Archivkopie der Website http://www.humboldt-im-netz.de |
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Alexander von
Humboldt heute Prof. Dr. Ottmar Ette (Potsdam) "Ich fand Goethe in einer sehr heiter aufgeregten Stimmung. »Alexander von Humboldt ist diesen Morgen einige Stunden bei mir gewesen«, sagte er mir sehr belebt entgegen. »Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt. Er wird einige Tage hierbleiben, und ich fühle schon, es wird mir sein, als hätte ich Jahre verlebt.« In dieser auf den 11. Dezember 1826 datierten Eintragung Johann Peter Eckermanns tritt uns in den Worten Goethes in doppelter Brechung ein Mann entgegen, der - wie die Rekurrenzen und Schattierungen des Wörtchens "lebendig" zeigen mögen - alles mit Leben erfüllt und nicht zuletzt auch den Dichterfürsten selbst in einer "belebten" und "heiter aufgeregten" Gemütsverfassung zurückläßt. Alexander von Humboldt, der spätestens 1808 Paris zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht hatte und die französische Hauptstadt erst im April des Jahres 1827 verlassen sollte, um sich nach einer längeren Ermahnung seines Königs und einem kürzeren Aufenthalt in London schließlich an einem Maitag jenes Jahres wieder in der preußischen niederzulassen, war sicherlich nicht nur durch die Mannigfaltigkeit seiner Kenntnisse und wissenschaftlichen Erfahrungen, sondern auch durch seine unentwegten Reisen und Exkursionen fürwahr "überall zu Hause". Man mag es dem doch eher seßhaften, in seinem Weimar etablierten Goethe nicht verdenken, daß er die geistige wie räumliche Bewegungslust des 1769 geborenen preußischen Gelehrten und Forschungsreisenden in ein eher statisches Gleichnis eines Brunnens zu überführen suchte. Die vielen Röhren dieses Brunnens, aus denen es uns "erquicklich und unerschöpflich" entgegenströmt, versinnbildlichen die Vielgestaltigkeit der Kenntnisse, zugleich aber auch die Einheit des Humboldtschen Denkens, das sich aus einer Quelle speist, auf einen Ursprung zurückzuführen ist. Wenn wir uns heute - 140 Jahre nach seinem Tod in einem Berliner Mai des Jahres 1859 - fragen, was Figur, Schaffen und Werk Alexander von Humboldts für uns Heutige bedeuten und was sie künftig sein könnten, so sollten wir uns zunächst der Frage stellen, unter welche Röhren dieses in der Tat unerschöpflichen Brunnens die Leser des großen Schriftstellers und darunter auch die Humboldt-Forscher überhaupt Gefäße gestellt haben, welche Form diese Gefäße hatten und ob es nicht doch noch Röhren geben mag, deren lebendiges Naß die Nachgeborenen noch nicht einmal entdeckt zu haben scheinen. Wer also ist Alexander von Humboldt heute, und wer könnte er morgen sein? Im Januar 1823 schreibt Caroline von Humboldt ihrer Tochter, ihr Schwager habe "ganz Berlin in Bewegung" gesetzt. Ein letztes Mal tat er dies am 10. Mai 1859, als eine riesige Menschenmenge seinem von sechs Pferden gezogenen Katafalk folgte und ihm unter Beisein des Prinzregenten Wilhelm, des späteren preußischen Königs und deutschen Kaisers, auf seinem letzten Wege eine Referenz erwies, wie sie im deutschsprachigen Raum weder im 19. noch im 20. Jahrhundert einem Gelehrten zuteil geworden sein dürfte. Längst war Alexander von Humboldt zu einer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Institution und schon zu Lebzeiten nicht ohne eigenes Zutun zu einem Mythos geworden, der sich in gewisser Weise selbst überlebt und vielleicht gerade darum eine Art überzeitliche Größe erreicht hatte. Bereits im Februar 1844, also noch vor Erscheinen des ersten Bandes von Humboldts Kosmos, konnte Varnhagen von Ense amüsiert notieren, daß Carus in Dresden auf die falsche Nachricht von Humboldts Tod sogleich an den Bildhauer Rauch geschrieben habe, er möge sich doch um Humboldts Schädel bemühen, "welchen Brief Rauch dann Humboldten zeigte, der sehr artig erwiderte, für einige Zeit brauche er selber noch seinen Schädel, späterhin stehe er gern zu Diensten". Das Interesse der Nachwelt an Humboldts Kopf ist damit belegt. Es kostete ihn aber nicht denselben, denn Alexander blieb das Schicksal seines Zeitgenossen Goya erspart, dessen Kopf auf der Überführung von Bordeaux nach Madrid unter ebenso ungeklärten Umständen abhanden kam wie jener des Cristóbal Colón, jenes Kolumbus also, der wie der Schöpfer der Caprichos glaubhaften Zeugenaussagen zufolge ohne seinen Kopf in seiner Grabstätte der Auferstehung entgegenzusehen scheint. Es gibt darüber hinaus wohl eine verborgene Verbindung zwischen dem Mythos "unseres Welteroberers" - wie Goethe ihn einmal nannte - und dem von Roland