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Stand: 12. August 2005
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HiN - Humboldt im Netz

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Eberhard Knobloch

Naturgenuss und Weltgemälde. Gedanken zu Humboldts Kosmos

 

4. Der nicht Genannte: Herder

 

Dass Humboldt mit seiner Ablehnung der Sklaverei in Johann Gottfried Herder und dessen Humanitätsideal einen Geistesverwandten hatte, ist hinreichend bekannt (Biermann 1982, 14). So wie es für Herder nur ein Menschengeschlecht gab, so beendet Humboldt sein Naturgemälde mit seiner Behauptung von der Einheit des Menschengeschlechtes und seiner Ablehnung der Annahme verschieden hochstehender Menschenrassen.

 

Dass ein Prediger, der Religion die höchste Humanität des Menschen nennt, Gott den großen Zusammenhang aller Dinge (Herder 1989, 160, 162), im Kosmos nicht genannt wird, verwundert auf den ersten Blick nicht: Hatte doch Humboldt intellektuelle Freiheit angesichts der, wie er sagte, ewigen Kämpfe zwischen Wissen und Glauben gefordert, vom glücklichen Kampfe der Liebe zum Naturwissen mit der alles absorbierenden Theologie gesprochen (II, 282).

 

Dass hier aber gleichwohl Übereinstimmungen vorliegen, die schon auf Grund ihrer Anzahl mit bloßen Zufälligkeiten nicht erklärt werden können, verdient unsere Aufmerksamkeit.

 

Mit seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ verfolgte Herder das Anliegen, „die Geschichte der Menschheit und ihrer Kultur genetisch aus der Geschichte der Natur als Wirkungszusammenhang des Seienden herzuleiten und von den Verhältnissen der naturgegebenen Totalität auf die Verhältnisse der Menschheitsgeschichte zu schließen“ (Bollacher in Herder 1989, 901). Einige Aspekte verdienen, besonders hervorgehoben zu werden.

 

Ästhetische Wissenschaft

Der Wissenschaftler und Forscher verbindet sich bei ihm mit dem Dichter. Er möchte, sagt Herder, wie ein Dichter, den weithinsehenden Apoll und die Töchter des Gedächtnisses, die alles wissenden Musen anrufen; aber der Geist der Forschung sei sein Apoll und die parteilose Wahrheit seine belehrende Muse (Herder 1989, 515).

 

Herder verbindet Wissenschaft mit Ästhetik, wie es Humboldt programmatisch im Kosmos getan hat.

 

Ganzheitlichkeit

Er denkt ganzheitlich. Immer wieder betont er, dass alles in der Natur verbunden sei, ein Zustand zum anderen strebe und ihn vorbereite (1989, 193). In der Naturwelt gehöre alles zusammen, was zusammen und ineinander wirke, pflanzend, erhaltend oder zerstörend, in der Naturwelt der Geschichte nicht minder (1989, 622). Sein Freund und Förderer Goethe hat die Bedeutung des hen kai pan, des „Eines und alles“-Gedankens für Herders Geschichtsauffassung entsprechend hervorgehoben (Bollacher in Herder 1989, 922). Verwendete doch Humboldt selbst das griechische Wort pan, um das All zu bezeichnen (I, 80).

 

Gesetzlichkeit

Herder spricht vom „großen Treibhaus der Natur“, das wir in tausend Veränderungen nach einerlei hohen und schönen Grundgesetzen wirken sehen, von der Atmosphäre als großem Behältnis wirkender Kräfte (Herder 1989, 38f., 630), davon, dass wir in der physischen Natur nie auf Wunder zählen, sondern Gesetze bemerken, die wir allenthalben gleich wirksam, unwandelbar, regelmäßig finden (Herder 1989, 568).

