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Stand: 12. August 2005
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H i N

Alexander von
HUMBOLDT im NETZ

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HiN                                                      III, 4 (2002)
 
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Christian Suckow

Abenteuer Alexander-von-Humboldt-Bibliographie

 

Seit dem Jahr 2000 steht dem wissenschaftshistorisch interessierten Leser wie dem wissenschaftlichen Spezialisten eine Bibliographie der selbständig erschienenen Werke Alexander von Humboldts[1] zur Verfügung. Es hat mit ihr seine besondere Bewandtnis. Denn es läßt sich an ihr exemplarisch die Problematik bibliographischen Erfassens und Verzeichnens eines Œuvres demonstrieren, das der gleichsam überquellenden Produktivität eines bedeutenden wie zugleich „schwierigen“ Autors entstammt. Dergleichen Fälle sind freilich der Wissenschafts- und Literaturgeschichte nicht unbekannt. Im Falle Humboldts aber ist - und war immer - der Weg des Bibliographen mit ganz außergewöhnlichen Schwierigkeiten gepflastert.

„Das einzige exakte Wissen, das es gibt, ist das Wissen um das Erscheinungsjahr und das Format der Bücher.“ Dies ist ein Zitat, das seine eigene Geschichte hat. Der Text fand sich im Nachlaß von Horst Fiedler[2], dem ersten Bearbeiter der vorliegenden Bibliographie, von ihm mit Hand auf einen Zettel geschrieben. Und es ist kein Aperçu des passionierten Bibliographen Horst Fiedler, wie man denken könnte, sondern steht so bei Anatole France und fand bereits die Aufmerksamkeit Walter Benjamins, der es seinerseits zitiert hat.

Handschriftliche Notiz von H. Fiedler
(Abb.: Handschriftliche Notiz von H. Fiedler)

Kaum zu denken, daß die anscheinend unerschütterliche Gewißheit von Erscheinungsjahr und Format eines Buches, die, wie sich zeigt, den Literaten wie den Theoretiker gleichermaßen beeindruckt, durch irgendetwas untergraben werden könnte. Und doch trügt die scheinbare Evidenz des Aperçus, wirft man nur einen Blick auf das überlieferte Werk Alexander von Humboldts. Horst Fiedler hat nicht nur einen Blick auf dieses Werk geworfen, er kannte sich aus, und man möchte seine Notiz, das Anatole-France-Zitat auf  dem Zettel, eher ironisch verstehen. Denn er wußte wohl, daß man ein und dasselbe Werk Humboldts in der einen Bibliothek mit dem einen und in der anderen Bibliothek mit einem anderen Erscheinungsjahr finden kann, bei vollständiger Übereinstimmung des Textes übrigens und ohne jeden Vermerk, daß es sich  möglicherweise um eine andere Auflage handeln könnte. Und was die geläufigen Formatangaben betrifft - Folio, Quart, Oktav - so haben sie zur Humboldt-Zeit, wie Kenner der Buchgeschichte sofort wissen, mehr etwas mit der Seitenzahl des Druckbogens als mit dem tatsächlichen Format, gemessen in Zentimetern, zu tun.

Seine Erfahrungen mit dem Humboldtschen Werk resümierend, hatte der zu früh verstorbene Horst Fiedler bereits jenen Satz formuliert, der das Problem grundsätzlich faßt: „Unter den hervorragenden Persönlichkeiten der deutschen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte dürfte es keine zweite geben, deren Werk so umfangreich, so vielfältig und dabei so schwer überschaubar und bibliographisch so unerschlossen ist wie dasjenige Alexander von Humboldts.“ Der Satz war der Einleitung zu der in Arbeit befindlichen Bibliographie zugedacht, und er steht heute auch dort. Die Einleitung fährt dann fort: „So wird beispielsweise aus dem vielbändigen Werk über die Amerikareise seit jeher zitiert, übersetzt und kompiliert, Einigkeit aber besteht nicht einmal über dessen Namen, den Gesamttitel, die Gliederung des Ganzen oder über die Zugehörigkeit bestimmter Schriften zu dem monumentalen Unternehmen. Einem bibliographischen Irrgarten gleich, widersprechen einander ferner Aussagen über Erscheinungsjahre, Verlegernamen, Seitenumfänge oder Illustrationsbeigaben zu ein und denselben Drucken. Derselbe Text kann außerdem unter ganz verschiedenen Titeln auftauchen.“ (S. XVI) Das mutet abenteuerlich an. Und es besteht kein Zweifel: für den Bibliographen, der in diese Verhältnisse Ordnung zu bringen hofft, ist es ein wahres Abenteuer - das es zu bestehen gilt.

