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Alexander von
HUMBOLDT im NETZ
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HiN
II,
2 (2001)
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Kurt-R. Biermann und Ingo Schwarz
Rezepte des jungen Alexander von Humboldt von 1789 gegen Mangel an Arbeit und an SubsistenzAbstract
KRB hat an anderer Stelle (6) das Technikverständnis Alexander von Humboldts behandelt und ihn als "geistigen Ahnherrn der Förderung industriellen Fortschritts" gewürdigt. Hier und heute sei Humboldts frühes Interesse an der Anwendung der Botanik belegt, um dem Bevölkerungswachstum, der Preissteigerung bei Lebensmitteln, der Zerrüttung der Staatsfinanzen, dem einreißenden Mangel durch Erschließung neuer Nahrungsquellen, Nutzung ignorierter Naturkräfte und Schaffung neuer Arbeitsplätze zu steuern. Dabei beachtete Humboldt, nahezu noch ein Teenager, bereits ökologische Gesichtspunkte.
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Über die Autoren
Kurt-R. Biermann
geb. 1919, Dr. rer. nat. habil. und Professor emeritus, leitete von 1969 bis 1984 die Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle an der Berliner Akademie der Wissenschaften. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle, Ehrenmitglied der Gauß-Gesellschaft in Göttingen und ein ehemaliger Vizepräsident der Académie internationale dhistoire des sciences in Paris. Biermann edierte die Briefwechsel A. v. Humboldts mit C. F. Gauß (1977), H. C. Schumacher (1979), P. G. Lejeune Dirichlet (1982); Briefe Humboldts an das preußische Kultusministerium(1985); Autobiographische Bekenntnisse Humboldts (2. Aufl. 1989). Seine A.-v.-Humboldt-Biographie erlebte zwischen 1980 und 1990 4 Aufl. (span. Übersetzung: México, 1990). Wichtige Ergebnisse seiner Humboldt-Forschungen wurden in dem Band "Miscellanea Humboldtiana" neu abgedruckt (1990). Zahlreiche Arbeiten zur Mathematikgeschichte, darunter "Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität 1810-1933" (2. Ausg. 1988). Eine Bibliographie der Schriften Biermanns erschien als Heft 9 der "Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung" (4. Aufl. 1999).
Ingo Schwarz
Studium der englischen und russischen Sprache; 1979 Promotion am Fachbereich Amerikanistik der Humboldt-Universität; bis 1984 dort wissenschaftlicher Assistent. Seit 1989 in der "Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle" der Berliner Akademie der Wissenschaften. Mitherausgeber des Briefwechsels zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond (mit Klaus Wenig, 1997) sowie der persischen und russischen Wortsammlungen Humboldts (mit Werner Sundermann, 1998). Veröffentlichungen insbesondere über Humboldts Beziehungen zu den USA.
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Winter 1788/89: Seine Kenntnisse von Kryptogamen (Pflanzen, die sich durch Sporen vermehren) vervollständigend, durchstreift der noch keine 20 Jahre alte Alexander von Humboldt den Berliner Tiergarten vor dem damals im Bau befindlichen Brandenburger Tor und sammelt Moose, Flechten und Schwämme. Er hat gerade vom Oktober 1787 bis Ostern 1788 zusammen mit seinem Bruder Wilhelm, dem späteren Staatsmann, Sprachforscher und Philosophen, sein erstes Semester an der Viadrina, der Universität in Frankfurt an der Oder, verbracht. Während Alexander dort Kameralwissenschaften (die zeitgenössische Finanz-, Wirtschafts- und Verwaltungskunde) studierte, hörte sein Bruder vor allem juristische und rechtshistorische Kollegien. Wilhelm setzte sein Studium ohne Unterbrechung an der Georgia Augusta in Göttingen fort. Alexander aber blieb noch ein Jahr in Berlin, um sich unter den Augen der Mutter durch Experten in verschiedenen Fächern wie Technologie, Physik, Mathematik, Zeichnen, Griechisch und Philosophie weiter unterrichten zu lassen, besaß doch Berlin zu dieser Zeit noch keine Universität. Er hatte auf der Viadrina feststellen müssen, daß seine botanischen Vorkenntnisse nicht ausreichten, um die Publikationen von Johann Beckmann, dem Begründer der technologischen Wissenschaften in Deutschland, zu verstehen. In Berlin nahm er die schon zuvor in Frankfurt begonnenen Pflanzenbestimmungen wieder auf, wobei er sich des durch einen Zufall in seinen Händen befindlichen Werkes Flora Berolinensis (Berlin 1787) von Carl Ludwig Willdenow bediente. Humboldt war davon so beeindruckt, daß er sich zu einem Besuch bei dem nur vier Jahre älteren, aber bereits weit bekannten Botaniker entschloß.
