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Stand: 12. August 2005
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H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                     III, 4 (2002)
 
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Ottmar Ette (Potsdam)

»... daß einem leid tut, wie er aufgehört hat, deutsch zu sein«

Alexander von Humboldt, Preußen und Amerika

 

 

3. Der Staatsbürger als Weltbürger

Alexander von Humboldts berufliche Ausbildung, von seinem anfänglichen Studium der Kameralistik an der Viadrina in Frankfurt an der Oder (1787-1788) über seine Ausbildung an der Handelsakademie von J.G. Büsch in Hamburg (1790-1791) bis hin zum Studium an der Bergakademie in Freiberg/Sachsen (1791-1792), prädestinierte ihn für eine Tätigkeit im preußischen Staat. Bei seinem Eintritt als Assessor in den preußischen Bergdienst am 6. März 1792 und seiner raschen Beförderung zunächst zum Oberbergmeister, dann zum Bergrat und schließlich zum Oberbergrat (1795) deutete alles auf eine zwar, außergewöhnlich rasche, in ihrem Verlauf aber vorbestimmte Karriere im preußischen Staatsdienst hin. Doch nach dem Tod seiner Mutter am 19. November 1796 und der sich durch das reiche Erbe ergebenden finanziellen Unabhängigkeit beider Humboldt-Brüder kam es zu einer entscheidenden Wende, insoweit Alexander nun definitiv aus dem Staatsdienst, seit der Errichtung Preußens stets Domäne und Versorgung des preußischen Adels ineins, auf eigenen Wunsch und gegen den Willen der sich um ihn bemühenden Minister von Hardenberg und von Heinitz ausschied. Er widmete sich nun ganz der Vorbereitung seiner früh schon erträumten und auf der gemeinsamen Reise mit Georg Forster nach England und Frankreich tränenreich herbeigesehnten großen Forschungsreise, die ihn nach mancherlei Zufällen schließlich nach Amerika und zu internationalem Ruhm führen sollte. Waren die großen Reisewerke des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts in aller Regel mit Hilfe staatlicher Unterstützung, ja zumeist im staatlichen Auftrag entstanden und in ihrer Realisierung ohne die Hilfe der jeweiligen Heimatstaaten auch gar nicht vorstellbar gewesen, so handelte es sich bei Humboldts Unternehmung von der Vorbereitung über die Durchführung bis hin zur kostspieligen Publikation der Forschungsergebnisse um ein rein privates Unterfangen. Ja mehr noch: Alexander von Humboldts Amerikareise wurde möglich, gerade weil er den preußischen Staatsdienst verließ und sich so eine Bewegungsfreiheit verschaffte, die für ihn anders nicht erreichbar gewesen wäre. Einem Preußen im Staatsdienst hätte der spanische König überdies wohl kaum den Zugang zu seinen Kolonien in Übersee erlaubt, ein unabhängiger Bergbauspezialist aber konnte ihm dienlich erscheinen. Alle späteren offiziellen Ehrungen, Ernennungen und Auszeichnungen durch den preußischen Staat gelten letztlich einem Privatmann, der bewußt auf eine Karriere im Staatsdienst verzichtet hatte und auch später wohl wissenschaftlichen Akademien unterschiedlicher Breitengrade angehörte, in Preußen aber niemals im besoldeten Dienst staatlicher Institutionen wie der neugegründeten Berliner Universität stand. Die nach der Rückkehr aus Amerika erfolgte finanzielle Absicherung als Kammerherr sei hier zwar nicht vergessen, sie stand aber auf einem anderen Blatt und band Humboldt in den beiden folgenden Jahrzehnten noch nicht einmal an einen »Erstwohnsitz« in Berlin.