Was kann er außer der Fülle bibliographischer Mißweisungen vorfinden, das ihm vielleicht Richtschnur oder Ariadnefaden im bibliographischen Labyrinth sein könnte? Es gibt zwei frühe Versuche, Humboldts Werk bibliographisch zu verzeichnen, beide sind gründlich gescheitert. Der eine ist ein erstes Werkverzeichnis, erschienen im Jahr nach Humboldts Tod, zusammengestellt von dem verdienstvollen Herausgeber und Literaten La Roquette[3], der immerhin bemühte Versuch, einen ersten Überblick über das monumentale hinterlassene Werk zu geben. Aber: das Verzeichnis ist ohne Autopsie gefertigt, abhängig von bereits fehlerhaften und unzureichenden Quellen, manche Titel sind völlig verstümmelt, manches nur in französischer Übersetzung verzeichnet, und vieles fehlt überhaupt. Ein Horror für Bibliographen. Die andere und bisher einzige relativ umfassende Bibliographie des Humboldtschen Werkes stammt von Julius Löwenberg, dem Mitarbeiter an der ersten großen Humboldt-Biographie von Karl Bruhns, und ist in dieser 1872 erschienen.[4] Löwenberg, nun wirklich verdienstvoll und sich des seriösen Anspruchs bewußt, hat nichtsdestoweniger auf Autopsie ebenfalls wenig Wert gelegt, und so wimmelt es von kleinen Versehen bis zu gröbsten Fehlern - kurzum, der Bibliograph ist, wie schon La Roquette, dem Minotaurus verfallen, im Labyrinth der Vorabdrucke, Auszüge, Übersetzungen und Wiederabdrucke ziemlich gründlich verirrt. In den nächsten hundert Jahren hat es niemand mehr gewagt, sich dem Abenteuer der vollständigen Bibliographierung des Humboldtschen Werkes zu stellen; die offensichtliche Unüberschaubarkeit dieses Werkes wurde gewissermaßen zum bibliographischen Mythos.

Diesem zu Leibe rücken zu wollen, das Abenteuer nun doch zu wagen, ist zweifellos ein Verdienst der 1956 an der Berliner Akademie der Wissenschaften gegründeten, international zusammengesetzten „Alexander-von-Humboldt-Kommission“ gewesen. Bereits auf ihrer zweiten Sitzung im Dezember 1957 wurde über das Problem Humboldt-Bibliographie in einem Haupttagesordnungspunkt beraten. Im Protokoll heißt es: „Die Bibliographie der Schriften von Humboldt soll das Material in chronologischer Anordnung fortlaufend numeriert bringen, und zwar bei jedem Jahre zuerst die selbständigen Werke und daran anschließend die Aufsätze und wissenschaftlichen Briefe, die den Charakter von Abhandlungen tragen.“ Dieses ambitionierte, nun ganz umfassend angelegte Vorhaben glaubte man nichtsdestoweniger rasch verwirklichen zu können. Im Protokoll heißt es weiter: „Die Humboldt-Bibliographie erscheint im Rahmen der Festschrift.“[5] Gemeint war die große Festschrift der Akademie zum 100. Todestag Humboldts im Jahre 1959.[6] Natürlich erschien die Festschrift ohne die Bibliographie. Was nach weiteren zwei Jahrzehnten vorlag, war ein fragmentarisches Konvolut von Titelaufnahmen und Notizen, um das sich insbesondere der ehemalige Sekretär der 1970 aufgelösten Kommission, Fritz G. Lange[7], verdient gemacht hatte und das dankbar zu nutzen war.

