und Meteorfällen, die Richtung des magnetischen Meridians, vor allem die Linien gleicher mittlerer Jahrestemperatur, die von ihm sogenannten „Isothermen“, untersucht bzw. gefunden (Humboldt 1845-1862 III, 88, 403, 602; IV, 33). Ist die Kenntnis zu unvollständig, will sagen ist die numerische, empirische Grundlage zu gering, wie im Fall des Vulkanismus, kann die Methode noch nicht angewandt werden (Humboldt 1845-1862 IV, 288). Entscheidend ist, dass die Mittelbildung die Gesetze hervortreten lässt. Mit anderen Worten: Naturerkenntnis ergibt sich nicht unmittelbar wie der Naturgenuss, sondern wird über Zahlen vermittelt. Der Name der Methode darf nicht verwirren: Es geht nicht um das arithmetische Mittel – im Sinne einer Schätzfunktion – als wahrscheinlichsten Wert einer bestimmten, mehrfach gemessenen konstanten Größe. So hatte Gauß 1809 ursprünglich die Methode der kleinsten Fehlerquadratsummen begründet. Es geht um die Veränderung einer variablen Größe an einem Ort in einem Zeitraum. Es geht um das Erkennen des Gesetzes, das der Änderung zugrunde liegt, wenn man Mittelwerte homogener Daten verschiedener Orte im gleichen Zeitraum miteinander vergleicht. Ziel ist das Aufdecken von Zusammenhängen, von empirischen Gesetzen, wenn man Zahlenpaare – Humboldt spricht von Zahlenverhältnissen – etwa von geographischer Breite und mittlerer Temperatur zusammenstellt. Dies lässt sich besonders gut an Humboldts Studien zur Wärmeverteilung auf der Erde veranschaulichen (Humboldt 1817, 44, vgl. Abb. 4):

Humboldt kombiniert zunächst mittlere Temperaturen des Jahres, von Jahreszeiten oder Monaten mit geographischen Breiten. Die methodische Entscheidung, zu mitteln, sagt noch nichts darüber aus, welche und wie viele Werte gemittelt werden sollen. In der zitierten Abhandlung erörtert Humboldt ausführlich Möglichkeiten und Grenzen der Methode.

Abb. 5: Karte der Isothermen (Tafel aus: A. von Humboldt, „Des lignes isothermes et de la chaleur sur le globe“, Mém. phys. chim. de la société d‘Arcueil, Vol. 3, Paris 1817. S. 462-602).
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Sie genügt zum Beispiel nicht, um die Anteile der verschiedenen Ursachen für die gemessenen Temperaturen zu offenbaren. Er misst täglich die minimale und die maximale Temperatur, von denen angenommen wird, dass sie bei Sonnenaufgang und um 14 Uhr auftreten. Er mittelt also zweimal 365 oder 730 Wärmemessungen im Jahr. Die Dauer der einzelnen Temperaturen gehen – anders als im Falle von etwa drei täglichen Messungen – in die Rechnungen nicht ein. Ausdrücklich beansprucht er, das einfache arithmetische Mittel angewandt zu haben, ohne irgendeine Hypothese über die Wärmeabnahme zugrunde gelegt zu haben. Ein Verfahren, das deutlich an Francis Bacons Forderung erinnert, theoriefreie Datenanalyse zu betreiben. Hatte sich doch Humboldt schon 1797/98 zu Bacon bekannt (Dettelbach 2001, 141). Freilich bleibt ein weiterer Aspekt zu beachten. Da die Lufttemperatur mit der Höhe der Atmosphäre abnimmt, dürfen mittlere Temperaturen von Orten nicht miteinander vermischt werden, die nicht auf demselben Niveau liegen. Humboldt reduziert deshalb die Mittelwerte auf den Meeresspiegel, um den Einfluss des Reliefs der Erdoberfläche auszuschließen. Jetzt endlich kann er gleiche mittlere Jahreswerte durch eine Kurve miteinander verbinden (Humboldt 1817, 19, vgl. Abb. 5). Das Bild lässt sofort die Ordnung in der kaum überschaubaren Datenfülle hervortreten:

1. Die Isothermen sind nicht zu den Breitenkreisen parallel, sondern schneiden diese.

2. Die Lage der relativen Minima und Maxima einer Isotherme im Koordinatensystem aus geographischen Breiten und Längen ist von der Länge abhängig.