     Doch schon bald nach seiner Rückkehr aus Amerika im August 1804 nach Frankreich machten sich Bruder Wilhelm und Alexanders Schwägerin Caroline große Sorgen um die »Deutschheit« des Weltreisenden[23]. Wohl erst "nach mehrfacher Aufforderung"[24] und der Einsicht in seine notwendig neu zu ordnende finanzielle Situation nach Ende der äußerst kostspieligen Reise fand sich Alexander bereit, dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. persönlich zu schreiben. Diplomatisch nicht ungeschickt, teilte der junge Preuße, der sich in Paris niederzulassen und dort sein großangelegtes Reisewerk zu verfassen gedachte, seinem König mit, er beabsichtige durchaus, nach Berlin zurückzukehren und sich dort an die wissenschaftliche Auswertung seiner Reise zu machen[25]. Er listete zunächst die Sammlungen und Geschenke auf, die in Bälde nach Berlin abgehen würden, fügte aber dann hinzu, die lange Gewöhnung an tropische Wärme halte ihn davon ab, im bevorstehenden kalten Winter in seine Heimatstadt zurückzukehren. Überdies gebe er dem Wunsch nach, seinen lange entbehrten Bruder Wilhelm, der sich damals als preußischer Gesandter in Rom aufhielt, zu besuchen. Humboldts Argumentationsstil in diesem für ihn nicht unwichtigen Brief, in dem er - wie später noch so oft - die persönlichen Neigungen mit den öffentlichen Pflichten zu vermitteln, aber nicht zugunsten letzterer zu lösen trachtete, verdient es, zumindest ausschnitthaft vorgeführt zu werden:

Après une si longue absence, je souhaite vivement de retourner dans ma patrie, pour vivre à Berlin, continuellement, pour les sciences, sous la protection bienfaisante d'un gouvernement sage et paternel, et pour m'occuper de la protection de mes manuscrits et dessins sud-américains. Mais le désir naturel et humain de revoir à Rome mon frère, le seul survivant de ma famille, après cette longue séparation, et la peur, bien fondée, de détruire complètement ma santé, habituée à la chaleur tropicale, par l'influence subite d'un hiver de l'Allemagne du Nord, me donnent le courage de demander que Votre Majesté daigne me permettre de passer l'hiver, qui commence, dans l'Italie du Sud.

Au retour de la chaleur estivale, rien ne pourra me retenir de rentrer dans ma patrie, et peut-être aurai-je alors l'honneur d'exprimer en personne à Votre Majesté les sentimens de mon plus profond dévouement, avec lequel je suis le très dévoué serviteur de Votre Majesté royale.[26]

Auf diese für seine Vorgehensweise typische Art verwirklichte der dem Flunkern nicht abgeneigte Alexander von Humboldt seine italienischen Reisepläne, ohne den preußischen König zu brüskieren, und ging gemeinsam mit Louis Joseph Gay-Lussac und Leopold von Buch, dem er seit dem gemeinsamen Studium an der Bergakademie zu Freiberg freundschaftlich und in der zunehmenden Skepsis gegenüber den neptunistischen Auffassungen ihres Freiberger Lehrers Werner wissenschaftlich verbunden war, seinen eigenen Interessen nach. So kehrte er erst am 16. November 1805, über ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Amerika und fast auf den Tag genau neun Jahre nach dem Tod seiner Mutter und dem Verlassen Berlins, in die preußische Hauptstadt zurück. Aus dem preußischen Staatsbürger war längst ein Weltbürger geworden. Daran änderten weder seine nun offizielle Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Akademie der Wissenschaften etwas noch seine kurz nach seiner Ankunft in Berlin erfolgte Ernennung zum Kammerherrn - einstweilen ohne weitere Verpflichtungen und mit stattlichem Gehalt - durch Friedrich Wilhelm III. Bis zu seiner endgültigen Übersiedlung nach Berlin im Jahre 1827 sollte sich Humboldt stets nur kurz in seiner Heimatstadt aufhalten, ohne freilich je den Kontakt zum deutschsprachigen Raum und zu seinem dortigen Publikum zu verlieren. Alexander von Humboldts Präferenzen lagen in dieser zweiten, zwischen der amerikanischen und der russisch-sibirischen Forschungsreise angesiedelten Epoche seines Lebens, der Zeit intensiver wissenschaftlicher Arbeit und größten wissenschaftlichen Renommees, unverkennbar außerhalb Preußens. Der jüngere der beiden Humboldt-Brüder diente seinem König wohl als wissenschaftliches und geistiges Aushängeschild des zwar aufstrebenden, aber - wie die napoleonische Besatzungszeit gezeigt hatte - stets gefährdeten Staatswesens; er diente ihm aber nicht im traditionellen Sinne in Staat und Armee, wie es noch immer die Sitte des preußischen Adels war.

