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Alexander von
HUMBOLDT im NETZ
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III,
4 (2002)
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Ottmar Ette (Potsdam)
»... daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein«
Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika *
1. Preußen als Problem
1981 schrieb der bekannte, noch in Preußen geborene und 1938 vor den Nationalsozialisten ins englische Exil emigrierte renommierte Publizist Sebastian Haffner, niemand könne sich heute, "auch mit dem größten Aufgebot an Phantasie" nicht, "eine Lage vorstellen, in der Preußen wieder zum Leben erstehen könnte"[1]. Die "Wiedervereinigung Deutschlands" sei "vorstellbar, wenn auch im Augenblick unerreichbar", die "Wiedergeburt Preußens" aber nicht. Denn Preußen, so Haffner bündig, sei "tot, und Totes kann nicht ins Leben zurückgerufen werden"[2].
Bemerkenswert an diesen Ausführungen ist nicht so sehr, daß ein Kenner der politischen Szene in der alten Bundesrepublik eine Wiedervereinigung Deutschlands zwar prinzipiell für möglich, zu Beginn jenes Jahrzehnts, an dessen Ende der Fall der Berliner Mauer stehen sollte aber noch für unerreichbar hielt. Derlei Überzeugungen entsprachen dem common sense im Westen wie im Osten und beruhten auf der Nachkriegserfahrung einer Zementierung des Ost-West-Gegensatzes, der das politische Magnetfeld weltweit beherrschte und in einer Trennlinie mit Todesstreifen zum Ausdruck brachte, die nur wenige Meter vom Ort dieser Tagung entfernt verlief. Weitaus aufschlußreicher ist die Verknüpfung einer gänzlich unerreichbar scheinenden Wiedervereinigung Deutschlands mit einer völlig ausgeschlossenen Wiedergeburt Preußens, mithin jenes Staates, der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs 1947 definitiv für aufgelöst erklärt worden war. Preußen war längst in Deutschland aufgegangen, die Erklärung grenzte daher - wie Haffner betonte - an "Leichenschändung"[3], war doch ein preußischer König in einer wohlinszenierten Reichsgründung zum deutschen Kaiser avanciert.
Dieses in der Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal zu Versailles extraterritorial und in Siegerpose inszenierte Aufgehen, das - trotz der Beibehaltung des Namens - zugleich in mehr als einer Hinsicht ein Untergehen war, geschah lange bevor die nationalsozialistische Propaganda ihren Preußen-Mythos (mit der gefährlichen und wirkmächtigen Figuraldeutung preußischer und deutscher Geschichte verkörpert in der Linie von Friedrich dem Großen über Bismarck und Hindenburg zu Hitler) für militaristische und menschenverachtende Zwecke mißbrauchte, um damit zur eigenen Legitimation ganz bestimmte Traditionen dieses untergegangenen Staates im öffentlichen Bewußtsein zu halten. Die figurale Deutung der preußisch-deutschen Geschichte wie des Deutschtums hat in Preußen stets ein reiches Betätigungsfeld gefunden, schienen Preußens Entwicklung und Charakter doch für nicht wenige Geschichtsschreiber jene des späteren Deutschland als geschichtliche Figura[4] vorwegzunehmen. Hierin mag ein Grund liegen, warum die Geschichte Preußens gerade nach der »Wiedervereinigung« Deutschlands so viele Menschen in ihren Bann zieht: Denn in ihrer geschichtlichen Gegenwart[5] als Figura kann sie schlechterdings gar nicht »tot« sein. Die potentielle Wirkmächtigkeit des Preußenbildes ist daher als Faktor künftiger deutscher Geschichte nicht zu vernachlässigen; um so wichtiger scheint es folglich, dieses Bild des preußischen Staates sorgfältig zu rekonstruieren und die nationalsozialistischen Inszenierungen des Preußen-Mythos zu dekonstruieren. Diese Aspekte gilt es insbesondere bei geplanten Rekonstruktionen historischer Bauwerke zu beachten, die derlei Aufführungen als Kulisse dienten, soll die Kraft figuraler Geschichtsdeutung - längst jenseits aller christlichen Heilsversprechen - nicht naiv unterschätzt werden. Die nationalsozialistische Inszenierung des sogenannten »Tages von Potsdam« am 21. März 1933, bewußt auf den Tag der Eröffnung des ersten Reichstags 1871 durch Bismarck gelegt, sollte eine historische Kontinuität vorgaukeln, die von der Wahl des Ortes für eine "pseudokirchliche politische »Eheschließung«"[6] zwischen dem Reichskanzler Adolf Hitler und dem in preußischer Generalfeldmarschalluniform erschienenen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg wesentlich unterstrichen wurde: die Potsdamer Garnisonskirche, die "Ruhmeshalle der preußisch-deutschen Armee"[7] und zugleich Grabstätte der Preußen-Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II.