Diese Visite wurde ein voller Erfolg. In autobiographischen Notizen, die Humboldt 1801 in Santa Fe de Bogotá zu Papier brachte, faßte er kurz und bündig das Ergebnis seiner Begegnung mit Willdenow zusammen: "In drei Wochen war ich enthusiastischer Botanist." Nach den gleichen Aufzeichnungen zu urteilen, führte er auch den sich herausbildenden Wunsch, "entfernte Weltteile zu besuchen und die Produkte der Tropenwelt in ihrer Heimat zu sehen" (vgl. 3, S.93 - 97; 5, S. 32 - 40), auf Willdenows Einfluß zurück. Seinen Bildungsgang bis zur Bekanntschaft mit dem Botaniker hat Humboldt dem Genfer Naturforscher Marc Auguste Pictet so geschildert (hier aus dem Französischen übersetzt von KRB): "Bis zum Alter von 16 Jahren hatte ich wenig Lust, mich mit Naturwissenschaften zu befassen. Ich hatte einen unruhigen Geist und wollte Soldat (!) werden. Meine Eltern mißbilligten diese Neigung; ich mußte mich dem Finanzwesen widmen, und ich habe nie in meinem Leben Gelegenheit gehabt, eine Vorlesung in Botanik oder Chemie zu hören. [...] Vom Pflanzenstudium habe ich bis 1788 nie etwas vernommen, als ich die Bekanntschaft des gleichaltrigen Herrn Willdenow machte, der gerade die Flora von Berlin publizierte. Sein sanfter und liebenswürdiger Charakter ließ mich die Botanik noch inniger lieben. Er hielt mir keine förmlichen Vorlesungen, aber ich brachte ihm von mir gesammelte Pflanzen, die er bestimmte. Ich interessierte mich leidenschaftlich für die Botanik, besonders für die Kryptogamen. Der Anblick der exotischen Pflanzen, auch der getrockneten in Herbarien, erfüllte meine Einbildungskraft mit den Genüssen, die die Vegetation wärmerer Länder gewähren muß. Herr Willdenow stand mit dem Chevalier Thunberg in unmittelbarer Verbindung, von dem er häufig Pflanzen aus Japan erhielt. Ich konnte sie nicht betrachten, ohne daß mir die Idee kam, diese Gegenden zu besuchen." (2, S. 32 - 33; vgl. auch 5, S. 50 - 51)
Verständlicherweise hatte Willdenow nicht immer Zeit für seinen Freund und Verehrer, so daß Humboldt häufig seine dem Sammeln von Kryptogamen gewidmeten Spaziergänge im Tiergarten allein unternehmen mußte. Aber auch auf einsamen Gängen genoß er "reinste Freude" an der Botanik und stellte Betrachtungen über den Nutzen der Pflanzenkunde für die menschliche Gesellschaft an. Dabei avancierte die Botanik zu seinem "Lieblingsstudium". Die alte Weisheit, Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, bewahrheitete sich auch in diesem Fall. In einem an seinen vormaligen Frankfurter Kommilitonen, den jungen Theologen Wilhelm Gabriel Wegener, gerichteten Brief vom 25. Februar 1789 ließ er diesen an seinen neuen Einsichten und Ansichten teilhaben. Er schrieb ihm:
"Solltest Du glauben, daß unter den anderen 145.000 Menschen in Berlin kaum 4 zu zählen sind, die diesen Teil der Naturlehre [d.i. die Botanik] auch nur zu ihrem Nebenstudium, nur zur Erholung kultivieren. Und wieviele sollte nicht ihr Beruf darauf leiten, Ärzte und vor allen das elende Kameralistenvolk [d.h. die in der Verwaltung Tätigen]. Je mehr die Menschenzahl und mit ihr der Preis der Lebensmittel steigen, je mehr die Völker die Last zerrütteter Finanzen fühlen müssen, desto mehr sollte man darauf sinnen, neue Nahrungsquellen gegen den von allen Seiten einreißenden Mangel zu eröffnen. Wie viele, unübersehbar viele Kräfte liegen in der Natur ungenutzt, deren Entwicklung Tausenden von Menschen Nahrung oder Beschäftigung geben könnten. Viele Produkte, die wir von fernen Weltteilen haben, treten wir in unserem Lande mit Füßen - bis nach vielen Jahrzehnten ein Zufall sie entdeckt, ein anderer die Entdeckung vergräbt oder, was seltener der Fall ist, ausbreitet. Die meisten Menschen betrachten die Botanik