Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 12. Januar 2011
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HiN - Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien (ISSN: 1617-5239)

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Ilse Jahn

Die anatomischen Studien der Brüder Humboldt unter Justus Christian Loder in Jena

Einleitung

Die folgende Publikation ist eine der frühen Schriften Ilse Jahns über Alexander von Humboldt und zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten. Hier beschrieb sie eine wichtige Zeitetappe im Leben des jungen Naturwissenschaftlers Alexander von Humboldt: seine Studien während seiner Aufenthalte in Jena im Jahr 1797 bei Justus Christian Loder (1753-1832), der seit 1778 Professor der Medizin, Anatomie und Chirurgie an der Universität von Jena war.

Nach seinen naturwissenschaftlichen und kameralistischen Studien in Frankfurt/Oder, Göttingen, Hamburg und Freiberg in Sachsen hatte Humboldt 1792 eine Anstellung als Assessor im preußischen Bergdienst angetreten, die er bis Ende 1796 innehatte. Während dieser Zeit beschäftigte er sich außerdem mit wissenschaftlichen Studien. Insbesondere versuchte er, durch galvanische Experimente (darunter auch schmerzhafte Selbstversuche), dem Geheimnis der Lebenskraft, einem damals hochaktuellen Thema, auf die Spur zu kommen. In dem Zusammenhang wurde sein erster Besuch 1794 bei seinem Bruder Wilhelm in Jena, einem wichtigen Zentrum der fortschrittlichen und durch die Aufklärung geprägten Wissenschaften jener Zeit, zu einem Schlüsselerlebnis für den jungen Forscher. Besonders Humboldts dritter Aufenthalt dort im Jahre 1797 war von der intensiven Arbeit gemeinsam mit Goethe und Loder geprägt. Bei letzterem hatte sein Bruder Wilhelm bereits 1794 anatomische Vorlesungen gehört.

Im Leben Alexander von Humboldts fällt dieser Aufenthalt bereits in eine neue Phase. Er hatte nach Beendigung seiner Anstellung im Bergdienst und begünstigt durch das Erbe, das ihm nach dem Tod seiner Mutter 1796 zugefallen war, den Entschluss gefasst, eine große Forschungsreise zu unternehmen. Nun orientieren sich seine Interessen an diesem neuen Ziel: der wissenschaftlichen Vorbereitung dieser Reise. Auch deshalb intensivierte er seine anatomischen Studien bei Loder: die Teilnahme an Anatomievorlesungen und an einem Präparierkurs wurde 1797 seine Hauptbeschäftigung, wie er mehrfach in Briefen betonte (siehe unten, S. 95). Für Alexander von Humboldt, der zwei Jahre später zu seiner berühmten Amerikareise aufbrechen sollte, hatte dieser Aufenthalt also ebenso wie die in derselben Phase stattfindenden kleineren Reisen oder seine Beschäftigung mit Messinstrumenten einen prägenden Einfluss auf seine künftige Forschungskonzeption, die durch die Betonung von Experiment, Erfahrung und Vergleich gekennzeichnet ist. So wandte er beispielsweise in seinem Werk über seine galvanischen und chemischen Experimente „Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser“ bereits die für ihn später typische komparatistische Methode an. Der erste Band des Buchs, das er selbst sein „physiologisches Werke über den Lebensprocess“ nannte, erschien ebenfalls 1797 und war beeinflusst durch die physiologischen Experimente in dieser Phase.

Ilse Jahn beleuchtete in dem vorliegenden Text die scientific community der Jenaer Klassik, in der vielseitig gebildete Größen der Kulturgeschichte gemeinsam intensive naturwissenschaftliche Studien trieben, praktische Experimente durchführten und Schlussfolgerungen diskutierten. Nicht nur wegen der besonderen fachlichen Zusammenarbeit und gegenseitigen Befruchtung ist die Schilderung von Interesse, sondern auch, weil diese Forschertätigkeit beispielhaft den zu der Zeit in den Naturwissenschaften, insbesondere in Biologie und Physiologie, stattfindenden paradigmatischen Wandel, die Emanzipation von der allgemeineren Naturkunde, beleuchtet. Hervorzuheben ist im folgenden Text ebenfalls die Betonung der gemeinsamen Tätigkeit, jedoch unterschiedlichen Blickrichtung der beiden Brüder, die ja sonst in der Literatur eher selten gemeinsam betrachtet oder verglichen werden.

