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Gespiegelte Fassung auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam
Stand: 12. August 2005
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HiN - Humboldt im Netz

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Ulrike Leitner

Vielschichtigkeit und Komplexität
im Reisewerk Alexander von Humboldts - Bibliographischer Hintergrund

VI. Dimension: Historisches Netzwerk

In Humboldts Reisewerk flossen nicht nur seine eigenen Beobachtungen und gesammelten Daten ein, sondern er verwendete eine Vielzahl von Berichten anderer Reisender, die vor ihm die lateinamerikanischen Länder bereist hatten, und noch lebender Zeitzeugen. Auch ihm nach der Rückkehr zugängliche Informationen nahm er in seine Publikationen auf. Daß es bisher jedoch keine vollständig mit Registern versehene Ausgabe seines Reisewerks gibt[1], ist heute noch eine der großen Lücken der Humboldt-Forschung, die eine Gesamtübersicht über die von ihm benutzten Quellen unmöglich macht und eine nichtlineare Lesart erschwert.

Einige Beispiele können lediglich diesen Mangel anschaulich machen.[2] 

Dazu gehören Berichte früher Reisender, die im Gefolge der Conquista Land und Leute beschrieben hatten. Für Neuspanien (Mexiko) waren dies  Francisco Javier Clavigero ”Historia de Messico”, Juan de Torquemada ”Monarquia indiana” und Francisco Lopez de Gomára ”Historia de la Conquista de Hernando Cortés”. Für die Reise durch Venezuela hat Humboldt vor allem die Bücher des Missionars J. Gumilla über den Orinoco, des Missionars A. Caulín über die Provinzen Cumaná, Guayana und die Katarakte des Orinoco und des italienischen Missionars F. S. Gilij über Südamerika herangezogen.

Mit James Cook und Bougainville begann eine neue Ära der wissenschaftlichen Forschungsreisen, die dann in Humboldt ihren Höhepunkt fand. Auch deren Berichte hat Humboldt aufmerksam verfolgt. Neu waren hier wissenschaftliche Fragestellungen als Anlaß für derartige Reisen, wobei Beschreibungen der bereisten Länder eher ein Nebenaspekt waren. Dazu gehörte die Vermessung eines Meridianbogens am Äquator zur Ermittlung der Gestalt der Erde im Auftrag der Pariser Académie des sciences. Mathematiker und Astronomen wie La Condamine haben langwierige Reisen unternommen, um zu diesen Meßstationen zu gelangen, und einige Beschreibungen  der Erlebnisse, der bereisten Länder und der indianischen Völker hinterlassen. Eine weitere wissenschaftliche Expedition war die der Vermessung des Venusdurchgangs 1769. Chappe d’Auteroche, der in Humboldts Mexiko-Werk mehrfach zitiert wird, war teilweise dieselbe Strecke (Veracruz - Mexiko-Stadt) wie Humboldt gereist, so daß Humboldt seine geodätischen Vermessungen übernehmen und mit den eigenen vergleichen konnte.

Im Auftrag des spanischen Königs bereiste Malaspina mit weiteren Wissenschaftlern 1791-1794 die spanischen Kolonien. Jedoch kam es zu keiner Publikation der Reisebeschreibung und der Sammlungen. Humboldt wurden vereinzelt Ergebnisse durch andere übermittelt, z. T. bereits vor seiner Abreise in Madrid, z. T. erst in Mexiko während seiner Archivstudien.

Durch das neu erwachte Interesse an Wissenschaft und Wirtschaft in den spanischen Kolonien kam auch die Real Expedición botanica zustande, die 1763 durch den spanischen Botaniker und Mediziner José Celestino Mutis angeregt worden war, den Humboldt dann während seiner Reise in Bogotá besuchte. Sie bestand für die Vizekönigreiche aus mehreren Einzelexpeditionen. Zwar sind die botanischen Ergebnisse nie vollständig publiziert worden, aber einzelne Ergebnisse und Berichte - in Briefen, in Gesprächen oder Notizen in Archiven - waren Humboldt in Madrid vor der Reise bzw. während seiner Amerikareise zugänglich. In den großen Kolonialstädten hat Humboldt versucht, sich geographische und naturwissenschaftliche Ergebnisse zu verschaffen. Oft wurde er von einem Wissenschaftler oder Kolonialbeamten an den nächsten weiterempfohlen.[3] So nutzte Humboldt während seiner Reise ein Informationsnetz, das bis heute historisch nicht vollständig erforscht ist.

Humboldt erhielt jedoch nicht nur Informationen, die er dann als Quelle in seinem Amerikawerk nannte, sondern er reichte großzügig seine eigenen Ergebnisse an andere weiter. So kam es bereits während der Amerikareise zu einem weltweiten wissenschaftlichen Austausch, denn Humboldt tauschte Informationen nicht nur mit Wissenschaftlern, die ihm dort begegneten, sondern sandte auch Daten nach Europa, Pflanzen nach Berlin an seinen Lehrer Willdenow, Steine nach Madrid usw.

Dieses wissenschaftliche Netz weitete sich nach seiner Rückkehr aus, da Humboldt Wissenschaftler zur Beteiligung an seiner Publikation heranzog. So wurde das Amerikawerk eine groß angelegte Gemeinschaftsproduktion.

Dies galt vor allem für die botanische Ausbeute, die im Gesamtrahmen der Sammlungen am umfangreichsten war. Die Publikation überließ Humboldt hier vollständig den botanischen Fachleuten: zuerst Bonpland, dann kurzzeitig Willdenow und später dem jungen Kunth. Humboldt selbst schrieb nur die pflanzengeographischen Teile.

Für die Auswertung der Ortsbestimmungen und Höhenmessungen war der Astronom Oltmanns zuständig, von dem wesentliche Anteile an der Partie 4 („Astronomie“, s. Dim. 1) stammen.

Weniger bekannt ist der Anteil einiger bedeutender französischer Naturwissenschaftler an der Auswertung der Ergebnisse: In der Zoologie stammen größere Beiträge von G. Cuvier, P. A. Latreille und A. Valenciennes, denen Humboldt Sammlungen und offenbar auch Notizen zur Bearbeitung überlassen hat. In der ”Astronomie” gibt es kleinere Beiträge von J.-B.-J. Delambre und C.-L. Mathieu. An der Ausarbeitung der ”Nova genera” waren K. A. Agardh und W. J. Hooker beteiligt. Daneben gibt es Beispiele von Publikationen von Ergebnissen in Zeitschriften, wie z. B. von Oltmanns mehrere Artikel über Ortsbestimmungen in der von Zach herausgegebenen ”Monatlichen Korrespondenz”. Der Chemiker Martin Heinrich Klaproth hat Minerale und Aufzeichnungen Humboldts erhalten, die er in seinem Buch „Beiträge zur chemischen Kenntnis der Mineralkörper“ 1807 publizierte.



[1] Nur einzelne Bände sind durch Register erschlossen: die zweite Ausgabe des Mexikowerks 1827, die 1835-1852 erschienene deutsche Übersetzung des ”Examen critique” sowie der von Hanno Beck 1970 herausgegebene Neudruck der ”Relation historique”.

[2] Vgl. auch M. Faak: Einleitung in Humboldt 2000, S. 11-16

[3] Vgl. Humboldt 1993

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