Archivkopie der Website http://www.humboldt-im-netz.de |
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Ulrike Leitner
Einleitung
Das vorliegende Heft der Zeitschrift ”Humboldt im Netz” ist dem Sonderthema der Digitalisierung von Humboldts Reisewerk gewidmet. Zur Digitalisierung historischer Literatur ist in den letzten Jahren viel und kontrovers diskutiert worden. In der Zwischenzeit haben digitale Projekte ihren Leserkreis gefunden und ihren Platz in der Forschung erobert.
Das geplante Projekt zur Digitalisierung des sog. Amerikanischen Reisewerks Alexander von Humboldts (”Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent ...”) soll mehreren Zielen dienen, die auch die Konzeption des Projektes bestimmt haben. Erstens soll die Verfügbarkeit des seltenen und schwer zugänglichen Werkes, das nur in wenigen Bibliotheken vollständig vorhanden ist, verbessert werden. Zweitens soll eine neue Form des Textvergleichs ermöglicht werden. Durch die Kompliziertheit des Publikationsprozesses (häufiger Verlegerwechsel, Abbruch und Neudruck, Publikation in Lieferungen) und durch eine Fülle von Übersetzungen, Nachauflagen, Auszügen, Wiederabdrucken usw. blieb die Zugehörigkeit mancher Schriften zum Reisewerk oder die Konzeption des Gesamtwerks bisher oft unklar. Drittens soll der Zugang zu den einzelnen Werken, der durch das Fehlen von Registern und Gliederungen in den zeitgenössischen Drucken eher mangelhaft ist, erleichtert werden.
Alexander von Humboldt wird zwar überall, in fast jedem Wissenschaftsgebiet, gelesen und zitiert, aber kaum jemand kennt das Werk wirklich in seiner Vielfalt und Eigenart. Eine Digitalisierung könnte - neben der Bereitstellung des Werkes überhaupt - mit einer innovativen Technologie auch einen inhaltlichen Zugang zum wenig erschlossenen Reisewerks Humboldts bieten, der weit über den in Büchern üblichen Zugang durch den kritischen Apparat hinausgehen könnte. Damit könnte erstmals die in der Humboldt-Forschung in letzter Zeit untersuchte vernetzte Struktur - einer der Grundzüge der sog. Humboldtian science - sichtbar und nutzbar werden.
Bisher wird meist aus unzulänglichen Nachauflagen oder Übersetzungen zitiert. Einen vollständigen Nachdruck bietet nur ein Faksimile-Druck (Olms-Verlag 1970-73), der aber inzwischen vergriffen ist und dessen Seltenheit in Bibliotheken fast schon das Maß der Originaldrucke erreicht. Der im Internet bereitgestellte Text
LINK ist eine zwar wertvolle Bereitstellung eines Textes – aber eben nur eine erste Stufe einer Digitalisierung, da er keine Volltexterfassung bietet. Bisher war daher eine Suche unter bestimmten Stichworten kaum möglich, weder im Buch noch im Internet, was in der wissenschaftshistorischen Forschung deutlich spürbar ist. Zitiert und verwendet wurden bei bestimmten Themen meist dieselben Beispiele, viele von Humboldt behandelte Themen wurden übersehen, oft wurden aus ihrem Kontext gerissene Zitate weiter tradiert. Kaum ein Wissenschaftler kann das in der französischen Ausgabe insgesamt 29 Bände umfassende Reisewerk vollständig lesen, er ist kaum in der Lage, die Querverbindungen der Bände untereinander weiterzuverfolgen oder gar die Abweichungen der Ausgaben in den verschiedenen Sprachen zu vergleichen. Hiermit ist ein weiteres Problem angedeutet: das der Übersetzungen. Die Mehrsprachigkeit seines Reisewerks war von Humboldt von Beginn an konzipiert. So schreibt eine zeitgenössische Buchhandelsanzeige: ”Da ein langer Aufenthalt in Paris und ein genauer Umgang mit den dortigen Gelehrten Herrn v. Humboldt die französische Sprache so geläufig gemacht hat, als seine Muttersprache, so ist er entschlossen, alle diese Werke in beiden Sprachen heraus zu geben, so dass also die französische so wohl, als auch die deutsche Ausgabe, Originale sind.” (Annalen der Physik 20 (1805), 361-368) Hinzu kommen die spanischen und englischen Übersetzungen, die teilweise in engem Kontakt mit dem Autor in Paris entstanden. Viele Bände erschienen gleichzeitig oder in Lieferungen zeitlich verschachtelt, mit späteren Hinzufügungen und Umstellungen, so daß in manchen Fällen kaum zu entscheiden ist, was Original ist und was Übersetzung. Der Vergleich der Fassungen in den verschiedenen Sprachen wäre also ein weiterer Nutzeffekt eines multilingual angelegten Digitalisierungsprojektes.