Die Beschäftigung der Autorin mit der Thematik der Zusammenarbeit und gegenseitigen Beeinflussung, aber auch der unterschiedlichen Ansichten und Methoden, die sie hier am Beispiel Loder, der Brüder Humboldt und Goethe darlegte, zog sich wie ein roter Faden durch ihre verschiedenen Arbeiten über Alexander von Humboldt bis zu der mehr als 30 Jahre später von ihr initiierten Leopoldina-Tagung „Das Allgemeine und das Einzelne – Johann Wolfgang von Goethe und Alexander von Humboldt im Gespräch“. Hier trafen sich 1999 in Halle Experten der Goethe- und Humboldt-Editionen zu einem fruchtbaren Meinungsaustausch. Wie Ilse Jahn betonte, ging es „um die wissenschaftliche Kommunikation selbst, um den Erfahrungsaustausch und den wissenschaftlichen Meinungsstreit [...] also gleichsam [...] um ein Ideal der akademischen Gemeinschaft.“ (Acta Historica Leopoldina, Bd. 38, S. 173) Von diesem Ideal legt nicht nur das gemeinsame Experimentieren in Jena 1797, sondern ebenso jene großartige Tagung 200 Jahre später, und, nicht zuletzt, die lange Zusammenarbeit Ilse Jahns mit der A.-v.-Humboldt-Forschungsstelle Zeugnis ab.

Der verständliche und auch stilistisch angenehm lesbare Text, der bis heute nicht seine Aktualität eingebüßt hat, wird ohne zusätzliche Anmerkungen oder Erläuterungen mit der originalen Seitenzählung wiedergegeben. Lediglich kleinere Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.

Ulrike Leitner

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Die Universität Jena stand auf dem Gipfel ihres Flors; das Zusammenwirken von talentvollen Menschen und glücklichen Umständen wäre der treuesten, lebhaftesten Schilderung wert. Fichte … Woltmann … die Gebrüder von Humboldt waren gegenwärtig, und alles der Natur Angehörige kam philosophisch und wissenschaftlich zur Sprache …[1]

So schrieb Goethe in seinen Tag- und Jahresheften über das Jahr 1797 und vermittelt damit einen Eindruck von der Atmosphäre des Ortes und der Zeit, in die meine Betrachtungen führen sollen.

Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zeigten sich auch im Jenaer Gelehrtenkreis neue naturwissenschaftliche Strömungen: J. A. Göttling experimentierte in seinem chemischen Laboratorium ab 1789 im Sinne der antiphlogistischen Chemie, der Botaniker J. A. G. C. Batsch hatte mit Hilfe Loders die Emanzipierung der Botanik von der Medizin erreicht und 1793 eine Naturforschende Gesellschaft ins Leben gerufen, in deren Laboratorien ebenfalls brennenden wissenschaftlichen Fragen nachgegangen wurde, wie z. B. dem Galvanismus. Schon seit 1778 aber hatte Justus Christian Loder nicht nur den anatomischen Unterricht reformiert, sondern überhaupt in der medizinischen Fakultät Neuerungen gegen seine konservativen Kollegen Nicolai und Gruner durchgesetzt. Durch Loder versuchte Goethe bekanntlich damals „dem Geist der Aufklärung an der Universität Einlaß zu verschaffen“[2]. Diese Bestrebungen erhielten neue Unterstützung, als Wilhelm von Humboldt im Februar 1794 seinen Wohnsitz von Erfurt nach Jena verlegte. Damit wurde zugleich auch für seinen Bruder Alexander, der seit 1792 Oberbergmeister in Franken war, Jena zum wissenschaftlichen Zentrum. Er beschäftigte sich damals vor allem mit Pflanzenphysiologie und -anatomie und mit galvanischen Experimenten. Schon ab 1794 entwickelte sich jenes gemeinsame Forschen, über das Goethe schrieb:

Alexander von Humboldt, längst erwartet, von Baireuth kommend, nöthigte uns ins Allgemeinere der Naturwissenschaft. Sein älterer Bruder, gleichfalls in Jena gegenwärtig, ein klares Interesse nach allen Seiten hinrichtend, theilte Streben, Forschen, Unterricht. Zu bemerken ist, daß Hofrath Loder eben die Bänderlehre las, den höchst wichtigen Theil der Anatomie: denn was vermittelt wohl Muskeln und Knochen als die Bänder? Und doch war durch eine besondere Verrücktheit der medicinischen Jugend gerade dieser Theil vernachlässigt. Wir genannten, mit Freund Meyern, wandelten des Morgens im tiefsten Schnee, um in einem fast leeren anatomischen Auditorium diese wichtige Verknüpfung auf’s deutlichste nach dengenauesten Präparaten vorgetragen zu sehen.“[3]

/S. 92/

Diese Schilderung bezieht sich auf das Wintersemester 1794. Am 6. November 1794 hatte – nach seinen Tagebuchnotizen – Wilhelm von Humboldt die Anatomie begonnen[4], und zwar keineswegs nur sporadisch, sondern konsequent. In seinem Brief an Friedrich August Wolff vom 22. Dez. 1794 heißt es:

Ich habe angefangen, hier Anatomie bei Loder zu hören, und das raubt mir den ganzen Vormittag von 9 Uhr an. So leid es mir indeß auch manchmal um diese Stunden thut, so sehr interessiert mich doch das Studium, und auf dem Wege, den ich einmal eingeschlagen hatte, war es mir unentbehrlich. Auch ist es im Grunde ja nur dieß eine halbe Jahr. Hernach kann ich es mit Gemächlichkeit treiben, um nicht zu vergessen, oder es sogar für mich selbst weiterzubringen[5].

Daß Wilhelm es nicht bei einem Semester bewenden ließ, sondern menschliche Anatomie damals intensiver trieb als sein Bruder, kann man den spöttischen Bemerkungen Alexanders entnehmen, der am 5. Juni 1795 an Samuel Thomas Sömmerring schrieb, Wilhelm treibe „praktische Anatomie mit kannibalischer Wuth“[6], oder an den Berliner Arzt Herz: „Wilhelm lebt und webt in den Cadavern. Er hat sich einen ganzen Bettelmann gekauft und (wie Göthe ihm schreibt) frißt menschliches Gehirn“[7].

Daß diese für einen Geistesgelehrten etwas sonderbaren Studien mit einer bestimmten Zielsetzung geschahen, ist sicher. Eine Andeutung davon gibt Alexander, der nochmals an den Anatomen Sömmerring schrieb:

Wilhelm treibt fast nichts als praktische Anatomie und (wie Loder meint) secirt und präparirt er sehr geschickt. Er treibt es, um zu sehen, was man daraus für Psychologie nicht lernen könne. Das hätte er kürzer in Ihrem trefflichen Abschnitt übers Hirn im 5ten Bande, den ich unaufhörlich studire, gehabt …[8].

Diese intensiven Studien fanden in Wilhelm von Humboldts Werk nur indirekten Niederschlag. Sie waren zweifellos deshalb durchgeführt worden, um jene ersten Beiträge für die neu gegründete Schillersche Zeitschrift „Die Horen“ zu gestalten. In den Aufsätzen „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur“ und „Über die männliche und die weibliche Form“[9] sind Erkenntnisse verarbeitet, die im anatomischen Theater Jena unter den Augen Loders gewonnen worden waren. Diesen Hinweis gibt Alexander in seinem 1797 erschienenen Werk „Über die gereizte Muskel- und Nervenfaser“, indem er die bei gemeinsamen Arbeiten empfangene Anregung in seiner Weise wiedergibt:

Wer recht viel Frösche secirt, oder den Geschlechtscharakter derselben, wenigstens in der Begattungszeit, aus ihren Händen bestimmen kann, wird die Behauptung, dass die weiblichen Frösche reizbarer, als die männlichen sind, auf Experimente gegründet finden, die nicht, wie manche chemische, a priori oder ex anticipatione mentis angestellt sind … Ueberhaupt wäre es interessant, den wundersamen Geschlechtsunterschied durch die ganze organische Natur physiologisch zu verfolgen, und nicht, wie bisher in der Naturbeschreibung geschieht, blos in der Configuration gewisser Theile aufzusuchen…[10].

Auch für das Pflanzenreich fordert er das und zitiert dann die beiden Abhandlungen seines Bruders in den „Horen“.