Barthes so meisterhaft entzauberten Mythos vom Gehirn des genialen Einstein, faßte doch auch Humboldts Kopf eine ganz(e) (eigene) Welt. Nicht von ungefähr stellt ihn eine zeitgenössische Lithographie nach einem Aquarell Eduard Hildebrandts 1856 so in seiner Bibliothek sitzend dar, daß sein Kopf und ein ihm symmetrisch gegenüberstehender Globus die Zentralachse einer an Anspielungen überreichen Darstellung nicht nur eines Gelehrtenzimmers, sondern mehr noch eines Gelehrtenlebens bilden. Die Assozzierung von Erdkugel und Kopf, die sich in der Humboldt-Ikonographie immer wieder (wenn auch bislang weitgehend unbemerkt) findet, mag uns daran erinnern, daß Alexander von Humboldt in den Augen seiner Zeitgenossen zwar stets der Forschungsreisende blieb, daß das Bild des jungen Humboldt aber zunehmend von dem des großen Gelehrten und der grauen Eminenz am preußischen Hofe und in der internationalen Gelehrtenrepublik überlagert wurde. In dem großartigen Gemälde von Julius Schrader aus dem Todesjahre Humboldts verbinden sich beide Bilder ein letztes Mal in einer freilich schon nicht mehr verlebendigenden, sondern bereits monumental erstarrten Weise. Es war Humboldts ureigenster Wunsch gewesen, noch einmal in einer meisterhaften Inszenierung einer Schreib-Szene vor dem Hintergrund der Nevados von Chimborazo und Cotopaxi dargestellt zu werden und damit jene beiden Bildtraditionen zusammenzuführen, welche die Rezeption Alexander von Humboldts auch nach seinem Tode beherrschen sollten. Über dieser Ikone wissenschaftlicher Gelehrsamkeit ist oft genug vergessen worden, daß Humboldt nicht nur ein Gelehrter war, der über ein weltweites Korrespondentennetz verfügte und damit an eine spätestens seit Raynal bestehende Tradition der französischen Aufklärung anknüpfte. Wir dürfen ihn darüber hinaus als einen Intellektuellen avant la lettre begreifen - die moderne Deutung dieses Begriffs entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der Dreyfus-Affäre in Frankreich -, der nicht nur zu wissenschaftlichen Zwecken an den Fäden dieses über lange Jahrzehnte geknüpften Netzes lustvoll zupfte. Wir können in der gerade auf diesem Gebiet nicht eben reichen Geschichte des deutschsprachigen Raumes in Alexander von Humboldt jenen großen Intellektuellen erkennen, der es verstand, das auf dem Felde der Wissenschaft erworbene Renommee im Bereich des Politischen und Kulturpolitischen geltend zu machen. Weder am Orinoco noch an der Spree war Humboldt ein Stubengelehrter. Symptomatisch für seine Position, die immer wieder bewußt die von der Gesellschaft aufgerichteten Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik verletzte und überschritt, ist eine Passage in Humboldts Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Dort berichtet uns der Forschungsreisende vom "Ansinnen" des Präsidenten der christlichen Missionen am Orinoco, der Preuße möge ihm ein Schreiben hinterlassen, "in dem ich bezeugte, daß ich die christlichen Niederlassungen am Orinoco in guter Ordnung angetroffen, und daß die Eingeborenen im allgemeinen milde behandelt würden". Humboldt wahrte jedoch nicht nur an jenem 27. Mai 1800 gegenüber der Macht seine kritische Distanz: Er verweigert sich erfolgreich der Bitte und merkt in seinem Reisebericht ebenso bedeutungsvoll wie ironisch an, der Präsident der Franziskaner-Missionen "wünschte im Herzen (ohne Zweifel im Interesse der Naturgeschichte), Leute, welche Pflanzen auflesen und das Gestein untersuchen, möchten sich nicht so vorlaut mit dem Wohl der kupferfarbigen Rasse und mit den Angelegenheiten der menschlichen Gesellschaft befassen. Dieser Wunsch ist in beiden Welten gar weit verbreitet; man begegnet ihm überall, wo der Gewalt bange ist, weil sie meint, sie stehe nicht auf festen Füßen." Humboldt war und blieb "vorlaut". In der Humboldt-Forschung ist der Statur des kritischen Intellektuellen viel zu wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Wir wissen letztlich wenig über die von Humboldt nicht nur beobachteten, sondern auch benutzten Mechanismen der Macht am Hofe und im Staate Preußens wie in der zu Ende gehenden République des Lettres, in der sich der polyglotte Europäer wie kein anderer auskannte. Ein Revolutionär ist Alexander von Humboldt, der den Idealen von 1789 auch während seiner langen Jahrzehnte am preußischen Königshofe verpflichtet blieb, weder in Wissenschaft noch Politik gewesen. Doch fand er - vielleicht auch manche ihm aufgrund seines nationalen wie internationalen Ansehens gewährte Narrenfreiheit nutzend - häufig jene Spielräume, mit Hilfe derer er