 

Plinius

Nur zu deutlich ruft dies Humboldts Grundüberzeugungen, die „momenta“ des Plinius in Erinnerung. Und in der Tat findet Herder warme Worte für den Römer, dessen Buch ein Schatz sei, der bei aller Unkunde in einzelnen Fächern den Fleiß und die römische Seele seines Sammlers zeige (1989, 618). Nicht genug damit: er zitiert genau die beiden Abschnitte aus Plinius, die auch Humboldt verwendet hat:

Das humboldtsche Motto zum Kosmos von der Kraft und Großartigkeit der Dinge der Natur verwandte Herder bereits 1784 als Motto vor dem ersten Teil seiner Ideen. Das Pliniuszitat, das Humboldt in verkürzter Form im Brief an Schiller heranzog, steht in der Vorrede zu Herders drittem Teil aus dem Jahre 1787 (Naturalis historia praefatio § 15):

Ardua res est, vetustis novitatem dare, ... omnibus vero naturam et naturae suae omnia.

Es ist eine schwierige Aufgabe, Altem Neuheit zu verleihen, allem aber Natur und seiner Natur alles.

Die Überlieferung bietet tatsächlich wie Herder „naturae suae omnia“. Humboldt bietet die Lesart Herders, nicht die Konjektur „sua“ des Philologen David Durand aus dem Jahre 1728, die – abgesehen von Sillig – von späteren Pliniuseditoren weitgehend übernommen wurde. Dies ist ein Befund, der seine einfachste Erklärung dadurch fände, dass Humboldt das Zitat Herder, nicht Plinius unmittelbar entnahm.

 

Die Schwierigkeit der selbst gewählten Aufgabe herauszustellen, haben – so wenig wie Plinius – weder Herder noch Humboldt versäumt, ein Topos von altersher. Beide, Herder wie Humboldt, haben den letzten Band ihrer fünfteiligen Darstellungen nicht vollendet: eine Äußerlichkeit. Herders Hochachtung für Laplace – er nennt ihn den Newton seiner Zeit (Herder 1800, 473 Anm.): eine Notwendigkeit.

 

Wie aber steht es mit den Ähnlichkeiten, ja Übereinstimmungen in Zielsetzung und Durchführung? Herders Ziel war ein Gemälde, das heißt ein visualisiertes Wissen der Menschheit (1989, 355), die zur Freiheit organisiert, geschaffen sei (1989, 142, 162). Er sprach von dem Gemälde der Nationen (1989, 251, 340), der Völkerschaft Europas (1989, 703), wünschte sich eine Zauberrute, um alle bis dahin gegebenen, unbestimmten Wortbeschreibungen in ein Gemälde zu verwandeln (1989, 249), denn mit Worten male man keine Gestalt.

 

Er nahm die Richtung eines fiktiven Kosmonauten an, der sich vom Weltall kommend langsam der Erde nähert, eine Richtung freilich, die nicht nur bei Herder (Böhme 2002, 508f.), sondern eben auch schon bei Plinius oder Otto von Guericke vorgebildet war (Knobloch 2000, 101): „Vom Himmel muß unsere Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll“ (Herder 1989, 21).

 

Die Gemäldemetapher wie die Annäherungsrichtung finden sich im Kosmos wieder. „Eine physische Weltbeschreibung, ein Weltgemälde“, heißt es dort, beginne nicht mit dem Tellurischen; sie beginne mit dem, was die Himmelsräume erfülle (II, 85).

Der Befund ist zu eindeutig: Humboldt hätte sich nicht nur von Herders „Ideen“ anregen lassen können, er hat es getan. War doch der gemeinsame Freund Goethe am Entstehen der „Ideen“ maßgeblich beteiligt. Dass Herder in Kants Augen die Grenzen der sichtbaren Welt und der Erfahrung überschritt und sich in Metaphysik verirrte (Bollacher in Herder 1989, 904), den Bogen des analogisierenden Verfahrens überspannte, sich vom Philosophen und Geschichtsschreiber zum Prediger und Theologen wandelte, hat ihm die harte Kritik Kants eingetragen, hat ihn zum unversöhnlichen Gegner Kants werden lassen. Vielleicht  liegt hier ein Grund für das Schweigen Humboldts. Eine systematische Untersuchung der Beziehungen Herder – Humboldt steht trotz Hanno Becks Mahnung aus dem Jahre 1993 weiterhin aus (Beck 1993 II, 405).

 

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