Vor dem Hintergrund einer so symbolträchtigen Szenerie erscheint es als folgerichtig, wenn zehn Jahre nach Sebastian Haffner und nach der mittlerweile erfolgten sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands Christian Graf von Krockow anläßlich seiner »Rede zur Heimkehr der Könige nach Potsdam am 17. August 1991« gleich im Eingangssatz betonen mußte: "An Preußen scheiden sich die Geister. Und sie scheiden sich an Friedrich, so als verkörpere er, und nur er allein, den umstrittenen Staat."[8] Es überrascht daher nicht, daß der Historiker, wie Haffner gebürtiger Preuße, im Bewußtsein eines fundamental veränderten politischen Umfelds, das andernorts kaum mit solcher Wucht zu spüren war wie gerade in Potsdam und Berlin, schon im Vorwort sich der Frage "Wird Preußen denn auferstehen?" stellen mußte, um sie - als bedürfe es dringend dieser Beruhigung - sogleich zu verneinen: "Natürlich nicht."[9] Im Bewußtsein einer unvorhergesehen und ungeheuer in Bewegung gekommenen Geschichte ließ er freilich dieser unmißverständlichen Verneinung sogleich den vorsichtigen Hinweis auf Veränderungen folgen, die - wie etwa die Wiederauferstehung des Landes Brandenburg - vor wenigen Jahren noch nicht vorstellbar gewesen seien.
Wiederum zehn Jahre später hielt der Ministerpräsident eben dieses Landes Brandenburg, Manfred Stolpe, im Grußwort zu der im alten Kutschstall zu Potsdam, dem neuen »Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte« ausgerichteten und vor wenigen Tagen, am 11. November 2001, zu Ende gegangenen Ausstellung 'Marksteine. Eine Entdeckungsreise durch Brandenburg-Preußen fest':
Die Regentschaft preußischer Könige war eher kurz im historischen Vergleich. Dennoch hat sie Deutschland unübersehbar geprägt. Das ist eine Tatsache, egal, ob sie gefällt oder nicht. An Preußen scheiden sich die Geister. Es weckt widersprüchliche Emotionen, spricht nicht selten eher den Bauch als den Kopf an. Preußen wird bewundert und kritiklos verehrt, beargwöhnt und gar gehaßt.[10]
Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts hat eine ungeheure Flut unterschiedlichster Formen der Beschäftigung mit Geschichte und Bedeutung Preußens eingesetzt, zu der auch unser Berliner Symposium »Preußen und Lateinamerika« zu zählen ist. Ohne den Fall der Berliner Mauer wäre eine derart intensive Auseinandersetzung mit Preußen nicht denkbar, und das Thema hält in der Tat nicht nur viele überraschende Entdeckungen sondern auch viele Emotionen bereit, die sich mit der Frage des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verknüpfen. So haben - um nur ein Beispiel herauszugreifen - die mit der Geschichte und Kultur Lateinamerikas wohlvertrauten und in Berlin lebenden Hans-Otto Dill und Gerta Stecher 1995 'Die unernste Geschichte Brandenburgs' vorgelegt, in deren »Prolog« notwendig auch die Frage der Fusion von Berlin und Brandenburg und der »Wiedervereinigung« thematisiert werden mußte:
Berlin, zwar ebenso rohstofffrei, aber ein Standort als solcher, sucht wieder mal Anschluß. Daher soll Brandenburg, nach der Rezeptur der deutschen Wiedervereinigung, die klar ein Schuß in den Ofen war, an Berlin angeschlossen werden.[11]
Daß sich daraus eine Sicht der Geschichte entwickelt, die »Ossis« und »Wessis« als »Wenden« und »Germanis« figural in alle Vergangenheit und Zukunft projiziert, ist eher komisch als überraschend, macht uns aber ebenso wie die bereits genannten Stellungnahmen darauf aufmerksam, daß das polemische Potential Preußens und Brandenburgs heute bei weitem nicht erschöpft ist. Was aber die »ernsthafte« Geschichte angeht[12], so ist auffällig, daß die Themenstellung »Preußen und Lateinamerika« zwar keineswegs singulär ist oder gar aus dem Rahmen fällt, im Kontext der Aktivitäten der neunziger Jahre wie innerhalb des Preußen-Jahres 2001 aber eine Besonderheit darstellt. Denn die sich lange vor dem Fall der Berliner Mauer ankündigende enge Verknüpfung der Geschichte Preußens mit der Frage der Vereinigung beider deutscher Staaten hat den Blick eingeengt auf die spezifisch deutsche oder bestenfalls (mittel-) europäische Dimension dieser Fragestellung.