6. Reisen, Natur, Gesetze

Während Gauß größere Reisen nach Möglichkeit vermied, verschmolzen bei Humboldt Reisen und Forschen zu einer notwendigen, unauflösbaren Einheit. Sein Tagebuch wie das gewaltige Reisewerk, das er nach seiner Rückkehr aus Lateinamerika verwirklichte, bezeugen, in welchem kaum vorstellbaren Maße dies während der Amerikareise der Fall war. Seine Pariser Bekannte Elizabeth de Pommard sprach von Humboldts „maladie centrifuge“ [„zentrifugalen Krankheit“] (Moheit 1993, 246; 1999, 182).       Humboldt war stets zugleich Forscher und Ästhet. Sein Naturstudium sollte zugleich dem Naturgenuss dienen. Wie aber nahm er Natur wahr, dieses Resultat des stillen Zusammenwirkens eines Systems treibender Kräfte? (Humboldt 1845-1862 IV, 16)

(1) Sie ist allbelebt (Humboldt 1807, 147). Wohin der Blick des Naturforschers dringe, sei Leben oder Keim zum Leben verbreitet (Humboldt 1806, 23, 24, 26). Ewig entsprieße neues Leben aus dem Schoße der Natur (Humboldt 1849, 143). Humboldt spricht durchaus von Geschöpfen, von Schöpfung. Nur ist nicht Gott der Urheber, sondern die schaffende, beständig zeugende Natur (Humboldt 1849, 143), die scholastische natura naturans.

(2) Sie ist frei (Knobloch u.a. 2009, 86, 183). Aus dem freien Spiel dynamischer Kräfte (Humboldt 1807, 71) gehe das Gleichgewicht hervor, das unter den Perturbationen scheinbar streitender Elemente herrsche. Natur schmücke den Boden der Freiheit mit Pflanzenformen (Humboldt 1807, 101). Kurz: Sie ist das Reich der Freiheit (Humboldt 1845-1862 I, 9), wie Humboldt in der Tradition Buffons, Rousseaus, Bernardin de Saint-Pierres oder Georg Forsters schrieb. Er meinte damit durchaus auch eine versteckte, politische Aussage (Böhme 2001, 28).

(3) Sie ist wundervoll, schön, groß, oft furchtbar, stets wohltätig (Humboldt 1807, 71, 147), sorgsam (Humboldt 1807 65), wild, gigantisch (Humboldt 1814-1825 I, 36). Kein Zweifel: Humboldt verwandte ästhetische und moralische Kategorien, um die Natur zu charakterisieren, spricht vom Zauber (Humboldt 1845-1862 II, 90), vom Zauberbild der Natur (Humboldt 1806, 37), von prachtvollen Naturerscheinungen (Humboldt 1807, 145).

(4) Die Naturkräfte betreiben ein geheimes Spiel (Humboldt 1807, 66), dem der Naturforscher nachspüren muss (Humboldt 1807, 77). Diese geheimnisvollen Kräfte regen das Werk der Schöpfung an (Knobloch u.a. 2009, 268). Sie unterliegen ewigen Gesetzen, sie bringen kein Chaos hervor, zerstören nicht die Stabilität. Das gesamte System oszilliert um einen mittleren Gleichgewichtszustand (Knobloch u.a. 2009, 276). Humboldts Lebensziel war, diese dauerhafte Ordnung wenigstens ein Stück weit aufzudecken, wenigstens die großen Gesetze der Natur (Knobloch u.a. 2009, 274), „rerum naturalium causas atque leges inquirere“ [die Ursachen und Gesetze der natürlichen Dinge zu erforschen]  (Humboldt 1815a, XVIII).

Je nach Bedeutung des Naturbegriffs war die Natur gegenüber den waltenden Gesetzen handelnde Instanz oder ausgeliefertes Objekt, war Ordnung stiftende Kraft oder geordnete Erscheinung, natura naturata. In den „Einleitenden Vorbemerkungen zur geographischen Verteilung der Pflanzen gemäß der mittleren Beschaffenheit des Klimas und der Höhe der Berge“ treten beide Bedeutungen dicht hinter einander auf: „Natura enim plantas aeternae legis imperio sub unaquaque zona dispertivit“ [„Denn die Natur hat die Pflanzen der Herrschaft eines ewigen Gesetzes unter jeder einzelnen Zone zugeteilt“] (Humboldt 1815a, XIII). Natur als Ordnungsmacht, die die Herrschaftsgebiete der Gesetze zuteilt. So ist die allmähliche Verbreitung der Pflanzen an bestimmte physische Gesetze gebunden (Humboldt 1806, 26; Humboldt 1849, 178), die nicht überall zu gelten brauchen (Humboldt 1815a, LI; 1815b, 236). Nun sind Pflanzen Dinge der Natur. Deshalb kann Humboldt unter Umkehrung der Machtverhältnisse wenig später formulieren: „Disquisitiones istae ex Arithmetica botanica petitae leges nobis patefecerunt, quarum imperio natura in quavis zona subjecta est“ [„Jene aus der botanischen Arithmetik entnommenen Untersuchungen haben uns die Gesetze aufgedeckt, deren Herrschaft die Natur in einer beliebigen Zone unterworfen ist“] (Humboldt 1815a, XVII). Natur in diesem Sinn ist Untertan der Gesetze. Vor diesem Hintergrund bemerkt Kehlmanns Gauß (2005, 220), die wahren Tyrannen seien die Naturgesetze. Woraufhin sein Humboldt erwidert: Aber der Verstand forme die Gesetze; Positionen, die weder der historische Gauß noch der historische Humboldt so vertreten haben.