     Die weltbürgerlich-kosmopolitische Dimension ebenso des Humboldtschen Lebensstils - die nicht nur seine Familie bekümmerte, sondern nicht selten auch andere Zeitgenossen verdrießte - wie auch der Humboldtschen Wissenschaft[27] insgesamt waren tief in der Tradition des 18. Jahrhunderts verwurzelt. Ihnen kam eine philosophische und ethische Tragweite zu, der sich der Verfasser des Kosmos ein Leben lang verpflichtet fühlte. Gerade nach den napoleonischen Eroberungskriegen aber hatte im deutschsprachigen Raum ein fundamentaler Klimawechsel stattgefunden, der sich beispielhaft am Positionswechsel Fichtes, aber auch am Orientierungswandel der romantischen Generation nachvollziehen läßt. Die Zeit von Kosmopolitismus und Weltbürgertum im Sinne des 18. Jahrhunderts war fraglos vorbei:

It marks the end of the Enlightenment and the beginning of a new era, although early German Romanticism is not yet reactionary and nationalistic. But under the influence of the French war efforts this turn came soon. Napoleon's conquests provoked a surge of nationalisms, and the later romanticism was a leading movement in this respect. [...] The other cosmopolitan voices died down, too. In the Geschlossene Handelsstaat (1800) Fichte retracted much of what he had written on cosmopolitan law, and turned increasingly nationalistic. Wieland withdrew from public life after 1800. He was hurt by Friedrich and August Wilhelm Schlegel, who publicly attacked him for his orientation toward world literature and for alleged unoriginality, and he was disillusioned by continued European warfare and the rise of nationalism. Hegewisch focussed on his historical writings. Forster died in 1794, and Kant died in 1804 after several years of dementia.[28]

Alexander von Humboldt hingegen wandte sich von seiner weltbürgerlichen Grundhaltung, seinem ethisch fundierten Weltbewußtsein[29] nicht ab, sondern versuchte vielmehr, mit seinen Vorstellungen und Forschungen längerfristig auf den Zeitgeist einzuwirken und bei seinen europäischen (und darunter auch preußischen) Zeitgenossen ein Bewußtsein für globale Zusammenhänge zu schaffen. Sein interkulturelles und transdisziplinäres Wissenschaftsverständnis ist zutiefst von einem Kosmopolitismus geprägt, der ein anderes, auf einem multipolaren Beziehungsgeflecht von Welthandel und Weltverkehr aufbauendes Moderne-Projekt favorisierte. Die Propagierung vorrangig nationalstaatlicher oder gar nationalistischer Vorstellungen, ein Denken in engen staatsbürgerlichen Grenzen waren ihm fremd, ja zuwider. Mit welcher Freude zog er über derartige Kleingeisterei her; gerne erinnerte er seinen Freund Varnhagen von Ense in einem Brief vom 3. Juni 1839 an die Qualitäten von dessen verstorbener Lebensgefährtin Rahel Varnhagen, die - wie er des öfteren bemerkte - einer vergangenen Epoche angehöre, während doch die Zukunft einer noch weitaus vergangeneren gehören könnte:

Besonders freut mich die Anerkennung Ihres Talents, Ihrer Darstellungsweise, die Anerkennung des Seelenreichthums, der in Rahel's Briefen (wenigen offenbaret) liegt. Adam Müller's aristokratische Rücken, und die so bäurisch natürlich verliebte, bucklige und deßhalb gewiß etwas unzüchtige Prinzessin gewähren den herrlichsten Kontrast des politischen und menschlichen Unraths. "Das Vaterland retten, sagt Gentz'ens erster Mensch, heißt den preußischen Adel wieder in seine Rechte einsetzen, ihn unbesteuret zu lassen, damit er, nach einer kurzen Negoziazion, dem Monarchen sein don gratuit frei darbringen könne. Dazu muß der Mensch unauflöslich an den Boden gefesselt bleiben." Wie die Montmorency's der Ukermark sich müssen gefreuet haben was nutzlos in ihren armen Seelen lag, in so schulgerechte Dogmen gegossen, in so gebildeter Sprache von einem talentvollen Schriftsteller ausgedrückt zu sehen! An Raum und Zeit ist dieser Kastengeist nicht gebunden. Gespensterartig wird er sich drohend einst wieder zeigen, wenn ich nicht mehr sein werde. [...] Benjamin Constant hat diesen unbeweglichen Erbtheil der Gesinnung sehr hübsch in der Parabel des Schiffbruchs ausgedrückt: "Grand Dieu, je ne suis pas assez indiscret pour vous prier de nous sauver tous. Sauvez-moi tout seul."[30]