die Dinge in Berlin diskret in seinem Sinne "in Bewegung setzen" konnte. Ein großer Intellektueller war er allemal. Die beste "Untersuchung" hierzu ist noch immer sein Briefwechsel mit Varnhagen von Ense. Nach seinem Tode gab es wenige, die diese Bewegungen und Impulse aufnehmen konnten. Wer verfügte nach ihm in Deutschland über ein vergleichbares Ansehen, nicht nur in Fachkreisen? Wollen wir Alexander von Humboldt heute verstehen, so müssen wir sein Werk in seiner Gesamtheit betrachten - und hierzu gehört auch die Geschichte seiner Aufnahme und Deutung. Für den Gelehrten und - so könnten wir hinzusetzen - für den schon zu Lebzeiten monumentalen Kulturheroen gab es einen Platz im Pantheon, nicht aber für den Intellektuellen. Weniger noch interessierte man sich in den Zeiten des großen deutsch-französischen Gegensatzes und des radikalisierten Nationalismus in Europa für einen Mann, der Wissenschaft nicht einer Nation, sondern der gesamten Menschheit gegenüber verantwortlich hielt. In Zeiten eines nationalistischen Antagonismus und eines fortgeschrittenen Kolonialismus und Neokolonialismus störte nur, was eine Brücke zwischen deutschem "Geist" und französischem "esprit" einerseits und zwischen "Alter" und "Neuer" Welt andererseits sein wollte. Seine Büste rückte in den Hintergrund, verstaubte. Sein Denken, seine Methode des Vergleichs, waren auf diese eine Welt gerichtet. Humboldt hatte einen neuen Diskurs begründet; erstaunlich rasch aber erschöpfte sich die Anziehungskraft dieses Diskurses in der zweiten Jahrhunderthälfte. Die Vorstellung einer letztlich doch immer nach Ausgleich und Gleichgewicht strebenden Natur, in die der Mensch eingebunden ist und bleibt, erschien zunehmend in ihren politischen und menschenrechtlichen wie in ihren wissenschaftsgeschichtlichen und epistemologischen Konsequenzen als unzeitgemäß. Nach seinem Tode und dem Nachhall seines großen letzten Bucherfolges, des Kosmos, wurde es merklich stiller um ihn und sein Denken. Nicht nur die politische Entwicklung warf einen Schatten auf sein Werk, auch wissenschaftsgeschichtlich trat Alexander in den Schatten Darwins und einer veränderten Wissenschaftslandschaft, in welcher "scientifische" Legitimation durch Spezialistentum und Expertenwissen, aber nicht mehr dadurch erworben werden konnte, daß man - wie noch Goethe meinte - "überall zu Hause" war. Nicht der Brunnen, die Röhre zählte. Die Folgen für das Humboldt-Bild in der Öffentlichkeit und im kulturellen Gedächtnis zumindest des deutschsprachigen Raumes, aber auch für die ihm gewidmete Forschung blieben nicht aus. Als unter der Leitung Karl Bruhns im Jahre 1872 eine wissenschaftliche Biographie erschien, die sich von allen vorherigen Versuchen durch eben diese Betonung einer spezifisch "wissenschaftlichen" Perspektive abgrenzte, mußte dem Leser angesichts der Heterogenität ihrer Beiträge doch rasch klar werden, daß Humboldts monumentale Größe in den verschiedensten Wissenschaften der Vergangenheit angehörte. Die dreibändige Ausgabe vereinigte nicht zuletzt eine Reihe von Einzeluntersuchungen, die Humboldts Beiträge zu Mathematik, Astronomie, Erdmagnetismus, Meteorologie, Geologie, Erd- und Völkerkunde, Staatswirtschaft, Geschichtsschreibung, Pflanzengeographie, Botanik, Zoologie, Vergleichender Anatomie oder Physiologie (in dieser Abfolge) jeweils gesondert abhandelten. Die eher dürftigen Ergebnisse, die selten mit Hinweisen auf originelle Forschungsleistungen des berühmten Verfassers des Kosmos aufwarteten, und mehr noch die Tatsache, daß das an der Einheit der Natur ausgerichtete und auf ihr beruhende Forschen und Wissen Alexanders nun auf das Prokrustes-Bett wissenschaftlicher Einzeldisziplinen gespannt werden konnte, wirkte hochgradig mythenzersetzend. Kleiden wir dies in das uns von Goethe angebotene Gleichnis, so könnten wir sagen, daß nun nicht mehr Humboldts Brunnen, sondern nur mehr dessen einzelne Röhren - und zwar nur bestimmte Röhren - untersucht wurden. Die Form des Gefäßes, in die man das Wasser einströmen ließ, hatte sich verändert, und die Folgen dieses Wechsels sind bis in unsere Zeit nicht zuletzt auch aufgrund jener Röhren spürbar, durch welche die noch für Goethe so erquickliche Flüssigkeit ungenutzt, ja oft auch unbemerkt verströmte. Alexander von Humboldt war zu einem bemerkenswert weitläufigen Wissenschaftler mit interessanten, aber nicht mehr besonders aufregenden Ansätzen geworden. In eine "heiter aufgeregte Stimmung" schien er niemanden mehr versetzen zu können. Sein Werk - sieht man von seltenen gegenläufigen Versuchen einmal ab - war historisch geworden, der Vergangenheit überantwortet, in Einzeldisziplinen aufgespalten: An den Überresten konnte sich das Bildungsbürgertum im Zeichen einer abstrakten Humanität ergötzen. Das einst bewußt Zusammengedachte war unversehens auseinanderdividiert. Spielte die Nachwelt für Humboldt überhaupt eine Rolle? Liest man seine Tagebücher, Briefe und Reiseberichte, so fällt auf, daß bei aller oftmals zu beobachtenden Zurücknahme des Allzu-Menschlichen die Schilderung von Situationen, die Gefahr für Leib und Leben des Reisenden bedeuteten, stets von der Sorge um die Nachwelt begleitet wird. So notiert er in französischer Sprache über den gefahrvollen Aufstieg zum Krater des Rucupichincha an einem Maitag des Jahres 1802: "Fast wären wir 200 Toisen tief und in den brennendsten Teil des Kraters hinabgestürzt, ohne daß man in Quito, wenn nicht durch unsere Spuren im Schnee, erfahren hätte, was aus uns geworden." Eine Vielzahl derartiger Stellen belegt, daß Humboldt fortwährend nicht nur die verständliche Angst um das eigene Leben, sondern auch die Furcht vor dem Verlust des erhofften Überlebens nach seinem Tode begleitete. Es ist die Angst davor, einfach von der Erdoberfläche zu verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Keine Vorstellung konnte schlimmer sein für einen Menschen, der wirken wollte. Wir wissen heute: Humboldt blieb das Ende eines Lapérouse, von dessen Weltumsegelung immerhin ein fragmentarischer Reisebericht auf uns gekommen ist, erspart. Und mehr noch: Seine Spuren verloren sich nicht nur nicht im Schnee der ecuadorianischen Anden, er hinterließ nicht nur die Spuren seiner Schrift in seinen Texten und in seiner ungeheuren Korrespondenz, deren systematische Auswertung uns in großen Teilen noch immer bevorsteht; er hinterließ auch seine Spuren in der Nachwelt, die seinen Namen gerne aufgriff und ihren eigenen Zielen und Zwecken dienstbar machte. Hier beginnt die Geschichte seines Namens, weniger seines Denkens. Denn neben einer wissenschaftlichen und bildungsgeschichtlichen Rezeption dürfen wir nicht jene andere, weitaus diffusere vergessen, die Humboldts Name in mentalitäts- wie alltagsgeschichtlich aufschlußreicher Weise im kulturellen Gedächtnis vieler Nationen hielt, ohne daß bei jenen, die seinen nunmehr klangvollen Namen aussprachen, eine vertiefte Kenntnis seines Lebenswerkes vorausgesetzt werden kann. Denn wer wußte schon Genaueres von jenem illustren Unbekannten, dessen Name die Landkarten von Ländern und Regionen zierte, die er niemals bereist hatte, sich ebenso auf den Etiketten von Olivenöl wie auf Karten von der Oberfläche des Mondes fand; der seinen Namen unzähligen (wenngleich von der Wissenschaft gezählten) Städten, Gebirgen, Apotheken, Mondkratern, Meeresströmungen, Schreibfedern, Straßen, Tankstellen, Bergen, Meeresbuchten, Seilbahnen, Naturparks, Universitäten, Parks oder politischen Vereinigungen gab. Es mag einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben, den verschiedenen Modi der Verwendung und Verwertung des Namens "Humboldt", oft mit ikonenhaften Darstellungen gepaart, nachzuspüren. Wollten wir eine vorläufige Klassifizierung vorschlagen, die in ihren historischen Veränderungen hier nicht darstellbar ist, so würden wir natur- und geisteswissenschaftliche, politisch-ideologische und kommerzielle, identifizierende und identitätsstiftende Modi voneinander unterscheiden, deren Konjunkturen uns nicht nur viel über die weltweite Ausbreitung, sondern auch Nutzung und Vermarktung des Namens "Humboldt" wie auch den Zustand bestimmter Gesellschaften sagen könnten. Die Bedeutungselemente, die von den jeweiligen Modi eingefangen bzw. erzeugt werden, könnten gegensätzlicher nicht sein. Humboldts Name steht dabei für preußische Hartnäckigkeit ebenso wie für kosmopolitische Toleranz, für nationale und selbst nationalistische Werte wie für einen auf den Menschenrechten basierenden Antirassismus. Zu Lebzeiten konnte er sich noch dagegen verwahren, daß sein Name nicht nur von Gegnern, sondern auch von Befürwortern der Sklaverei gebraucht wurde. Kartographen und Geographen, Speleologen und Ideologen, Industrielle und Intellektuelle, Klimaforscher und Ökologen greifen zu unterschiedlichsten Zwecken auf seinen Namen zurück und halten ihn so im kollektiven Gedächtnis einer Welt, in der die Trennschärfe zwischen den beiden Brüdern Humboldt (ein Blick in internationale Bibliographien zeigt dies) nicht immer gegeben ist. Für die Humboldt-Rezeption sind derartige Phänomene keineswegs nebensächlich, wird doch von vielen mit dem Namen