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Gespiegelte Fassung auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam
Stand: 12. August 2005
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HiN - Humboldt im Netz

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Ulrike Leitner

Vielschichtigkeit und Komplexität
im Reisewerk Alexander von Humboldts - Bibliographischer Hintergrund

V. Dimension: der epistolarische Nachlaß

Zu dem weiteren Netzwerk gehört auch der aus den Briefen und Tagebüchern bestehende Nachlaß Humboldts. Seit ihrer Gründung während der Vorbereitungen der 150-Jahrfeier von Humboldts Todestag war die Alexander-von-Humboldt-Kommission, später -Forschungsstelle bemüht um die Sammlung und Erschließung der umfangreichen, in alle Welt verstreuten Humboldt-Korrespondenz. Mehr als 10 000 Briefe sind hier erfaßt, die meisten in Kopien und Transkriptionen. Die Tagebücher (im Besitz der Familie  von Heinz auf Schloß Tegel, Nachkommen W. v. Humboldts) liegen in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz. Sie sind in gekürzter Form in mehreren Bänden ediert.[1]

Das über die vernetzte Textstruktur gesagte gilt bereits für die Tagebücher, und hier noch in weit stärkerem Maße. Humboldt beschrieb nicht Tag für Tag seine Erlebnisse und Begegnungen, sondern notierte seine Beobachtungen, Reflexionen, Notizen aus Publikationen Anderer und wissenschaftliche Schlußfolgerungen in einzelne Hefte. Humboldt war Sammler, er notierte alles, ohne zu wissen, ob er es später für seine Publikationen gebrauchen konnte. ”Ich habe es mir zur Pflicht gemacht, alle angestellte Beobachtungen ohne Auswahl in mein Tagebuch einzutragen”[2] schreibt Humboldt selbst. Man findet eine Mischung aus Meßdaten, Beobachtungen, Schilderungen persönlicher Erlebnisse und der Natur. Die chronologische Darstellung des Reiseverlaufs wird unterbrochen von naturwissenschaftlichen, historischen und gesellschaftskritischen Notizen, die manchmal zu eigenen Essays ausuferten, Auszügen aus Manuskripten oder Büchern anderer Autoren oder von Archivmaterialien, Bemerkungen über seine finanziellen Ausgaben, wissenschaftlichen Schlußfolgerungen, Hinweisen für geplante Publikationen, Schilderungen von Exkursionen usw. Er schuf damit ”ein Depositum, in dem er alles aufbewahrte, was die Reise ihm brachte, um es später in seinen Publikationen verarbeiten zu können.”[3]

Die Notizen in den Tagebüchern stellen jedoch kein ungeordnetes Chaos dar, denn dieser scheinbare Flickenteppich zeigt Muster. Die verschiedenartigen Notizen lassen netzartig verschlungene Wissenswege erkennen, die vom Wissenserwerb über die Notizen in den Tagebüchern bis zu seinen Publikationen, über die Rezeption und manchmal wiederum Notizen aus späterer Zeit (Humboldt hat noch in den 50er Jahren Bemerkungen hinzugefügt) nachvollzogen werden können. Insofern sind die Tagebücher Abbild von Humboldts Arbeitsstil und der für ihn typischen Wissensorganisation.

Die vernetzte Struktur zeigt sich jedoch auch in anderen Zeichen, z. B. in den direkten Verweisen zwischen „Relation historique“ und Tagebüchern.

In den Tagebüchern gibt es Randbemerkungen über bereits Publiziertes oder Publikationsvorhaben, z. B. aus dem Tagebuch von Mexiko-Stadt nach Veracruz[4]: “Cholula: erzähle hier Geschichte von Quetzalcoatl ganz in meinen histor[ischen] MSS u. über Tlaxcalla, Cholula Torq[uemada], II p. 374.” Humboldt notiert hier seinen Plan, die Geschichte des aztekischen Gottes Quetzalcoatl (dessen Pyramide in Cholula Humboldt während seiner Reise von Mexiko-Stadt nach Veracruz besuchte) in seiner “Relation historique” darzustellen, wozu es aber wegen des Abbruchs der Publikation nicht kam. Oft gibt es auch Randbemerkungen mit Hinweisen auf bereits Publiziertes (meist aus der “Astronomie”), wie man an den konkreten Seitenzahlen sehen kann. Der zweite Teil der zitierten Randbemerkung verweist auf eine von  Humboldt gelesene Literatur[5], ein besonders häufiger Typus seiner Randbemerkungen, die meist aus späterer Zeit (wie manchmal an den Erscheinungsdaten der zitierten Werke sichtbar) stammen. Derartige Identifizierungen in den Editionen der Tagebücher können eine wertvolle Hilfe für eine Edition auch des Reisewerks sein, wie überhaupt der umfangreiche Apparat dort (Register, Literaturverzeichnisse, Anmerkungen der Herausgeber) eine erste Grundlage einer mit Registern versehenen Edition des Reisewerks sein könnte, da die in den Tagebüchern von Humboldt genannten Quellen in der „Relation historique“ wieder auftauchen.