Dies etwa war die Ausgangslage, als Horst Fiedler, der inneren Stimme des Bibliographen folgend, Anfang der 80er Jahre seinerseits die Arbeit an der Bibliographie aufnahm. Es galt, alle bisherigen Materialien und die eigenen Forschungsergebnisse zusammenzuführen. Fiedler war ein erfahrener Bibliograph, große Teile der mehrbändigen „Internationalen Bibliographie zur Geschichte der deutschen Literatur“[8] oder etwa die grundlegende Bibliographie zu Georg Forster[9] stammen aus seiner Feder. Fiedler hat kaum über sein Vorhaben gesprochen. Wahrscheinlich tut ein Bibliograph das nicht, solange er nicht die ganze Fülle seiner Daten gebändigt hat. Es deutet aber auch an, daß er sich der Dimension des Abenteuers bewußt war, auf das er sich eingelassen hatte. Und man wird nicht fehlgehen, wenn man voraussetzt, daß Fiedler in der definitiven, gleichsam historisch-kritischen Bibliographierung der großen, selbständig erschienenen Werke Humboldts sein Opus magnum sah. Wenn in einem kollegialen Gespräch doch einmal das Vorhaben aufblitzte oder er einem zur Information erste fertiggestellte Abschnitte großzügig überließ,  dann waren überraschend das hohe Niveau seiner Auseinandersetzung mit dem spröden Material und der beeindruckende Stand seines Eindringens in die Materie bereits erkennbar. Und natürlich nach wie vor die außerordentliche Diffizilität der Aufgabe.

Horst Fiedler verstarb zum tiefen Bedauern der Freunde und Fachkollegen im Jahre 1990 - und hinterließ wiederum ein Fragment. Große Teile der Bibliographie der selbständigen Humboldt-Werke fanden sich durch ihn sorgfältig bearbeitet, anderes wies Lücken auf, wichtige Teile, mitunter die Bibliographierung zentraler Humboldtscher Werke, fehlten ganz. Es schien eine unlösbare Aufgabe zu sein, mit Fiedlerscher Kompetenz und Genauigkeit die Bibliographie weiterführen, ergänzen  und abschließen zu wollen. Der Mitarbeiterstab der Forschungsstelle war durch die Nach-Wende-Evaluierung auf die Hälfte reduziert worden, niemand konnte sich einen erfahrenen Bibliographen nennen. Und so traf  es wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine neu eingetretene Mitarbeiterin - Ulrike Leitner. Ihr wurde das Projekt zur Vollendung übertragen. Ulrike Leitner hatte sich nicht nur in einen bibliographischen Kosmos einzuarbeiten, sondern auch neuen Erfordernissen und Möglichkeiten der Recherche und Forschung Rechnung zu tragen, die sich nach der Öffnung der Grenzen ergaben. Integrierende Teile, wie z. B. die gesamte Bibliographierung des „Kosmos“ mit all seinen Übersetzungen, Nach- und Teildrucken, waren überhaupt erst zu erarbeiten. Dies alles erforderte Zeit, Geduld, Hartnäckigkeit und immer wieder unverdrossenen Elan. Nahezu bis zur Jahrtausendwende hatte Ulrike Leitner noch an der  Fertigstellung des Manuskripts der nun alle selbständig erschienenen Werke Humboldts umfassenden Bibliographie zu arbeiten, unter tätiger Anteilnahme so hervorragender Kenner des Humboldtschen Werkes wie Hanno Beck und Wolfgang-Hagen Hein und natürlich auch der Kollegen der Forschungsstelle. Das Ergebnis liegt vor, und es kann darüber befunden werden, ob das Abenteuer bestanden ist.

Ist so die Entstehung des vorliegenden Buches umrissen, sei im folgenden jene schon mehrfach beschworene Diffizilität des Vorhabens wenigstens an Hand von einigen Beispielen verdeutlicht. Denn der Leser jenes eingangs zitierten Aperçus von Anatole France hat ein Recht darauf, die Gründe zu erfahren, weshalb die scheinbar so unverrückbaren Pole des exakten Buchwissens: Erscheinungsjahr und Format denn doch so unbestimmt verschwimmen können, daß man das literarische Bonmot eigentlich anders fassen müßte, nämlich: Das einzige exakte Wissen, das es gibt, ist das Wissen um die Gründe für irritierende Abweichungen bei der Angabe von Erscheinungsjahr und Format von Büchern.