Gewiß: Es gab Bemühungen, Preußen und Brandenburg auch in einem weltweiten Zusammenhang zu begreifen. So enthält beispielsweise der bereits erwähnte Katalog zur Ausstellung 'Marksteine' einen Abschnitt, der unter dem Titel »Brandenburg und die Welt« fünf verschiedene Themengebiete auflistet. Diese gelten den Themen »Nachrichten aus aller Welt: Neuruppiner Bilderbogen«, »Leopold von Buch: Der bedeutendste deutsche Geologe seiner Zeit«, »Eisenkunstguß am Nil - die Gießerei Lauchhammer«, »Patente weltweit - Lehmann-Spielzeug aus Brandenburg an der Havel« sowie »Henry Berger - Vater der hawaiianischen Musik«[13]. Damit werden zwar im einzelnen durchaus interessante Themenstellungen behandelt, insgesamt aber ergibt sich jener Eindruck, den innerhalb einer Zeitung die Rubrik »Vermischtes« hinterläßt: interessante, aber eher marginale Aspekte ohne eigentliche Bedeutung und Zusammenhang. Damit zeichnet die Ausstellung im alten Kutschstall zu Potsdam gewollt oder ungewollt nur den Diskussionsverlauf und den Rahmen nach, innerhalb dessen das Thema Preußen und Brandenburg noch immer fast ausschließlich diskutiert wird. Preußen wird kaum in einer globalen Dimension, selten von »außerhalb« und praktisch nie aus außereuropäischem Blickwinkel gesehen, eine überraschende Tatsache: Denn Preußen hatte in seiner unmittelbaren Vorgeschichte unter dem »Großen Kurfürsten« durchaus (karibische) Ambitionen als Kolonialmacht, war im 18. Jahrhundert zu einer europäischen Großmacht aufgestiegen und hatte im 19. Jahrhundert mit weltweiten Handelsbeziehungen und trotz aller Rückschläge seine Stellung neben Frankreich, England, Österreich und Rußland insgesamt weiter ausgebaut. Aus der ganzen Welt kamen Reisende nach Preußen, die über diesen Staat berichteten, einzelne Aspekte seines Erziehungs- oder Militärwesens, seines Wirtschafts- oder Universitätssystems genauer unter die Lupe nahmen und zum Teil auf ihre Herkunftsländer zu übertragen suchten. Die latent vorhandene Emotionalisierung der Fragestellung aus »deutschem« und »landesgeschichtlichem« Blickwinkel scheint deren Provinzialisierung geradezu notwendig zur Folge zu haben: Die Perzeption Preußens erwies sich entgegen aller Erwartungen, die man hegen durfte, im sogenannten »Preußen-Jahr« als ungeheuer eingeschränkt.
Vor diesem Hintergrund scheint es an der Zeit, das Preußenbild unserer Tage nach seinen geschichtlich erklärbaren Lücken zu befragen und nicht vorrangig an jenen Topoi und Diskurselementen auszurichten, die in geradezu bedrückender Weise vorherrschen und immer wieder perspektivisch um die »deutsche Frage« kreisen. Der auf Preußen und Brandenburg gerichtete enorme Reflexionsbedarf läßt es am Beginn eines neuen Jahrhunderts als unumgänglich erscheinen, das oftmals allzu schwarz-weiße Preußenbild nicht nur zu entemotionalisieren, sondern vor allem zu entprovinzialisieren. Dazu kann die Beschäftigung mit Alexander von Humboldt einen wichtigen Beitrag leisten.
* Schriftliche Fassung des Vortrags gehalten am 30.11.2001 im Rahmen der Tagung "Preußen und Lateinamerika im Spannungsfeld von Kommerz, Macht und Kultur" am Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz zu Berlin.
[1] Haffner, Sebastian: Preußen ohne Legende. Bildteil von Ulrich Weyland. Fotos von Peter Thomann. München: Wilhelm Goldmann Verlag 1981, S. 22.
[2] Ebda.
[3] Ebda., S. 21.
[4] Vgl. zur Technik der Figuraldeutung Auerbach, Erich: Figura. In (ders.): Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Herausgegeben von Fritz Schalk und Gustav Konrad. Bern - München: A. Francke Verlag 1967, S. 55-93.
[5] Vgl. zu diesem Begriff Heidegger, Martin: Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den »Humanismus«. Bern: Francke Verlag 1954, S. 30.
[6] Wernicke, Thomas: Der Tag von Potsdam. In: Marksteine. Eine Entdeckungsreise durch Brandenburg-Preußen. Eröffnungsausstellung des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte 18. August - 11. November 2001. Teil der Gemeinsamen Landesausstellung Berlin und Brandenburg PREUSSEN 2001. Berlin: Henschel Verlag 2001, S. 437.
[7] Ebda.
[8] Krockow, Christian Graf von: Die Pflicht und das Glück. Rede zur Heimkehr der Könige nach Potsdam am 17. August 1991. In (ders.): Preußen - eine Bilanz. Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt 1992, S. 11.
[9] Ebda., S. 7.
[10] Stolpe, Manfred: Grußwort. In: Marksteine, a.a.O., S. 12.
[11] Dill, Hans-Otto / Stecher, Gerta: Die unernste Geschichte Brandenburgs. Leipzig - Rostock: Weymann-Bauer Verlag 1995, S. 10.
[12] Zu Recht weisen Gerta Stecher und Hans-Otto Dill darauf hin, daß "so ernst wie die wahre Geschichte des Landes [...] seine unernste Chronik" ist (ebda.).
[13] Marksteine, a.a.O., S. 373-394.
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