/S. 93/

Dort schrieb Wilhelm in dem zweiten Aufsatz nämlich: „Auf ähnliche Weise, als hier, wenn gleich nur in den ersten Grundzügen, beym Menschen geschehn ist, liesse sich eine Physionomik aller Thiergattungen entwerfen …“ Doch müsse man zwei Klippen vermeiden, nämlich

1. … nicht blossen Grillen zu folgen, sondern überall, an der Hand der Naturgeschichte, von dem eigentlichen Körperbau, insofern er auf die Gestalt Einfluß hat, auszugehen; 2. dem Begriff der innren Vollkommenheit des Geschöpfs … auf diese physiognomische Beurtheilung seiner Gestalt keinen Einfluß zu verstatten, und es sich anfangs wenigstens nicht stören zu lassen, wenn auch vollkommenere Thiere in Absicht ihrer Gestalt einen niedrigeren Platz erhielten, oder umgekehrt. Von dem Thierreich dürfte man hernach den Uebergang zu den Pflanzen um vieles erleichtert finden …[11].

Die völlig von Alexander verschiedene Blickrichtung Wilhelms bei den anatomischen Übungen und sein eigentümliches Bestreben würde erst die Gesamtlektüre dieser Aufsätze deutlich machen; es drängt sich in dem Satz zusammen: „... die äußere sinnliche Gestalt der Gegenstände giebt ihm [dem Forscher] einen Spiegel in die Hand, in welchem sein Auge ihre innere Beschaffenheit erblickt“[12].

Einen weiteren Niederschlag dieser gemeinsamen Studien bei Loder kann man zweifellos auch in Goethes „Naturhistorischen Studien“ finden. Unter dem Titel „Eingeweide des Frosches“ stellte Goethe in Tabellenform die anatomischen Unterschiede eines männlichen und weiblichen Frosches gegenüber[13].

Die von den Freunden behandelten Fragen ordnen sich klar in die Zeitströmung ein. Wenige Jahre zuvor erst waren grundlegende Werke von Sömmerring über die Unterschiede der männlichen und weiblichen Anatomie und zur Gehirn- und Nervenanatomie erschienen, die viele Bezüge zur Psychologie enthalten. Recht symptomatisch ist es auch, wie stark sich die Diskussionen über künstlerische, ästhetische, pädagogische Probleme, wie sie durch Schiller aufgeworfen und in den „Horen“ dargestellt wurden, damals auf die naturwissenschaftlichen bzw. medizinischen Strömungen orientierten. Wilhelm von Humboldt hatte wohl Schillers Absicht bei Gründung der Zeitschrift aufgegriffen, die darin bestehen sollte, einmal „die Resultate der Wissenschaft von ihrer scholastischen Form zu befreyen“ und andererseits „auf dem Schauplatze der Erfahrungen nach neuen Erwerbungen für die Wissenschaft auszugehen“ und somit „zu Aufhebung der Scheidewand beyzutragen, welche die schöne Welt von der gelehrten zum Nachtheile beyder trennt, gründliche Kenntnisse in das gesellschaftliche Leben, und Geschmack in die Wissenschaft einzuführen“[14].

Ganz andere Ziele verfolgte Alexander von Humboldt, der regelmäßig aus dem fränkischen Gebirge nach Jena geritten kam und an den Sektionen teilnahm. Für ihn waren die anatomischen Studien zunächst nur Mittel, um seine Objekte für die galvanischen Versuche zu präparieren. Die Frau des Professors Ilgen, in dessen Haus in Jena die Humboldts eine zeitlang wohnten, schrieb später: „Des Alexanders erinnere ich mich nur mit Elektrisiermaschinen und galvanischen Säulen in Verbindung; damit sah ich ihn stets beschäftigt“[15]. Eine seiner wichtigsten

/S. 94/

Entdeckungen auf diesem Gebiet, die Rolle von Flüssigkeiten als elektrische Leiter, machte er an Versuchen, die er schon im April 1795 gemeinsam mit Wilhelm und mit Goethe anstellte[16]. Seine unterschiedlichen Bestrebungen kommen auch darin zum Ausdruck, daß er – wie er schreibt – „mit belebten Organen“ experimentiert und „immer unter neuen, und unerkannten Bedingungen“[17], seine Fragestellung mithin vergleichend physiologisch, nicht anatomisch oder morphologisch war. Zum Zwecke galvanischer oder chemischer Experimente präparierte er eine große Anzahl von Tieren aller Klassen, und seine Absichten führten mehr zu Methoden der „Vivisektion“.

