Archivkopie der Website http://www.humboldt-im-netz.de
Gespiegelte Fassung auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam
Stand: 12. August 2005
Achtung: Diese Version der Website ist nicht aktuell. Um die aktuelle Fassung der Seiten zu betrachten, folgen Sie bitte dem Hyperlink http://www.hin-online.de/

HiN - Humboldt im Netz

______________________________________________________

  

Wolfgang Griep

Die Bedeutung der Umkreisquellen für 
Alexander von Humboldts südamerikanische Reise

2. Forscher und Entdecker

Spätestens im 18. Jahrhundert war die »Terra Firma« von Südamerika in den Brennpunkt europäischer Interessen und Erkundungen getreten. Nicht nur die spanische Krone hatte unter Karl III. und Karl IV. aus einleuchtenden wirtschaftlichen und machtpolitischen Gründen ein erhebliches Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Kolonien zu zeigen begonnen[1]; auch Angehörige anderer Nationen waren - immer unter den mißtrauischen Augen der Landesherren und oftmals behindert - zwischen dem Amazonas und Panama, zwischen den Anden und Antillen unterwegs. Es waren Forscher und Missionare, Kaufleute, Verwalter und Abenteurer mit unterschiedlichsten Vorbildungen, Kenntnissen und Zielsetzungen. Obwohl nicht alle ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu Papier brachten (oder bringen konnten), obwohl nicht alle Manuskripte publiziert wurden (oder publiziert werden durften), ist die Zahl der Druckwerke allein aus dem 18. Jahrhundert erstaunlich groß, wie schon ein flüchtiger Blick in die einschlägigen landeskundlichen Bibliographien zeigt.[2] Mehr als zweihundert itinerare oder topographische Editionen (die allgemeinen geographischen und Kartenwerke nicht mitgerechnet) listet etwa das Literaturverzeichnis von Bruni Celli allein für das 18. Jahrhundert auf. Eine Überprüfung an den bisher vorliegenden Tagebucheditionen[3] von Humboldts amerikanischer Reise zeigt, daß der Forscher tatsächlich einen Großteil dieses Materials - neben Werken aus anderen Wissenschaftsdisziplinen und unpublizierten Manuskripten - rezipiert und ausgewertet hat (darüber hinaus natürlich auch Reisebeschreibungen in andere Teile der Welt, vor allem in den Orient, nach Afrika und Asien).

Die auf Vollständigkeit bedachte Auflistung der Umkreisquellen (für die in den Tagebucheditionen bereits umfängliche Vorarbeiten geleistet worden sind) wäre die unabdingbare Grundlage für die weitergehende Frage nach der Art, wie Humboldt das vorliegende Faktenmaterial verarbeitet und wie er sich dabei zugleich in den Forschungskontext eingeschrieben hat. Zwei Faktoren wären dabei grundlegend zu berücksichtigen:

1. Bis in das 19. Jahrhundert hinein waren Übersetzungen und Neueditionen immer auch Umarbeitungen, mitunter sogar Neuinterpretationen. Die Nachrichten des Jesuitenpaters Christobal de Acuña[4] beispielsweise von den noch unentdeckten Gebieten am Amazonas, 1641 zuerst in Madrid erschienen, waren Humboldt wahrscheinlich in einer frühen französischen Bearbeitung von 1655 zugänglich, die neben Acuñas auch weitere Texte zu einem neuen Ganzen kompiliert hatte. Derartige Veränderungen beeinflussen natürlich entscheidend auch die Rezeption. Die Frage nach den von Humboldt herangezogenen Autoren wäre also zu konkretisieren um die Frage nach den von ihm benutzten Editionen und deren Qualität.