An methodologischen Bemerkungen hat es dieser freilich in seinen Werken nicht fehlen lassen: „Fieri non potest, ut uno obtutu universam naturam recte consideremus nisi prius singula solerter tractaverimus.“ [„Es kann nicht geschehen, dass wir mit einem einzigen Blick die gesamte Natur richtig betrachten, wenn wir nicht das Einzelne zuvor kunstfertig behandelt haben“] (Humboldt 1815a, LVIII; 1815b, 247). Auf den „obtutus“, den eigenen Blick aber kam es Humboldt entscheidend an. Nahm er doch für sich in Anspruch, sein Wissen hauptsächlich der unmittelbaren Anschauung der Welt zu verdanken. Warf er doch genau diesen Mangel Buffon vor, dass jenem die eigene Ansicht der Tropenwelt fehlte, die er zu beschreiben glaubte (Humboldt 1845-1862 I, 66). Freilich durfte die Naturforschung nicht beim Einzelnen stehen bleiben: „Is demum est verus finis omnis perscrutationis naturae, ut a singulis ad universa nos tollamus“ [„Erst das ist das wahre Ziel jeder Naturforschung, dass wir uns vom Einzelnen zu Gesamtheiten erheben“] (Humboldt 1815a, L; 1815b, 235). Der Umweg über das Einzelne war methodisch unvermeidbar, blieb aber nur Mittel zum Zweck. Und genau deshalb sprach der knapp neunzigjährige Humboldt von seiner großen Neigung zu Verallgemeinerungen (1845-1862 V, 6). Diese Kernaussage Humboldtscher Wissenschaftstätigkeit geht in Kehlmanns Roman vollständig unter.

Abb. 6: Weltkarte „Typus Orbis Terrarum“ von Abraham Ortelius. Wiedergabe nach: „America, Das frühe Bild der Neuen Welt“, Ausstellungskatalog der Bayerischen Staatsbibliothek München, Prestel Verlag, München 1992, S. 81. Die dortige Abbildungsvorlage stammt aus der Ausgabe Antwerpen 1579, Signatur: 2O Mapp. 131. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Staatsbibliothek München, 2010).
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Am Anfang der Humboldtschen Naturforschung stand danach die Weltbetrachtung. Ja, er sprach vom Schauspiel der Tropenwelt (Humboldt 1845-1862 I, 14). Die Welt als Theater, als Schaubühne! Diese Metapher hat dem enthusiastischen Forschungsreisenden gefallen. Kein Wunder, dass er das einflussreiche „Theatrum orbis terrarum“ des Antwerpener Kosmographen Abraham Ortelius (1527-1598) aus dem Jahre 1570 in seiner Entdeckungsgeschichte des neuen Kontinents gern und oft herangezogen hat (Humboldt 2009a).  Der ortelische „Typus orbis terrarum“ [„Bild des Erdkreises“] war von der zweiten Auflage an mit lateinischen Sinnsprüchen zur Bestimmung des Menschen geschmückt (Abb. 6). Humboldt kannte diese, da er die Ausgaben von 1570 und 1601 zitierte (Humboldt 2009b, Abb. 45/Ausgabe von 1570, Abb. 49/Ausgabe von 1587).