Goethe kennzeichnete Alexanders Forschungsrichtung, indem er am 18. Juni 1795 an ihn schrieb: „Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen von der Gestalt ausgehen, so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen“[18].

Es ist bekannt und in Goethes Briefen und Tagebüchern wiederholt zum Ausdruck gekommen[19], daß die durch die beiden Brüder Humboldt ab 1794 intensiv betriebenen anatomischen Studien der Anlaß wurden, daß Goethe seinen ersten Entwurf zu einer vergleichenden Osteologie niederschrieb, nachdem dieselben ihn zur Fixierung seiner Ideen gedrängt hatten. So notierte Goethe u. a. über das Jahr 1795:

Alexander von Humboldts Einwirkungen verlangen besonders behandelt zu werden. Seine Gegenwart in Jena fördert die vergleichende Anatomie; er und sein älterer Bruder bewegen mich, das noch vorhandene allgemeine Schema zu dictiren …[20].

Von der gegenseitigen Anregung profitierte auch Alexander, der in dem Muskelfaserwerk schon 1797 Goethes Absichten publiziert:

Bei so langer Beschäftigung mit Froschschenkeln hat mich die Neugierde einmal angetrieben, alle Muskeln desselben mit meinem Freunde, Herrn Keutsch, sorgfältig zu präpariren. Welche Uebereinstimmung mit dem Menschen! Welche Ähnlichkeit der Organisation in Formen, die so weit von einander abzustehen scheinen. Ein Frosch hat nicht blos seinen Sartorius, vastus internus und externus und semimembranosus, sondern auch selbst den versteckten, beim Menschen bisweilen fehlenden subcruralis. So ist der thierische Stoff fast überall nach einem Typus geformt. Bei dem einen Thiere ist oft nur angedeutet, was der Gebrauch in dem andern deutlich ausbildet. Dieses noch ganz unbebaute Feld der Zoonomie hat sich einer reichen Erndte zu erfreuen, wenn Herr von Göthe sich einmal entschliesset, seine mit so vieler anatomischen Gründlichkeit bearbeiteten Fragmente über die Knochenbildung, und allgemeine Metamorphose im Thierreiche dem Publicum mitzuteilen[21].

Dieses Sektionsergebnis Alexanders von Humboldt dürfte erst vom Frühjahr 1797 stammen[22]. Denn erst zu dieser Zeit, nach Abschluß seines physiologischen Werkes und nach Beendigung seines Bergbeamtendienstes  folgte Alexander dem Beispiel seines Bruders und begann mit einem regelrechten Präparierkurs bei Loder. Jetzt nämlich nahmen die Pläne zu einer Tropenreise feste Gestalt an und forderten wissenschaftliche Vorbereitung. So teilte er im April 1797 seinem Freiberger Freund mit, er lebe nun seit dem 1. März in Jena und sei recht eigentlich in ein Studenten-

/S. 95/

leben zurückgekehrt.

Da ich mich zu meiner westindischen Reise jezt sehr ernsthaft vorbereite und mich dort vorzüglich mit den organischen Kräften abzugeben gedenke, so ist Anatomie jetzt mein Hauptstudium. Ich höre bei Loder ein Privatissimum, präparire selbst täglich 2 St. am Cadaver und bin so täglich fast 6-7 St. auf dem anatomischen Theater …[23].

Auch an Schuckmann berichtet er zur gleichen Zeit, er sei jetzt mit Lernen und Ordnen des Gelernten beschäftigt.

Ich muß gewaltig arbeiten, um mich so zu rüsten, als ich es vorhabe ... Freilich kann ich nicht existiren, ohne zu experimentiren, aber der eigentliche Zweck meines Treibens ist es jezt nicht ... Anatomie ist meine Hauptbeschäftigung. Ich habe, so lange es kühler war, meist täglich 5-6 Stunden beim Cadaver zugebracht. Loder ist sehr kopflos, aber man lernt das Mechanische gut …[24].

Durch eine mehr zufällige Entdeckung greift jetzt Alexander auch Probleme der von Sömmerring dargestellten Gehirnanatomie auf. „In dem Wasser der Hirnhöhlen“, so schreibt er im Muskelfaserwerk,

habe ich auf dem anatomischen Theater zu Jena, eine eigene Substanz entdeckt, welche eine nähere Untersuchung verdiente. Ich sammelte diese Feuchtigkeit aus den Ventriculis tricornis bei einem senkrechten Durchschnitte durchs Hirn eines sehr frischen männlichen Cadavers[25].