eine diffuse Bedeutsamkeit verknüpft, ein symbolisches Kapital, auf das sich jederzeit - auch im Rahmen von Gedenkfeiern - zurückgreifen läßt. Diese Anknüpfungen können ihrerseits wiederum einer bisweilen reinigenden Kritik unterzogen werden, so wie Egon Erwin Kisch dies tat, als er in seinem mexikanischen Exil mit allerlei "Humboldtgesellschaften, Humboldthäusern, Humboldtvillen" konfrontiert wurde, mit Hilfe derer die Propagandisten und Ideologen des Naziregimes versuchten, den guten Namen Humboldts vor ihren Mörderkatafalk zu spannen. Doch der "rasende Reporter" war sich in seinem an einem Maitag des Jahres 1942 erschienenen Artikel für Freies Deutschland sicher, daß die Werke und Überzeugungen Alexander von Humboldts derlei Versuchen, sich ihrer aus durchsichtigen Gründen zu bemächtigen, widerstehen würden. Und er fügte mit Blick auf einen anderen Berliner Mai hinzu: "So ist es wohl das demonstrativste Symbol der symbolisch und demonstrativ gedachten Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 und wohl das tragischste Detail in der Biographie Alexander von Humboldts, daß gerade vor seinem Berliner Monument Bücher überhaupt und vornehmlich jene Bücher verbrannt wurden, die seinen Geist der Universalität und Menschenverbrüderung atmeten..." Die leider (wie so vieles, was sich im Exil deutscher Intellektueller tat) in Vergessenheit geratenen Essays Egon Erwin Kischs über Alexander von Humboldt belegen, daß das geistige Erbe des Verfassers der Ansichten der Natur auch in der Zeit der Kriege und der Zwischenkriegszeiten nicht völlig verdrängt werden konnte. Es waren jedoch nicht die wissenschaftlichen Disziplinen (auch nicht die meine, die Romanistik), die sein Andenken bewahrten, sondern vielmehr herausragende Intellektuelle wie Kisch, die in Alexander nicht so sehr den Naturforscher und Gelehrten als den universal gebildeten Menschen und engagierten Streiter für Menschenrechte und Menschlichkeit sahen. Wegweisend dabei: Kisch tat dies, ohne Humboldt zu mythisieren. So war ein Schriftsteller im Exil wohl der erste, der Humboldts Verdienste und zugleich auch jene Gefahren sah, welche die Publikation der Humboldtschen Schriften für die von ihm behandelten Länder des entstehenden Lateinamerika mit sich brachten. Sein Wort von der "wissenschaftlichen Konquista" der jungen Nationen durch die europäischen Mächte, die auf der Suche nach ökonomischer Expansion auch den Spuren Humboldts folgten, verhallte jedoch lange Zeit ungehört. Doch auch dies waren Spuren, die Humboldts Schriften hinterließen. In Deutschland konnte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter den neuen politischen Verhältnissen eine Beschäftigung mit Alexander von Humboldt entwickeln, die man gerade im Umkreis des Gedenkjahres 1959 als eine Art Wiedergeburt der Humboldt-Studien bezeichnen könnte. Die politische Aufteilung Europas und Deutschlands in antagonistische Blöcke trug unübersehbar dazu bei, daß just in jenen Jahren das, was der Romanist Werner Krauss einmal treffend die "Zonengrenzen des Geistes" nannte, auch die Humboldt-Forschung trennend verband. "Wem gehört Humboldt?" - diese Frage ist, wenn ich recht sehe, zwar nirgends explizit gestellt worden, doch läßt sie sich als basso continuo vieler Arbeiten der verdoppelten deutschen Humboldt-Forschung deutlich heraushören. In die komplexe Konkurrenz der Systeme war das Teilfeld der Humboldt-Forschung gewiß miteingebunden, wenn sich auch aus heutiger Sicht vielfach die rivalisierenden Ansätze als komplementäre Aspekte eines vielschichtigen Bildes Alexander von Humboldts lesen lassen. Die Humboldt-Forschung in den beiden deutschen Staaten ist gewiß nicht der uninteressanteste Teil der deutsch-deutschen Geschichte, doch ist dieser historische Abschnitt eben dies geworden: Geschichte. Der stärkeren (wenn auch zu Beginn noch gemeinsam erfolgten) Institutionalisierung der Humboldt-Forschung in der DDR stand eine eher kleinparzellierte Situation in der BRD gegenüber. War im Osten die Erbediskussion stets als Rückversicherung einer in methodologischer Hinsicht eher positivistisch ausgerichteten Humboldt-Forschung von Bedeutung, so ließ sich im Westen der Versuch beobachten, auf die wissenschaftliche Aufsplitterung des Humboldtschen Oeuvre mit der Rekonstruktion einer Gesamtheit zu antworten. Diese Rekonstruktion einer Totalität wurde freilich - historisch und wissenschaftsgeschichtlich nur allzu verständlich - von bestimmten Teildisziplinen aus unternommen, die für sich einen dominanten Status einforderten. Sicherlich ist diese Phase zwischen den