Die Sprüche waren Schriften Ciceros und Senecas des Jüngeren entnommen. Sie verherrlichen die vita contemplativa als die einem stoischen Philosophen gemäße Lebensform. Der Kosmo- und Kartograph half also dem Menschen, sich seiner eigentlichen Bestimmung zu widmen. So heißt es im oberen rechten Emblem nach Ciceros Schrift De natura deorum [„Über die Natur der Götter“]  II, 37: „Equus vehendi causa, arandi bos, venandi et custodiendi canis, homo autem ortus ad mundum contemplandum“, [„<Die Erde zeugt> das Pferd des Reitens wegen, den Ochsen des Pflügens wegen, den Hund des Jagens und Bewachens wegen. Der Mensch aber ist zur Betrachtung der Welt geboren.“]. Die Weltkarte vermittelte ein Bild der Welt, ein Weltbild auf einen Blick. Dementsprechend seufzt Seneca im unteren rechten Emblem „Epistulae morales“ 89,1: „Utinam quemadmodum  universa mundi facies in conspectum venit, ita philosophia tota nobis posset occurrere.“ [„Wenn uns doch nur so, wie das gesamte Antlitz der Welt in den Blick kommt. die ganze Philosophie gegenübertreten könnte <als ein der Welt sehr ähnliches Schauspiel>“]. Recht verstanden sprach Cicero Humboldts Lebensmaxime aus, sich durch Reisen die Welt anzusehen, freilich nicht passiv wie ein Stoiker, sondern aktiv, nicht durch Betrachten einer Karte, sondern der Wirklichkeit. Die aber – wir hörten es – erschloss sich nicht einem einzigen Blick, eine Feststellung, die Humboldts methodisches Herangehen an die Naturforschung entscheidend beeinflusste. Seine Reisen bürgten für das Prinzip der Autopsie. Hier hat die überragende Rolle der Optik bei Humboldt ihre Wurzel. Davon zeugen die gern verwendeten Titelbestandteile wie „Ansichten“, „Vues“, die Anfertigung von Gemälden, Tableaux, Atlanten. Davon zeugt seine begriffliche Trennung zwischen individueller Naturbeschreibung und allgemeiner Naturbeschreibung oder Physiognomik der Natur (Humboldt 1806, 29; 1849, 182), die jedem Himmelsstrich ausschließlich zukomme (Humboldt 1845-1862 II, 92). Davon zeugen schließlich die vielen optischen Metaphern, wonach die Mathematik zum Raum durchdringenden Fernrohr wird (Humboldt 1845-1862 II, 355), zum geistigen Auge, das den Neptun sah, bevor der Planet mit dem Fernrohr entdeckt wurde (Humboldt 1845-1862 II, 211).

Epilog

„Diesmal war er trunken vor Enthusiasmus“, sagt Kehlmann über seinen Humboldt anlässlich der französischen Längengradvermessung (Kehlmann 2005, 39). Zu Aimé Bonpland, der wenig begeistert Humboldts Orinoco-Pläne anhört, lässt Kehlmann Humboldt sagen: “Sei etwas Enthusiasmus zuviel verlangt?“ (Kehlmann 2005, 77). Tatsächlich hatte Humboldt an den deutsch-baltischen Kunsthistoriker Baron Alexander von Rennenkampf 1812 über seine Pläne zu einer Russlandreise geschrieben (Knobloch u.a. 2009, 59): Er kenne kein Wort der russischen Sprache, aber er werde sich zum Russen machen, wie er sich zum Spanier gemacht habe. „Tout ce que j’entreprends je l’exécute avec enthousiasme“ [„Alles, was ich unternehme, führe ich mit Begeisterung aus.“]. Der Enthusiast, griechisch „enthousiastés“, ist eine inspirierte, von einer Gottheit erfüllte Person. Wer war danach der Gott, von dem Humboldt erfüllt war? Die Antwort scheint mir in Humboldts Schreiben an den russischen Finanzminister Cancrin vom 10. Januar 1829 zu liegen, das er kurz vor seiner Russlandreise verfasste. Sein Bruder rate ihm zu, heißt es da, „weil er fühlt dass mein eigentlicher Wirkungskreis das Reisen, das Leben in der freien Natur ist“ (Knobloch u.a. 2009, 86).

Danksagung

Ich danke Frau Anne Jobst und Frau Regina Mikosch (BBAW) für die Herstellung von digitalen Reproduktionen der Abbildungen 1-6.

 

 

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Zitierweise

Knobloch, Eberhard (2012): Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß – im Roman und in Wirklichkeit. In: HiN - Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (Potsdam - Berlin) XIII, 25, S. 63-79. Online verfügbar unter <http://www.uni-potsdam.de/u/romanistik/humboldt/hin/hin25/knobloch.htm>

Permanent URL unter <http://opus.kobv.de/ubp/abfrage_collections.php?coll_id=594&la=de>


 

[1]  Süddeutsche Zeitung vom 12.8.2009, S. 1.

[2]  siehe auch die Kehlmann-Rezension von Ivo Schneider in Mitt. Gauß-Ges. 43, S. 67-69 (2006).

[3]  Weder Gauß noch Humboldt sprechen von einer Komponente  der Intensität, sondern ausdrücklich von der Intensität schlechthin. Gauß‘ Aussage wäre nur richtig, wenn er die horizontale Komponente der Totalintensität gemeint hätte, ohne dies zu sagen: Die Totalintensität nimmt von den Polen (ca. 0,6 Gauß) zum Äquator (ca. 0,3 Gauß) ab (Fischer-Lexikon Geophysik, 1960, S. 108). - Gauß hat den Fehler vor dem Wiederabdruck seiner Anzeige in den Astronomischen Nachrichten 10, 1833, S. 349-360 berichtigt. Den Hinweis darauf verdanke ich meiner Frau Karin Reich.

 

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Letzte Aktualisierung: 20. November 2012 | Kraft
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