Die meisten Verweise in den Tagebüchern sind jedoch Querverweise auf andere Teile des Tagebuchs, beispielsweise ”voyez livre jaune” bzw. “p. 154” und sie sind heute besonders mühsam zu identifizieren, da Humboldt die während der Reise benutzten Hefte gegen Ende seines Lebens auseinandernahm und neu binden ließ.[6] Es ist fast unerklärlich, wie Humboldt das komplizierte Geflecht über Jahrzehnte im Auge behalten konnte. Als ein Hilfsmittel findet man im Tagebuch ein mehrseitiges alphabetisches Register, begonnen kurz nach der Rückkehr von der Reise am 4. Dezember 1805. In einer hier abgebildeten Beispielseite findet man Humboldts Texte zur Orinocoreise.

„Index général de mes Mss. comencé le 4 Déc. 1805.” (Ausschnitt aus Humboldts persönlichem Tagebuchregister; Tagebuch V, Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz)

Abb. 2    

„Index général de mes Mss. comencé le 4 Déc. 1805.” 
(Ausschnitt aus Humboldts persönlichem Tagebuchregister; Tagebuch V, Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz)

Auf der ersten Seite dieses Registers sind einleitend die einzelnen Tagebuchhefte aufgelistet: Heft I bis V sind während der Reise chronologisch geführte Hefte, Heft IX betrifft die Mexikoreise und Heft X ist “le Volume des Résultats.” Sie waren gebunden in verschiedene Farben, auf die sich Humboldt in seinen Randbemerkungen bezieht. Vermutlich hat er also ursprünglich zusammenfassende Essays in das Heft X notiert – wie bedauerlich, daß wir dessen Inhalt heute nicht mehr kennen und derartige Essays nur inmitten anderer Texte zufällig auffinden können!

Auch die während der Reise verfaßten Passagen des Tagebuchs sind unterschiedlichen Bearbeitungs- und Reflexionsgrades. Viele Seiten, beispielsweise die seitenlangen Meßreihen, sind an Ort und Stelle in das Tagebuch eingetragen, andere, beispielsweise die daraus resultierenden Berechnungen, zu einem späteren Zeitpunkt während der Reise, während eines längeren Aufenthalts. Bereits berechnete Werte, also eine zweite Bearbeitungsstufe, sandte Humboldt an Zach und Delambre nach Europa. Eine dritte Bearbeitungsstufe findet man dann in den von Oltmanns publizierten Berechnungen in der Astronomie, und von seinen Bearbeitungen zeugen viele Anmerkungen seiner Hand in den Tagebüchern.[7] Jedoch auch für andere naturhistorische Disziplinen findet man in diesem größeren Netz (Tagebücher und Korrespondenz) Beispiele, so Botanisches in den Briefen an Willdenow.

In die Tagebücher sind ebenfalls die Informationen und Daten eingetragen, die Humboldt während seiner Reise von anderen erhalten hatte (s. Dim. 6) und die dann in seinen Publikationen wieder auftauchten, meist mit Quellenangaben in Fußnoten (s. Dim. 2). Sichtbar wird dieses Informationsnetz auch in seiner Korrespondenz.

Neben den Tagebüchern und Briefen Humboldts sind diesem größeren Netz weitere Manuskripte im Nachlaß Humboldts zuzurechnen, darunter Textentwürfe und gesammeltes Material für seine Publikationen in Berlin (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz) und Krakow (Biblioteka Jagiellonska), sowie das von Bonpland geführte botanische Tagebuch in Paris.[8]



[1] Humboldt 2000, Humboldt 2003a, Humboldt 2003b

[2] Humboldt 1810, 1, viij.

[3] Margot Faak: Einleitung in Humboldt 2000, 17

[4] Leitner 2005

[5] Torquemada 1615

[6] So existiert “livre jaune” heute nicht mehr und auch die Humboldtsche Paginierung ist, wenn auch vorhanden, durcheinander geraten, obwohl inhaltlich zusammengehöriges meist noch zusammen liegt. Die heute übliche Zitierweise folgt einer neuen Blattzählung aus den 50er Jahren des 20. Jh.

[7] Ein Vergleich dieser verschiedenen Berechnungen ist bisher nur ansatzweise geschehen, s. Leitner: Einleitung in Humboldt 2005.

[8] s. Lack 2004

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