beiden Gedenkjahren 1959 und 1969 zu komplex, als daß man sie bündig auf einen einzigen Strang reduzieren könnte; innerhalb der hier skizzierten Entwicklung aufschlußreich erscheint jedoch die Tatsache, daß die Wiedergewinnung der verlorenen Einheit des Phänomens Humboldt - gleichsam die erneuerte Rekonstruktion des komplizierten Goetheschen Röhrensystems - fast ausschließlich vom Blickpunkt einzelner wissenschaftlicher Disziplinen aus vorgenommen wurde. So geriet Alexander von Humboldts vielschichtiges Schaffen zum Lebenswerk eines Philosophen, eines Geographen oder eines Historikers, um nur drei der einfluß- und erfolgreichsten Modelle hier namhaft zu machen. Die Bevorzugung einer ganz bestimmten "Röhre", der man hierarchisch alle anderen zuordnete, sorgte nicht nur dafür, daß sich die Vertreter der jeweiligen Disziplinen auf akrobatische Verrenkungen einlassen mußten, wollten sie bei Humboldt die Dominanz eines ganz bestimmten (und zwar des je eigenen) Wissenschaftskonzepts belegen, von dem aus alle Forschungen und Aktivitäten Humboldts abgeleitet werden sollten; sie kamen des öfteren auch nicht umhin, sich auf letztlich fruchtlose byzantinische Auseinandersetzungen einzulassen, welche die Frage, wem Humboldt denn nun gehöre, nicht mehr ideologie-, sondern wissenschaftsgeschichtlich durchdeklinierten. Wir wissen heute: Alexander von Humboldt war zweifellos - wie diese verdienstvollen Ansätze zeigten - Historiker, Geograph und Philosoph; er war auch ein Vertreter dieser Disziplinen, deren Ausdifferenzierung und wechselseitige Verbindung in seinem Gesamtwerk zugleich sichtbar wird. Und wir wissen vor allem: Er war viel mehr als nur Geograph, Philosoph oder Historiker. Wir sind heute nicht mehr dazu verurteilt, wissenschaftliche Forschung als ein hierarchisches Gebilde zu denken, sondern in der Lage, gerade ein so komplexes Werk wie das Humboldtsche, das sich mit seinen Buchpublikationen über einen Zeitraum von nahezu 70 Jahren und damit über das Schaffen dreier wissenschaftlicher Generationen erstreckt, als ein dynamisches, den jeweiligen Forschungskontexten und Zielsetzungen entsprechendes Netzwerk zu begreifen. Das bereits erwähnte weitgespannte Korrespondentennetz Humboldts, das noch längst nicht bis in alle Verästelungen hinein bekannt und in seinen wissenschaftsgeschichtlichen Dimensionen erschlossen ist, bietet uns hier ein nicht weniger gutes Beispiel als die Schriften Alexander von Humboldts selbst. Sie entstammen einem ungeheuren, großen historischen Veränderungen unterworfenen Zeitraum, widmen sich den unterschiedlichsten Gegenständen, greifen auf verschiedenste Ansätze und Begrifflichkeiten zurück, sind in unterschiedlichen Kultur- und Wissenschaftssprachen abgefaßt und verwenden differenzierte literarische Muster und Vorbilder, die sie beständig weiterentwickeln. Sind damit auch erst einige der wichtigsten Dimensionen des vielgestaltigen Oeuvre Alexander von Humboldts genannt, so überrascht es doch, daß die Humboldt-Forschung selbst, die sich mit diesem vielsprachigen und an interkulturellen Beziehungen reichen Gesamtwerk beschäftigt, selbst erst in Ansätzen zu einer Vernetzung gefunden hat. Überblickt man die Beschäftigung mit Alexander von Humboldt heute, so fallen zumindest zwei Dinge ins Auge: Zum einen ist diese Auseinandersetzung mit Humboldt weltweit beobachtbar und vielsprachig. Zwischen den einzelnen regionalen und nationalen Forschungsfeldern aber besteht zum anderen nur ein auffallend geringer Austausch. Längst hat sich eine englischsprachige Humboldt-Forschung entwickelt, die in Deutschland kaum wahrgenommen wird und ihrerseits in deutscher Sprache vorgelegte Studien, soweit sie nicht ins Englische übersetzt sind, kaum mehr wahrzunehmen scheint. Die literarische Zweisprachigkeit des Autors der Relation historique bringt mit sich, daß der Humboldt-Forscher nicht im selben Maße wie der Goethe-, Kant- oder Herderforscher des Deutschen mächtig sein muß. Die Konsequenzen dieser bedauerlichen, aber unbestreitbaren Tatsache sind noch nicht recht bedacht worden. Die seit Jahrzehnten überaus ergebnisreiche Humboldt-Forschung in den lateinamerikanischen Ländern ist, über punktuelle Kontakte und vorübergehende Formen der Zusammenarbeit hinaus, im deutschsprachigen Raum höchstens sporadisch zur Kenntnis genommen worden. Es scheint, daß die Frage, "wem Humboldt denn gehöre", sich heute nicht mehr vorrangig an Ideologien und Disziplinen, sondern an Sprachen und Kulturen ausrichtet und hier das Trennende zutage fördert. Gerade die Feierlichkeiten und Veranstaltungen, die