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Eberhard Knobloch
Naturgenuss und Weltgemälde. Gedanken zu Humboldts Kosmos
7. Die Wohltaten der Mathematik
Humboldt hat es wiederholt im „Kosmos“ gesagt: Der besondere Zweck einer physischen Weltbeschreibung war, alle (wichtigen) numerischen Resultate der Erscheinungen zusammenzustellen (III, 488). Die numerischen Elemente der Veränderlichkeit sind die wichtigste Frucht aller Beobachtung (III, 234). Fast alle Resultate der Beobachtung sind einer Zurückführung auf Zahlenverhältnisse fähig (III, 374). Er sei von exakten Zahlen besessen, hat er von sich selbst gesagt: „J’ai la fureur des chiffres exactes“ (Humboldt 1837).
Dies klingt nun durchaus nach Francis Bacon und tatsächlich zitiert Humboldt den englischen Denker, nur dass er dessen Grundanliegen, Naturforschung auf Empirie zu gründen, schon bei Leonardo da Vinci vertreten sieht (III, 10).
Höchstes Ziel aller Naturforschung ist freilich das „Erspähen“ des Kausalzusammenhanges. Hier wie sonst beherrscht die Optik im „Kosmos“ Humboldts Metaphorik: Der Beobachter des Weltalls erwirbt eine Weltanschauung, entwirft ein Weltgemälde. Das Auge ist, so Humboldt, das Organ der Weltanschauung (I, 85f.). Das auch bei Humboldt auftretende „Buch der Natur“ setzt Augen, nicht Ohren voraus (I,171).
Höchste Deutlichkeit und Evidenz herrschen, wo das Gesetzliche auf mathematisch bestimmbare Erklärungsgründe zurückgeführt werden konnte. Naturforschung braucht nicht nur eine quantitative Grundlage, sie muß – das ist Humboldts wissenschaftliches Glaubensbekenntnis – auf Mathematik, oder, wie er im Anschluß an Newtons Hauptwerk sagt, auf mathematische Naturphilosophie reduziert werden (III, 40). Habe doch der unsterbliche Newton als Erster die physische, das heißt mit Kräften arbeitende Astronomie zu einer mathematischen Wissenschaft erhoben (III, 21). Die Unsterblichkeit des Verfassers verleiht auch seinem Werk Unsterblichkeit (II, 394). Nur am Rande sei vermerkt: Humboldt war politisch korrekt. Auch Leibniz billigte er Unsterblichkeit zu (IV, 370). Sowohl der zweite wie der dritte, der Astronomie gewidmete Kosmosband enden mit einem Hymnus auf die Mathematik: Die Geistesarbeit zeige sich in ihrer erhabensten Größe in der mathematischen Gedankenentwicklung, in der reinen Abstraktion. Nicht nur Humboldts Bewertung der Mathematik, selbst seine Terminologie weist auf Kant zurück. Es wohne ein fesselnder Zauber in der Anschauung mathematischer Wahrheiten (II, 394). Astronomie als Wissenschaft sei der Triumph mathematischer Gedankenverbindung (III, 625), gegründet auf das sichere Fundament der Gravitationslehre und die Vervollkommnung der höheren Analysis.
Kein Zweifel: Humboldt sah in der Himmelsmechanik eine Erfolgsgeschichte des menschlichen Geistes, in Laplace einen ihrer Heroen. In der bewußten Nachfolge von Laplace widmete er deshalb den beiden zu seiner Zeit spektakulärsten Voraussagen dieser mathematischen Theorie, der Erdabplattung an den Polen (I, 179) und der Existenz des Planeten Neptun entsprechende Aufmerksamkeit (III,532-535). Die Mathematik wird zum raumdurchdringenden Fernrohr (II, 355), zu diesem von ihm so hochgeschätzten Instrument. Durch ihre Ideenverknüpfungen führe sie in ferne Himmelsregionen. Als geistiges Auge sah sie den Himmelskörper Neptun, bevor noch ein Fernrohr auf ihn gerichtet war (II, 211) und bestimmte dessen Ort, Bahn, Masse. Die Nähe zu Laplaces Ausführungen über die Erdabplattung ist überdeutlich.
Zwischen der Sicherheit, Gewißheit (III, 39) der Mathematik und Ahnungen, wilden Träumen (III, 39f.), willkürlichen Vermutungen (I, 178), dem Nebelland der Phantasie (III, 374) herrscht eine Kluft, die nur teilweise durch Analogieschlüsse überbrückt werden kann. Denn durch Analogien wird man, wie Humboldt sagt, zu Vermutungen geführt (III, 233). Denn analoge Erscheinungen erläutern sich gegenseitig in dem ewigen Haushalte der Natur; und wo nach Verallgemeinerung der Begriffe gestrebt werde, dürfe die enge Verkettung des als verwandt Erkanntem nicht unbeachtet bleiben (IV, 233). Ungezählte Beispiele wie Vulkanismus und Magnetismus bezeugen, wie stark Humboldt dieses Forschungsprinzip befolgt und in seiner Darstellung berücksichtigt hat: Dies genauer zu untersuchen, wäre eine dankbare Forschungsaufgabe.