als eine Wissenschaft, die für Nichtärzte nur zum Vergnügen oder allenfalls (ein Nutzen, der selbst wenigen erst einleuchtet) zur subjektiven Bildung des Verstandes dient. Ich halte sie für eines von den Studien, von denen sich die menschliche Gesellschaft am meisten zu versprechen hat. Welch ein schiefes Urteil zu meinen, daß die paar Pflanzen, welche wir [an]bauen (ich sage ein paar gegen die 20.000 [!], welche unseren Erdball bedecken), alle Kräfte enthalten, die die gütige Natur zur Befriedigung unserer Bedürfnisse in das Pflanzenreich legte. Überall sehe ich den menschl[ichen] Verstand in einerlei Irrtümern versenkt, überall glaubt er, die Wahrheit gefunden zu haben, und wähnt, daß ihm nichts zu verbessern, zu entdecken übrig bleibe. Er scheut die Untersuchung, weil er denkt, daß schon alles untersucht sei. So in der Religion, so in der Politik, so überall, wo der gemeine Haufen sein Wesen treibt. Was ich von der Botanik gesagt habe, gründet sich aber nicht bloß auf Schlüsse a priori. Nein, die großen Entdeckungen, die ich selbst in den Schriften der ältesten Pflanzenkenner vergraben finde und die in neueren Zeiten von gelehrten Chemikern oder Technologen geprüft worden sind, haben diese Betrachtungen in mir veranlaßt. Was helfen alle Entdeckungen, wenn es keine Mittel gibt, sie exoterisch zu machen. Doch Verzeihung, lieber Bruder, daß ich Dir mit Sachen, die Dich weniger interessieren können, Langeweile mache. Mir sind sie darum so wichtig, weil ich an einem Werke über die gesamten Kräfte der Pflanzen (mit Ausschluß der Heilkräfte) sammle, ein Werk, das wegen des vielen Nachsuchens und der [erforderlichen] tiefen botanischen Kenntnis bei weitem meine Kräfte übersteigt und zu dem ich mehrere Menschen mit mir zu vereinigen strebe. So lange arbeite ich daran zu meinem eigenen Vergnügen und stoße oft auf Dinge, bei denen ich (trivial zu reden) Nase und Ohren aufsperre." (3, S. 40 - 41)
Der Leser von heute kann sich bei der Lektüre dieser vor mehr als 200 Jahren durch Humboldt zu Papier gebrachten Zeilen des Staunens nicht erwehren, muten doch die von jenem wörtlich oder sinngemäß verwandten Begriffe hochaktuell an; er begegnet ihnen täglich in den Medien. Das Wachsen der Bevölkerungszahlen gibt zur Sorge Anlaß. Lebensmittel werden teurer. Der desolate Zustand der Staatsfinanzen nimmt weltweit bedrohliche Formen an. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist eine Aufgabe höchster Dringlichkeit geworden. Dienstbarmachung ungenutzter Naturkräfte ist erforderlich. In Vergessenheit geratene Pflanzenkenntnisse verlangen nach Anwendung, um neue Nahrungsquellen zu erschließen. Der Ruf nach Innovationen ist unüberhörbar geworden. Es scheint daher nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß der sich möglicherweise dem Leser des Humboldtbriefes aufdrängende Eindruck einer Zwangsaktualisierung täuscht. Die Echtheit des Briefes ist unbezweifelbar.
Im April 1789 folgte Alexander seinem Bruder Wilhelm von Humboldt an die Universität in Göttingen, um dort sein Universitätsstudium nach der erwähnten einjährigen Unterbrechung fortzusetzen. Auch weiterhin beanspruchte die Botanik sein besonderes Interesse. Erwähnt seien nur die Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, zu einer Physiognomik der Gewächse und der gewaltige Umfang des botanischen Teils seines amerikanischen Reisewerks. Den Rang eines "Lieblingsstudiums" konnte die Botanik freilich nicht durchgehend behaupten. Er wurde ihr u.a. durch Klimatologie, "Geognosie", Mineralogie, Erdmagnetismus streitig gemacht. Insofern waren es "entfernte Pläne", die Humboldt im Winter 1788/89 in Berlin geschmiedet hatte, als er erstmals das Hohe Lied der Botanik anstimmte.