2. Ein weitergreifendes Beziehungsgeflecht erschließt sich zwangsläufig, wenn man bedenkt, daß auch Humboldts Vorläufer nicht unvorbereitet und unbeeinflußt auf ihre Reisen gegangen sind. Auch sie standen in einem Forschungs- und Diskussionszusammenhang, den sie mehr oder minder explizit in ihren Berichten zu benennen pflegten. Das umfangreiche Werk des italienischen Jesuitenpaters Filippo Salvatore Gilij[5] über seine Forschungen am Orinoco etwa ist zu weiten Teilen Auseinandersetzung mit dem »Orinoco ilustrado« des spanischen Paters José Gumilla, bezieht zudem neben selbst Gesehenem auch Überlieferungen und mündliche Nachrichten Dritter in einer nur schwer zu entwirrenden Gemengelage von Fakten und Fiktionen in den Bericht mit ein. Tradition und Rezeption spannen ein engmaschiges Netz in Raum und Zeit, in dem neben Humboldt auch seine Vorgänger - und ebenso wieder deren Vorläufer - zu verorten wären. Wer die »Netzwerke des Wissens«, die Alexander von Humboldt in einer visionären Zusammenschau auszuspannen suchte,[6] in ihren Relationen und Knotenpunkten rekonstruieren wollte, müßte auch die Netze wieder sichtbar machen, in die Humboldts Forschungen ihrerseits verflochten sind. Daß dieses Geflecht dem Forscher selbst sehr bewußt war, illustriert anschaulich vor allem die Tatsache, daß er im Zusammenhang mit der Reisebeschreibung auch eine detaillierte, kritische Untersuchung der Entdeckungsgeschichte Mittel- und Südamerikas verfaßte, für die er umfangreich Material sammelte.[7] Sie ist, wie die Beschreibung der Reise selbst, Fragment geblieben.



[1] Vg. dazu etwa Schuster (wie Anm. 1), S. 8; Faak (wie Anm. 2), S. 12 f.

[2] Ich nenne hier nur die umfangreichen Werke von Blas Bruni Celli: Venezuela en 5 siglos de imprenta. [Bibliografía relativa a Venezuela]. Caracas: Acad. Nacional de la Historia 1998, und Rubens Borba de Moraes: Bibliographica Brasiliana. Rare books about Brazil published from 1504 to 1900 and works by Brazilian authors of the colonial period. Revised and enlarged edited. Bd. 1-2. - Los Angeles / Rio de Janeiro 1983. Vgl. zu den Forschungen vor Humboldt auch Griep (wie Anm. 2), S. 123 ff.

[3] Neben den in Anm. 2 und Anm. 5 genannten Editionen wäre als dritte zu nennen Alexander von Humboldt: Reise auf dem Río Magdalena, durch die Anden und Mexico. Aus seinen Reisetagebüchern zusammengestellt und erläutert durch Margot Faak. Mit einer einleitenden Studie von Kurt-R. Biermann. Tl. 1-2. – Berlin 1983. Die drei Tagebucheditionen sind explizit Auswahleditionen vor allem der spannenden und erlebnisorientierten Etappen des Reiseverlaufs und konzentrieren sich zudem zu mehr als der Hälfte auf Material, das nicht zu den von Humboldt beschriebenen Teilen der Reise gehört. Eine systematische Durchsicht der Tagebücher im Hinblick auf die Umkreisquellen steht noch aus.

[4] Der spanische Jesuit Christobal de Acuña (1597-1675) begleitete den portugiesischen Kartographen Luís Texeira auf der Rückreise von Quito nach Pará und beschrieb das Flußsystem Amazoniens nach eigenen Anschauungen und den Angaben Dritter, darunter an der Mündung des Rio Negro zuerst auch die später durch Humboldt bekannt gewordene Flußgabelung zum Orinoco. Vgl. Henze, Dietmar: Art. Acuña. – In: ders: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde. Bd. 1. – Graz 1978, S. 15 f.

[5] Der italienische Jesuit Filippo Salvatore Gilij (1721-1789) hatte 18 Jahre lang, von 1749 bis 1767, als Missionar am mittleren Orinoco gelebt und nach der Rückkehr nach Italien seine Beobachtungen in einer vierbändigen »Saggio di Storia Americana« (Rom 1780-1784) niedergelegt. Humboldt hatte 1805 in Rom nicht nur Gelegenheit, die Originalausgabe dieses Werkes, sondern auch den handschriftlichen Nachlaß Gilijs einzusehen.

[6] So auch der Titel der großen Humboldt-Ausstellung im »Humboldt-Jahr« 1999. Vgl. Frank Holl / Kai Reschke: »Alles ist Wechselwirkung« - Alexander von Humboldt. – In: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens. – [Berlin 1999], S. 12 ff.

[7] Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Horst Fiedler / Ulrike Leitner: Alexander von Humboldts Schriften. Bibliographie der selbständig erschienenen Werke. – Berlin 2000, S. 152 ff.

______________________________________________________

<< letzte Seite  |  Übersicht  |  nächste Seite >>