Damit ist jenseits einer durchaus zutreffenden Prophezeiung für die Zeit nach seinem Tod nicht nur eine politische, sondern auch eine kulturelle Position markiert. Dies belegen zum einen die spitzen Bemerkungen zu Adam Müller, einem der namhaftesten Vertreter einer romantischen Staats- und Gesellschaftslehre und Gegner der Hardenbergschen Reformen, sowie die Moquerie über den zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls längst verstorbenen Friedrich von Gentz, einem der Wortführer einer konservativen und gegen die revolutionären französischen Ideen gerichteten Politik. Traditionelle Forderungen des preußischen Adels, die noch in Theodor Fontanes Epoche aktuell waren - und von diesem zumeist nicht weniger indigniert zurückgewiesen wurden -, werden zum anderen von den Verweisen auf Rahel Varnhagen und Benjamin Constant gleichsam »gerahmt«: Den monolithischen Ansprüchen der traditionellen Trägerschicht des preußischen Staates wird im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne eine kulturelle Vielsprachigkeit entgegengesetzt. Zusammen mit vielen anderen Passagen, in denen sich Alexander von Humboldt über die Enge Preußens, über Berlin und seine "Weltelephanten"[31], Potsdam und seinen kleingeistigen Hof mit seiner "kleinlichen Moquerie und Tadelsucht"[32] lustig machte, demonstriert die obige Passage eindrucksvoll, wie sehr dem adligen Weltreisenden ein provinzielles Preußen verhaßt war, in dem die für den Staat konstitutive Allianz zwischen preußischem (Land-) Adel und Königsthron freiheitliche Bestrebungen und Aktivitäten aller Art unterdrückte. Vor diesem Hintergrund wird noch anschaulicher, welche Ziele sich seine Wissenschaft des weltweiten Vergleichs, des Weltbewußtseins, des Austauschs zwischen Kulturen und Kontinenten bei aller zeitbedingten Perspektivierung gesetzt und welcher Zukunftsvision sie sich verschrieben hatte.


[23] Vgl. hierzu Beck, Hanno: Alexander von Humboldt. Bd. II: Vom Reisewerk zum »Kosmos«: 1804 - 1859. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1961, S. 9.

[24] Ebda., S. 10. Der vollständig bislang nur in französischer Sprache veröffentlichte, ursprünglich aber auf Deutsch abgefaßte Brief trägt als Datum freilich den 3. September 1804, eine keineswegs überlange Wartezeit, da Humboldt zunächst seine persönlichen und finanziellen Verhältnisse ordnen mußte. Vgl. den Abdruck dieses Briefes an den preußischen König in Lettres américaines d'Alexandre de Humboldt (1798 - 1807). Précédées d'une Notice de J.-G. Delamétherie et suivies d'un choix de documents en partie inédits. Publiées avec une introduction et des notes par le Dr E.T. Hamy. Paris: Librairie Orientale et Américaine E. Guilmoto 1905, S. 173.

[25] Ebda., S. 173 f.

[26] Ebda., S. 174 f.

[27] Vgl. Verf.: Der Wissenschaftler als Weltbürger. Alexander von Humboldt auf dem Weg zur Kosmopolitik. In: Ette, Ottmar / Bernecker, Walther L. (Hg.): Ansichten Amerikas. Neuere Studien zu Alexander von Humboldt. Frankfurt am Main: Vervuert 2001, S. 231-261.

[28] Kleingeld, Pauline: Six varieties of Cosmopolitanism in Late Eighteenth-Century Germany. In: Journal of the History of Ideas (Baltimore) LX, 3 (july 1999), S. 523 f.

[29] Vgl. Verf.: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002.

[30] Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, a.a.O., S. 56 f.

[31] Ebda., S. 47.

[32] Ebda., S. 42.

 

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