sich um den Beginn der Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents ranken, bieten den willkommenen Anlaß, Lateinamerika nicht mehr nur als Forschungsobjekt, sondern auch als Forschungssubjekt mit eigenen Perspektiven und eigenen Fragestellungen anzuerkennen und in gemeinsame Projekte einzubeziehen. Dies erfordert über eine Kette von Veranstaltungen zu Jahrestagen hinaus eine kontinuierliche Zusammenarbeit, einen ständigen Austausch von Informationen, für den die Struktur des Humboldtschen Oeuvre selbst der beste Ansporn sein sollte. Die Stärkung einer institutionalisierten Humboldt-Forschung und die derzeit im Aufbau begriffene Fortführung weltweiter Kommunikationssysteme - verwiesen sei hier u.a. auf das angelaufene Internet-Projekt »Alexander von Humboldt im Netz« - bilden die Voraussetzung dafür, daß die relative Provinzialität der Humboldt-Studien am Ende unseres Jahrhunderts dauerhaft aufgebrochen werden kann. "Alexander von Humboldt heute" bedeutet, daß zweihundert Jahre nach dem Versuch des jungen Preußen, zunächst die Enge von "Schloß Langweil" und Berlin durchbrechend und dann die europäische Gelehrtenrepublik aufklärerischer Tradition überschreitend, "Alte" und "Neue" Welt miteinander in Verbindung zu bringen und zusammenzudenken, erstmals die Möglichkeit besteht, im interkulturellen Dialog der so verschiedenen Ansichten Alexander von Humboldts überhaupt erst bewußt zu werden. Damit sind zugleich Fragestellungen (und nicht so sehr vorgängige Konzepte) gefragt, die es uns erlauben können, Humboldts Werk in neuer Weise zu denken. Für neue Wege des Nach-denkens zu Humboldt bietet die zweihundertste Wiederkehr seines Voyage zweifellos eine große Chance. Wie keine andere siedelt sich die von 1799 bis 1804 durchgeführte Reise des preußischen Naturforschers und Gelehrten nicht nur zwischen zwei Jahrhunderten und zwei verschiedenen und doch komplementären Kulturräumen an, sie setzt die Ideenwelt des 18. Jahrhunderts auch der Erprobung durch jene Dynamik und Beschleunigung aus, die in den verschiedensten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen gemeinsam mit der Selbstreflexivität des Schreibens zum Signum der europäischen Moderne geworden ist. Innerhalb eines solchen Problemhorizonts schreibt sich das Humboldtsche Oeuvre - wie dessen Verfasser selbst erkannte - im Bereich von Ästhetik und "Ansichten" der Natur in die literarische Moderne ebenso ein, wie es den Übergang von der Entdeckungsreise zur Forschungsreise markiert. Die mit dem Ende der Naturgeschichte und naturgeschichtlicher Denkmechanismen und Klassifikationsschemata einhergehende Verzeitlichung von Wissensbeständen und Erfahrungswerten leitet in Humboldts Gesamtwerk ebenso zu philosophischen und epistemologischen Ausdrucksformen der Moderne über, wie auch im politischen und anthropologischen Sinne etwa in der Diskussion von Menschenrechten und Minderheiten, aber auch von Zivilisation, "Modernisierung" und politischer Partizipation Überlegungen angestellt werden, die den für die europäische Moderne charakteristischen expansiven Grundzug auch ideengeschichtlich beispielhaft vor Augen führen. Die vielfältigen Widersprüche zwischen einem holistischen Naturverständnis und dem Export technologischer Großprojekte, zwischen ökologischen und ökonomischen Ansätzen verwandeln Alexander von Humboldts Schriften ebenso in Kreuzungspunkte der Moderne wie seine Überlegungen zu weltpolitischen und weltliterarischen Prozessen, zu Welthandel und Weltgeschichte, Positionen, die von ihrer Aktualität bis heute nichts verloren haben und uns einen neuen Blick auf die europäische Moderne ermöglichen. Gerade weil sie nicht auf den Raum Europas beschränkt blieben. Es ist mehr als erstaunlich und sicherlich denk-würdig, daß innerhalb der aktuellen Moderne-Diskussion der Name Alexander von Humboldts völlig fehlt. Niemand aber hat zu Beginn unseres Jahrhunderts nicht nur im deutschsprachigen Raum mehr als der Verfasser der Ansichten, der Relation historique und des Examen critique dazu beigetragen, das Projekt der Moderne vor dem Hintergrund einer wachsenden Internationalisierung und einer von ihm schon erahnten Globalisierung neu zu durchdenken. Es gilt, einen in Vergessenheit geratenen Teil der (Vor-) Geschichte des Moderne-Projekts wieder ins Bewußtsein zu heben. Die Aufteilung des Humboldtschen Schaffens in Einzeldisziplinen hat bislang wesentlich dazu beigetragen, daß Alexander von Humboldt als einer der grundlegenden Denker und Wegbereiter der Moderne unbekannt bleiben konnte. Von dieser Problematik aus