Diese Entdeckung hat ihn offensichtlich sehr gefesselt, denn unmittelbar danach schrieb er am 14. Mai 1797 an Schuckmann:

Über das Sömmeringische Seelenorgan, das Hirnwasser, habe ich eine chemische Arbeit angefangen, die wichtig werden kann. Denken Sie, dies Wasser, welches (wenn auch die Seele nicht darin schwimmt) doch gewiß eine sehr wichtige Flüssigkeit ist, giebt eine Erscheinung, welche von allen andern der thierischen Säfte verschieden ist. Wenn man das Hirnwasser ruhig stehen läßt, so fallen von selbst säulenförmige Kristalle daraus nieder, die nicht phosphorsaurer Kalk sind[26].

Alexander führte diese Untersuchungen aber offenbar nicht weiter. Schon am 30. Mai 1797 verlassen die Humboldts Jena auf viele Jahre, zunächst, um über Dresden, Wien nach Paris zu reisen. Aus Wien tritt Alexander von Humboldt ein Jahr später nochmals mit Loder in Verbindung, für dessen Journal er Beiträge geliefert hatte. Am 1. April 1798 schrieb er ihm:

Alles, was Sie von Jena und sich sagen, interessirt mich noch eben so lebhaft als sonst. Wie soll ich Ihnen ausdrükken, welchen wohlthätigen Einfluß jener Unterricht auf mein ganzes Studium geäußert, wie mir jezt erst manche physiologische Idee zur Klarheit gelangt ist, da ich weiß, wie die Organe gestaltet sind. Liefere ich jezt etwas Besseres, so ist das Ihr Werk! Aber welch ein glücklicher Zufall, daß gerade das verflossene Jahr so reich an Leichen war, da das jezige sich so kärglich zeigte. Ich kann mir denken, daß Sie dieser Umstand sehr mißmuthig machen muß. Indes Jena verlassen – um Himmels willen – denken Sie daran nicht! Vergessen Sie doch nie, was Sie an dem Orte gestiftet, wie Sie sich Ihrer Schöpfung freuen müssen. Es giebt nur einen Fall, in dem ich es Ihnen verzeihe, Jena zu verlassen, weil Ihre Würksamkeit dadurch

/S. 96/

gewiß vergrößert wird, und dieser Fall wird bald eintreten. Auf Hallers Lehrstuhl wünsche ich Sie zu sehen. Ihre Erfindung, Präparate gleichsam in lebendige Kupfer zu verwandeln, ist sehr glücklich und nachahmungswerth. Sie sollten darüber und über Ihre vergrößerten Zeichnungen... die mir unendlich nüzlich waren, gelegentlich ein Wort öffentlich sagen. Es geht mit diesen Dingen wie mit Columbus’ Ei …[27].

In diesen Sätzen kommt wohl nicht nur Schmeichelei zum Ausdruck. Noch viele Jahrzehnte später, als Loder wie auch Goethe bereits 25 Jahre lang tot waren, und sein Bruder Wilhelm fast ebenso lange, erinnerte sich der 89Jährige – aus Anlaß der Einladung der Universität Jena zu ihrem 300jährigen Bestehen – besonders an diesen Unterricht, als er am 10. August 1858 an Richard und Robert Keil schrieb:

Jena, das ich in seinem höchsten geistigen Glanz besuchte, um ernstere anatomische praktische Studien als Vorbereitung zu meiner amerikanischen Expedition zu machen …, ist mir durch Erinnerungen ein Lichtpunkt auf dem nur zu langen Lebenspfade geblieben …[28].


 

[1] J. W. v. Goethe, Tag- und Jahreshefte. Goethes Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. I, Bd. 35, S. 89.

[2] E. Giese und B. von Hagen, Geschichte der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jena 1958.

[3] J. W. v. Goethe, Tag- und Jahreshefte. Goethes Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. I, Bd. 35, S. 32-33.

[4] Wilhelm von Humboldt, Tagebuchnotizen von 1794. In: Gesammelte Werke. Hrsg. v. A. Leitzmann, Bd. 14, Berlin 1916, S. 245 f. Anmerkung Leitzmanns über Wilhelm v. Humboldts anatomische Studien, vgl. Ges.-Werke Bd. 7, 2. Teil, S. 580.

