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Stand: 12. August 2005
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HiN - Humboldt im Netz

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Eberhard Knobloch

Naturgenuss und Weltgemälde. Gedanken zu Humboldts Kosmos

 

5. Der große Geist: Kant

 

Lese er eine Seite im Kant, werde ihm zumute, als träte er in ein helles Zimmer: ein Wort Goethes zu Schopenhauer, der selbst undeutliches Denken mit dem Sehen durch ein schlechtes Fernrohr verglich, ein Vergleich, der dem Fernrohrverehrer Humboldt gefallen haben muß (1818 III, 159). Kant, die Lichtgestalt, deren Denken die Goethezeit geprägt hat, auch und gerade Alexander von Humboldt. Kant, der bereits in seiner „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ ausgiebig Alexander Pope und dessen Verse über die Wunderkette zitiert hatte, „die alle Teile dieser Welt vereinet und zusammenhält“ (Kant 1755, 255).

 

Sprach Schopenhauer von „Kants großem Geist“ (Schopenhauer 1818 II, 544), so nannte ihn Humboldt im Kosmos unmittelbar den „großen Geist“, Kants von ihm ausgiebig referierte „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ (III, 34) eines von dessen „merkwürdigsten Erzeugnissen“ (V, 7).

 

Kant entwickelt darin ein „Forschungsprogramm dynamische Naturwissenschaft“ (Wolters 1989, 216), das für Humboldt, insbesondere seinen Kosmos entscheidende Bedeutung gewann. Die Humboldtschen Kernbegriffe Natur, Naturwissenschaft, Mathematik finden dort ihr Vorbild, ihre Erklärung.

 

Danach ist Natur (in materieller Bedeutung genommen) der Inbegriff aller Dinge, sofern sie Gegenstände unserer Sinne, also der Erfahrung, sein können, das Ganze aller Erscheinungen, die Sinnenwelt (Kant 1786, 11; Kant 1799, 237, 245, 469, 499), eine Definition, die Kant in der „Critik der Urteilskraft“ mehrfach wiederholt.

 

Naturlehre, also nur systematisch geordnete Fakten der Naturdinge, ist von Naturwissenschaft zu trennen. Eigentliche Naturwissenschaft behandelt ihren Gegenstand allein nach Prinzipien a priori, erfahrungsunabhängig, uneigentliche Naturwissenschaft nach Erfahrungsgesetzen. Eigentliche Naturwissenschaft bedarf nach dieser Klassifikation eines reinen Teils, das heißt eines Teils, in dem keine Komponenten aus  sinnlicher Wahrnehmung eine Rolle spielen. Nun heißt reine Vernunfterkenntnis, die auf der Konstruktion der Begriffe, auf einer Darstellung des Gegenstandes in einer Anschauung a priori beruht, Mathematik.

 

Da in jeder Naturlehre nach der Kantischen Klassifikation nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis a priori befindet, so wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann (Kant 1786, 14f.). Mit anderen Worten: ohne Mathematik keine eigentliche Naturwissenschaft, keine apodiktische, statt empirischer Gewißheit. Kant begründet die Ausnahmestellung der Mathematik in der Wissenschaft, Mathematik ist für diese konstitutiv.

 

Kants dynamische Materietheorie lehrte im bewußten Gegenprogramm zum Atomismus, dass Materie Raum nicht nur durch ihre bloße Existenz erfüllt, sondern durch zwei Arten einer besonderen bewegenden Grundkraft: die Anziehungs- und die Zurückstoßungskraft (1786, 48). Humboldt hat das Konzept der inhärenten Kraft übernommen (Macpherson 1971, 3), Kant namentlich als Verfasser der Lehre von den zwei Grundkräften genannt (III, 17).

 

Nun kann Natur als Gegenstand der Sinne ohne allgemeine Gesetze nicht gedacht werden, die ihren Grund in unserem Verstand haben (1799, 252, 255f.). Deshalb muß die Natureinheit notwendig vorausgesetzt werden, da anderenfalls kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnis zu einem Ganzen der Erfahrung stattfinden würde. Denn die allgemeinen Naturgesetze geben einen solchen Zusammenhang als Naturdinge ihrer Geltung nach an die Hand, nicht als besondere Naturwesen.

 

Kants „Kritik der Urteilskraft“ sichert über die Einheit der Natur deren Ordnung nach Gesetzen, ein zutiefst humboldtscher Gedanke im „Kosmos“. Der Naturbegriff des kritischen Kant wie Humboldts ist der Begriff einer in ihrem Gesetzeszusammenhang erkannten Natur (Wolters 1989, 211).

 

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