aber können wir das Humboldtsche Gesamtwerk in seiner natur- und geisteswissenschaftlichen Vielfalt neu zusammendenken. Humboldts Werk ist heute so aktuell wie noch nie: Kein anderer deutscher Autor von Rang hat den Dialog zwischen den Kulturen so sehr wie er gefördert. Wir können heute einer umfassenderen, die vielsprachigen Deutungen miteinbeziehenden Sichtweise Alexander von Humboldts auf die Sprünge helfen, um das Denken dieses großen Intellektuellen an die wichtigen Debatten unserer Zeit anzuschließen, ohne in vordergründige Aktualisierungen zu verfallen. Denn es kann heute, möglicherweise an einem Ausgang der Moderne, nicht darum gehen, Alexander von Humboldt modisch als Ökologen zu präsentieren, ohne seine dazu in Widerspruch stehenden großen Entwürfe einer technischen Beherrschbarkeit der Natur mitzubedenken; ihn als einen Verfechter der Menschenrechte und eines antirassistischen Denkens darzustellen, ohne auch jene Passagen in den Reisetagebüchern oder den Vues des Cordillères zu diskutieren, die nicht immer nur implizite eurozentrische und am abendländischen Meridian ausgerichtete Auffassungen vom Menschen, von Kunst und Kultur enthalten. Es geht dabei nicht darum, Alexander von Humboldt "am Zeug zu flicken", sondern ihn vor dem Hintergrund der Widersprüchlichkeit des Denkens und der Diskurse seiner Zeit neu zu verstehen. Er kann uns dann wie kaum ein anderer einen Weg weisen, unsere Moderne in eine fruchtbare Beziehung zu jenen anderen, "peripheren", divergierenden Modernen zu setzen, um jene Regionen zu verstehen, deren Eintritt in die Moderne und deren Nationbildung er aufmerksam verfolgte. Nicht von ungefähr wurde der als "zweiter Entdecker" und "zweiter Befreier" Gefeierte in den von ihm besuchten Teilen des spanischen Kolonialreichs zu einer von den kreolischen Eliten oft instrumentalisierten Ikone einer politischen, wirtschaftlichen und ideengeschichtlichen Modernisierung. Die französische Spätaufklärung oder die Weimarer Klassik sind für ein neues Verständnis Humboldts ebenso wichtig wie die spanischsprachige Ilustración oder die Reformversuche des zaristischen Rußland. Die philosophische und ästhetische, aber auch die interkulturelle und wissenschaftsgeschichtliche Seite des Humboldtschen Denkens, der Humboldtian Science (im Sinne Susan Faye Cannons), können für ein neues Naturverständnis und eine neue Sicht unseres eigenen Selbstverständnisses innerhalb weltweit ausgedehnter Beziehungen fruchtbar gemacht werden. Alexander von Humboldts Weg ist eine Reise in die Moderne, eine Reise in unsere und andere Modernen. Unsere geschichtliche und kulturelle Situation am Ende dieses Jahrhunderts und vielleicht noch mehr am Beginn eines neuen ermöglicht uns neue Einsichten und Ansichten. Wenn, wie Humboldt 1832 einem Unbekannten sagte, der ihn um biographische Angaben gebeten hatte, das "Leben eines homme de lettres seine Werke" sind, dann dürfen wir uns schon fragen, warum der Schöpfer der Ansichten der Natur und der Relation historique bislang so selten und stets marginal in seinen Qualitäten als Schriftsteller und deutsch wie französisch schreibender Autor untersucht wurde. Wir sollten nicht übersehen, daß die ständige Reflexion über das eigene Schreiben Alexander von Humboldt ein Leben lang beschäftigte. Der bisweilen wegen seiner spitzen Zunge gefürchtete Humboldt der eleganten und geistreich-spritzigen Konversation läßt sich sehr wohl mit dem Humboldt der nicht weniger spitzen Feder verbinden: in der Figur des Intellektuellen, in seiner Begabung zur Performanz. Die ästhetische Dimension seines Werkes, das zugleich sein Leben bildet, ist nicht Ornament und Beiwerk, sondern grundlegender Bestandteil seines gesamten Schaffens - unter Einschluß all jener Beziehungen, die sich in Humboldts Veröffentlichungen insbesondere zwischen Bild und Text beobachten lassen. Es gibt nicht nur eine Humboldtian Science, es gibt auch ein Humboldtian Writing. Wir können heute Alexander von Humboldt wohl nur begreifen, wenn wir bereit sind, jenseits der Einzeldisziplinen (die für ihn nie von entscheidender Bedeutung waren) und einer monokulturellen Forschung die Vielgestaltigkeit seines von der Moderne geprägten und diese wiederum mitgestaltenden Werkes aus dem Zusammenwirken von Wissenschaft und Autorschaft, von Wissen und Schreiben, von Verstehen und Vermitteln zu deuten. Dann werden wir - wie einst Goethe - immer wieder "von neuem über ihn in Erstaunen" versetzt. Dieses Staunen sollten wir nicht verlernen. (zur Person Ottmar Ette)
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