Zwar gesteht Humboldt zu, dass ohne die Anregung der Phantasie kein wahrhaft großes Werk der Menschheit gedeihen kann (II, 54), erwähnt den eigentümlichen Reiz der Naturschilderungen bei Columbus und Vespucci, spricht vom alten Bund des Naturwissens mit Poesie und Kunstgefühl (II, 89). Zwar räumt er ein, dass glückliche Ahnungen und Spiele der Phantasie den Keim richtiger Ansichten enthalten können wie im Falle des Nicolaus von Kues (III, 382). Zwar spricht er vom anmutigen Nebelland der Phantasie (III, 374), spricht mit Hochachtung vom phantasiereichen Kepler und dessen naturphilosophischen Phantasien. Aber Phantasien verunreinigten die wahren Resultate der Erforschung (II, 252). Wilde Träume gehörten in die Romantik der physischen Astronomie (III, 39). Hart verurteilt er die Verirrungen der Schwärmerei finsterer Jahrhunderte – gemeint ist das Mittelalter – mit Alchemie und Zauberkunst (II, 207, 268).
Träume und Ahnungen, wie sie Huygens, der „große Mann“ (III, 336, 632), in seinem „Kosmotheoros“, seinem „Weltbetrachter“, über extraterrestrisches Leben äußerte, seien eines strengen Mathematikers unwürdig (III, 32) (s. Biermann 1979). Mit Bedauern stellte Humboldt fest, dass dem Niederländer leider selbst Kant gefolgt sei, der ja nach newtonischen, das heißt himmelsmechanischen Prinzipien seine Kosmogonie ausgearbeitet hatte. In den Augen Humboldts versündigte sich Kant am Newtonianismus. Das Nebelland kosmologischer Träume sei nicht Sache der Wissenschaft (III, 630).
Zufällig nenne der Mensch alles, was er – noch – nicht genetisch erklären könne (III, 431). Für den Zufall war in Humboldts deterministischem Weltbild, das sich am Vorbild Laplace, an der Mechanik als Modellwissenschaft ausrichtete, kein Platz: Darin war er durchaus ein Kind seiner Zeit, die der Mechanik diese Rolle zuwies. Die Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften mit der Leitidee eines wirtschaftlichen Gleichgewichtes – ein genuin mechanisches Modell – hatte hier ihre Wurzeln. Nicht anders steht es mit Humboldts Vorstellung vom freien Spiel dynamischer Kräfte (Geographie der Pflanzen 1807, 70f), aus deren Wechselwirkung ein stabiles Gleichgewicht hervorgehe (Böhme 2002, 505).
War also im mathematischen Weltbild Humboldts kein Platz für Wahrscheinlichkeiten, auf die sich ja auch der gescholtene Begründer der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung Huygens im „Kosmotheoros“ nur gestützt hatte? Dies ist bei einem Verehrer des Wahrscheinlichkeitstheoretikers Laplace nicht zu vermuten und angesichts der Brückenfunktion, die er den Analogien zuweist, auch nicht der Fall.
Doch ist zwischen dem eingeschränkten Wahrheitsgehalt einer Aussage angesichts des Wissensstandes und der Wahrscheinlichkeit dafür zu trennen, dass ein Ereignis eintritt. Für Humboldt hatten mittels Analogien gewonnene Aussagen einen Wahrscheinlichkeitsstatus, der nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zu genauerem Wissen darstellte. Gleichwohl dürfe auch im Gebiet des bloß Mutmaßlichem keine ungezügelte Willkür der Meinungen herrschen (I, 137). Gegen begründbare Hypothesen wendet sich Humboldt nicht. Im Gegenteil: Ist doch in seinen Augen vornehm tuende Zweifelsucht in einzelnen Fällen fast noch verderblicher als unkritische Leichtgläubigkeit (I, 140).
Sehr wahrscheinlich seien danach alle Weltkörper im Raum und in der Lichtstärke veränderlich. John Herschel sei zu wahrscheinlichen Resultaten über die Gestalt der Milchstraße gekommen usf. Anders steht es mit Humboldts Haltung gegenüber möglichen Ereignissen. Die Ankunft eines Kometen, einer reisenden Lichtwolke, wie Humboldt poetisierend im Anschluß an Xenokrates und Theon aus Alexandria sagt (I, 106; III, 557), könne nur eine Phantasie mit Besorgnis erfüllen, welche für die ernsten Tröstungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht empfänglich sei (III, 630). Zwar gehörten allein mögliche Ereignisse nicht zur physischen Weltbeschreibung. Aber dennoch bewahrheitet sich Humboldts Wort von der überall wohltätigen Wirkung der mathematischen Gedankenverbindung selbst auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung (IV, 215).
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