[5] Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Werke, Bd. 5. Berlin 1846, S. 118.

[6] Für die A. v. Humboldt-Briefedition der Dt. Akad. d. Wissenschaften zu Berlin vom Fr. Dt. Hochstift, Frankfurt/a. M., freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

[7] Brief vom 15. 6. 1795, in: Carl Robert Lessings Bücher- und Handschriftensammlung. Hrsg. v.... Gotthold Lessing, Bd. 2. Berlin 1915, S. 112.

[8] Brief vom 29. 6. 1795 (vgl. Anm. 6).

[9] Die Horen. Hrsg. v. Friedrich Schiller. Bd. I, St. 2 (1795), S. 99-132, bzw. Bd. I, St. 3, S. 80-103 und St. 4, S. 14-40.

[10] Friedrich Alexander von Humboldt, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser ... Bd. 1. Posen und Berlin 1797. S. 24 f.

[11] Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und die weibliche Form. In: Die Horen, Bd. I (1795) St. 3, S. 99 f.

[12] Wilhelm von Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur. In: Die Horen, Bd. I (1795) St. 2, S. 102.

/S. 97/

[13] J. W. v. Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft (Leopoldina-Ausgabe), I. Abt., Bd. 10, Weimar 1964, S. 194-195.

[14] Die Horen. Bd. I (1795), St. 1, S. V (Vorrede, dat. 10. Dez. 1794).

[15] Heinrich Laube, Moderne Charakteristiken. Bd. I. Mannheim 1835. S. 367.

[16] A. v. Humboldt, Vers. üb. Muskel- und Nervenf., Bd. I, S. 76-77.

[17] Ebenda, Bd. 2, S. 122.

[18] Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdern Humboldt. Hrsg. v. F. Th. Bratranek. Leipzig 1876. S. 310.

[19] Vgl. auch Brief Goethes an Fr. H. Jacobi vom 2. 2. 1795, in: Goethes Werke (Weimarer Ausg.), Abt. II, Bd. 10, S. 231, und J. W. v. Goethe, Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie. Jena, Jan. 1795. In: Die Schriften zur Naturwiss. (Leopoldina-Ausgabe), I. Abt., Bd. 9. Weimar 1954, S. 119 und „Nachträge“, ebenda S. 179.

[20] J. W. v. Goethe, Tag- und Jahreshefte, in: Goethes Werke (Weimarer Ausg.), Abt. I, Bd. 35, S. 45 bis 46.

[21] A. v. Humboldt, Vers. üb. Muskel- u. Nervenf., Bd. 2, S. 284-285.

[22] Vgl. auch J. W. v. Goethe, Naturhistorische Studien. In: Die Schriften zur Naturwiss. (Leopoldina-Ausgabe), Abt. I, Bd. 10, Weimar 1964, S. 195, sowie Goethes Tagebücher, in: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. III, Bd. 2 vom 9. März 1797: „Anatomie der Frösche“.

[23] Brief an Carl Freiesleben vom 18. 4. 1797. Für die A.-v.-Humboldt-Briefedition der Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin von Herrn Dr. H. C. Freiesleben, Hamburg, dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

[24] Karl von Holtei, Fünf Briefe A. v. Humboldts an Freiherrn von Schuckmann. In: Westermann’s Jahrb. d. Ill. Dt. Monatshefte. 18. 1865, S. 257-259.

[25] A. v. Humboldt, Vers. üb. Muskel- u. Nervenf., Bd. 2, S. 122.

[26] Vgl. Anm. 24.

[27] Nach einer Abschrift in der Landesbibl. Dresden. Nachlaß K. A. Böttiger, Bd. 93, 2.; über Loders Weggang von Jena und sein weiteres Schicksal vgl. Heinrich v. Knorre, Justus Christian Loder in Moskau. In: Wiss. Zeitschr. d. Friedr.-Schiller-Univ. Jena. Jg. 7 (1957/58). Math.-Nat.-Reihe, S. 419-447.

[28] Robert Keil, Jena. Zum 75jährigen Burschenschaftsjubiläum. In: Vom Fels zum Meer. Spemann’s Ill. Zeitschr. f. d. Deutsche Haus, Jg. 10, Stuttgart 1890/91, Bd. 1, S. 12.

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Letzte Aktualisierung: 01 November 2010 | Kraft
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