Wenn Humboldt als junger Mann eindrucksvoll vor der Gefahr "von allen Seiten einreißenden Mangels" warnte, so konnte er ein halbes Jahrhundert später in seinem Kosmos "den Fortschritt der neueren messenden und wägenden Physik", wachsenden Wohlstand der Nationen, gegründet auf "einer sorgfältigeren Benutzung von Naturprodukten und Naturkräften," konstatieren und als "letzten Zweck", als "Ausdruck physischer Gesetze", die "mittleren Werte gewisser Größen" bezeichnen, die uns "das Stetige im Wechsel und in der Flucht der Erscheinungen zeigen." Er stellte fest:
"Nur ernste Belebung chemischer, mathematischer und naturhistorischer Studien wird einem von dieser Seite [dem Stillstand] einbrechenden Übel entgegentreten. Der Mensch kann auf die Natur nicht einwirken, sich keine ihrer Kräfte aneignen, wenn er nicht die Naturgesetze nach Maß- und Zahlverhältnissen kennt. Auch hier liegt die Macht in der volkstümlichen Intelligenz. Sie steigt und sinkt mit dieser. Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit; sie sind Teile des Nationalreichtums, oft ein Ersatz für die Güter, welche die Natur in allzu kärglichem Maß ausgeteilt hat. Diejenigen Völker welche an der allgemeinen industriellen Tätigkeit, in Anwendung der Mechanik und technischen Chemie, in sorgfältiger Auswahl und Bearbeitung natürlicher Stoffe zurückstehen, bei denen die Achtung vor einer solchen Tätigkeit nicht alle Klassen durchdringt, werden unausbleiblich von ihrem Wohlstande herabsinken. Sie werden es um so mehr, wenn benachbarte Staaten, in denen Wissenschaft und industrielle Künste in regem Wechselverkehr miteinander stehen, wie in erneuerter Jugendkraft vorwärts schreiten." (1, S. 36)
Diese mit großer Überzeugungskraft vorgetragene Passage gehört, wie der Humboldt-Forscher Hanno Beck ermittelt hat, "zu den am meisten zitierten Texten" Humboldts.
Alexander von Humboldt begnügte sich nun nicht mehr mit Utilitätsbetrachtungen, sondern ging mehr in die Tiefe, wie wir seinem Kosmos entnehmen können. Er betonte dort, daß in den Geistes- wie in den Naturwissenschaften "der erste und erhabenste Zweck geistiger Tätigkeit ein innerer [sei], nämlich das Auffinden von Naturgesetzen, die Ergründung ordnungsmäßiger Gliederung in den Gebilden, die Einsicht in den notwendigen Zusammenhang aller Veränderungen im Weltall. Was von diesem Wissen in das industrielle Leben der Völker überströmt und den Gewerbefleiß erhöht, entspringt aus der glücklichen Verkettung menschlicher Dinge, nach der das Wahre, Erhabene und Schöne mit dem Nützlichen, wie absichtslos, in ewige Wechselwirkungen treten. Vervollkommnung des Landbaus durch freie Hände und in Grundstücken von minderem Umfang [!], Aufblühen der Manufakturen, von einengendem Zunftzwang befreit, Vervielfältigung der Handelsverhältnisse und ungehindertes Fortschreiten in der geistigen Kultur der Menschheit wie in den bürgerlichen Einrichtungen stehen [...] in gegenseitigem, dauernd wirksamen Verkehr miteinander." (1, S. 37)
Anmerkungen
(1) Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 1. Stuttgart u. Augsburg 1845.
(2) Alexander von Humboldt. Eine wiss. Biogr., hrsg. v. Karl Bruhns, Bd. 1, Kap. 2. Leipzig 1872.
(3) Biermann, Kurt-R. u. Fritz G. Lange: Alexander von Humboldts Weg zum Naturwissenschaftler und Forschungsreisenden. In. Alexander von Humboldt. Festschrift aus Anlaß seines 200. Geburtstages. Berlin 1969, S. 87 - 102.
(4) Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. Hrsg. v. Ilse Jahn u. Fritz G. Lange. Berlin 1973.
(5) Humboldt, Alexander von: Aus meinem Leben. Autobiographische Bekenntnisse. Zusammengest. u. erläutert von Kurt-R. Biermann. 2. Aufl. München 1989.
(6) Biermann, Kurt-R.: Der geistige Ahnherr. Alexander von Humboldt, Förderer industriellen Fortschritts. In: Kultur & Technik 15 (1991) H. 2, S. 46 - 49.
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