Ein wesentlicher Kernpunkt ist auch die Verbindung von Text/Bild. Durch interaktive Karten und die Verknüpfung bestimmter Schlagworte in Datenbanken wäre ein Wandern zwischen Text und Karte möglich. Mit einem derartigen intermedialen Ansatz würde ein Charakteristikum der Humboldtschen Wissensorganisation realisiert werden.
Die finanzielle Unterstützung durch das die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit fördernde Transcoop-Programm ermöglichte die Zusammenarbeit von Forschern der betroffenen Disziplinen (Germanistik, Reiseforschung, Wissenschaftsgeschichte, Technik, Naturwissenschaften) in unterschiedlichen Konstellationen und das Ausprobieren verschiedener Aspekte. Multilingualität, transatlantischer Austausch, Interdisziplinarität, Vernetzung prägten die Arbeit in der Konzeptionsphase - Begriffe, die Humboldts Arbeitsweise kennzeichneten. In Workshops, Tagungen und Arbeitsaufenthalten am Partnerinstitut wurden Ideen entwickelt und diskutiert. Die Phase der Projektentwicklung hat nun einen ersten Abschluß erreicht, so daß erste Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt werden können.
Die inhaltliche Debatte führte zu ersten Ergebnissen: Anhand eines Textprototypen wurde die Technologie getestet, und die Digitalisierung des englischen Textes ist ein weites Stück vorangeschritten. Als Text wurde ein Teil der Orinokoreise ausgewählt, der typische Eigenschaften des Humboldtschen Werkes besitzt: Er existiert in mehreren Übersetzungen und als Tagebuchversion, er enthält wesentliche historische Quellen und in den Fußnoten Verweise auf andere Werke Humboldts sowie Hinweise auf naturhistorische Disziplinen. So konnte an ihm die Technologie entwickelt und erprobt werden (siehe Beispiel:
LINK) und die vernetzte Textstruktur mit ihren Links gezeigt werden (siehe Beispiel:
LINK). Diese Beispiele sollen die Zielsetzung der eigentlichen digitalen Bibliothek andeuten.
Das Spektrum der Beiträge in diesem Heft ist bewußt breit gefächert. Sie sollen nicht nur eine Beschreibung des Projektes sein, sondern auch einige der Forschungsrichtungen andeuten, die durch eine Realisierung der geplanten Digitalisierung angeregt werden können, und gleichzeitig in die Diskussion über Sinn und Nutzen von Digitalisierungsprojekten eingreifen.
Direkt auf das Digitalisierungsprojekt beziehen sich die Beiträge von Detlev Doherr, Wolfgang Griep und Ulrike Leitner.
Detlev Doherr stellt das innovative Konzept einer neuen Technologie vor: die Verbindung der digitalen Bibliothek mit relationalen Datenbanken und interaktiven Karten (siehe Beispiel:
LINK). Der Zugang soll durch ein sich immer mehr erweiterndes System der dynamischen Verbindung zwischen Suchwort, Text und Karte ermöglicht werden.
Wolfgang Griep zeigt an Beispielen das historische Netz, das sich hinter dem Humboldtschen Reisewerk verbirgt. Bisher sind die von Humboldt benutzten und zitierten Quellen nur in Ansätzen untersucht worden. Eine komplette Übersicht und damit eine Verbindung zur existierenden historischen Reiseforschung würde durch eine digitale Bibliothek bereitgestellt werden.
Ulrike Leitner erläutert die vernetzte Textstruktur in Humboldts Werk in verschiedenen Dimensionen. Typisch für Humboldts Schreibweise sind Querverbindungen innerhalb einer Schrift selbst, zwischen den einzelnen Werken und einem größeren Netz im Gesamtschaffen Humboldts sowie mit seinen Tagebüchern und Briefen, die in dem bisherigen linearen Zugang kaum gesehen werden konnten. Vor dem komplizierten bibliographischen Hintergrund zeigt sie an Beispielen derartige ”Links” auf.
Die weiteren Beiträge zeigen Ansätze einer darüber hinausgehenden Diskussion.
Markus Schnöpf stellt das geplante Projekt durch die Vorstellung eines weiteren Digitalisierungsprojektes (Digitalisierung der historischen Literatur zu Teneriffa) in einen größeren Zusammenhang und diskutiert allgemeine Probleme der Bereitstellung im Netz.
Frank Baron zeigt an einem Beispiel - dem Einfluß A. v. Humboldts auf den Landschaftsmaler Church - einen weiteren Aspekt des Digitalisierungsprojekts: Der Übergang vom Medium Buch zum Internet soll nicht nur der Bereitstellung von Texten dienen, sondern kann auch die Verbindung zu weiteren Medien (hier: Bild) sowie Anregung zu weiterer historischer Forschung bieten. Der literaturwissenschaftliche Zugang in
Rex Clarks Vergleich der Schilderungen verschiedener Vulkanbesteigungen zeigt das über die Wissenschaftsgeschichte hinausgehende Interesse an Humboldts Reisewerk.
Berlin, März 2005 Ulrike Leitner
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