Ein einfaches Beispiel für die Fragwürdigkeit  des Erscheinungsjahres auf einem Titelblatt fällt schon bei der Oktavausgabe des Humboldtschen Berichtes von der amerikanischen Reise (Nr. 4.1.1, S. 78 ff.) ins Auge. So können Exemplare von Band 1 und Band 2 das Erscheinungsjahr 1816, von Fall zu Fall aber auch das Erscheinungsjahr 1815 aufweisen. Ähnlich bei Band 7 und 8: Dem Erscheinungsjahr 1822 steht ein anderes Erscheinungsjahr, nämlich 1824, gegenüber. Stellt man Textvergleiche an, so ergibt sich stets vollständige Übereinstimmung, der Satz ist derselbe. Erst die genaue Prüfung der Titelblätter läßt geringfügige Unterschiede ebendieser Titelblätter erkennen. So fehlt im gegebenen Fall beispielsweise der abgekürzte Vorname von Mitautor Aimé Bonpland. Anscheinend Unerklärliches hellt sich auf,  wenn man weiter den Verlegervermerk unter die Lupe nimmt. Titelblätter der genannten Bände 7 und 8 von 1824 nennen einen anderen Verleger als die Titelblätter desselben Werkes von 1822. Geht man diesem Fingerzeig nach, so stößt man auf die verlagsgeschichtliche Tatsache, daß die Betreuung der Ausgabe zwischen 1822 und 1825 von dem einen zu einem anderen Verlag überwechselte. Dies gibt den Schlüssel zur Erklärung der unterschiedlichen Erscheinungsjahre in die Hand: Ein Teil der Auflage erschien 1822 bei dem einen Verlag, ein anderer Teil 1824 bei dem anderen. Auch solche Schlüsse haben aber noch ihre Tücken. Im Falle des genannten Verlagswechsels beispielsweise blieb der immer mitgenannte Drucker derselbe, ja trat zeitweise als Mitverleger auf  - ein verwirrender Umstand, der die Diagnose natürlich wieder erschwert. Andererseits muß der Vorgang der Splittung in Bindequoten nun auch wieder nicht unbedingt an einen Verlagswechsel gebunden sein. Bei den genannten Bänden 1 und 2 ist lediglich ein Überhang der Auflage 1815, d. h. ein noch nicht gebundener oder ausgelieferter Rest von Exemplaren, mit dem Titelblatt des Jahres 1816 versehen worden, also des  Jahres, in dem dieser Teil der Auflage dann tatsächlich  ausgeliefert wurde.

Neben diesem gleichsam banalen verlagsgeschichtlichen bzw. verlagstechnischen Vorgang gibt es natürlich ganz andere, tiefer liegende Ursachen gründlicher bibliographischer Irritation. Selten tritt bei anderen Autoren so wie bei Humboldt das Problem auf, inwieweit man eine Schrift als selbständiges Werk oder als Bestandteil eines anderen seiner Werke zu bewerten hat, eine Frage, die noch schwerer zu entscheiden ist, wenn man Textvergleiche zwischen den zunächst undefinierten Objekten - gewissermaßen UFOS aus dem Kosmos Humboldtschen Schaffens - anstellt. Man muß sich dann auf die ganze Skala von satzgetreuer Übereinstimmung bis zu einschneidenden Textveränderungen gefaßt machen.

Das weithin bekannteste Beispiel ist wohl das sogenannte Kuba-Werk (auch Kuba-Essai - Nr. 4.2.1, S. 118 ff.), das häufig als selbständiges Werk Humboldts bezeichnet wird, zunächst aber nichts anderes ist als der Separatdruck eines Teiles der Humboldtschen  Reisebeschreibung, der „Relation historique“ (Nr.4.1 und 4.1.1, S. 70 ff.). In der Tat handelt es sich hier eigentlich um das Kuba-Kapitel der Reisebeschreibung, das aus ihr herausgelöst und parallel zu ihrem Erscheinen unter selbständigem Titel herauskam. Der Eindruck, daß es sich um ein selbständiges Werk Humboldts handelte, mußte im deutschen Sprachraum um so mehr entstehen, als die deutschsprachige Ausgabe des Reiseberichts (Nr. 4.1.2.2, S. 85 ff.) dieses Kapitel nicht enthielt. Aber eben: „zunächst“ und „eigentlich“ - immer lauern diese Einschränkungen, versucht man den Sachverhalt zu fassen.  Denn der Textvergleich des Kuba-Kapitels und des Kuba-Essais ergibt durchaus eine relative Eigenständigkeit des letzteren, insofern Umstellungen, Textveränderungen und -ergänzungen vorgenommen sind. Daß der überwiegende Textanteil hingegen satzgleich identisch ist, stürzt den Bibliographen nun in begründete Skrupel, wenn es ihm um die systematische Gliederung seiner Bibliographie zu tun ist. Denn Humboldt hat aus diesem Grunde natürlich den Kuba-Essai nicht, wie sonst üblich, als eine Partie oder Unterpartie seines Reisewerkes ausgewiesen,  da der Text eben in der „Relation  historique“ im wesentlichen schon existierte. Und diese bildete ja nun bereits eine Partie des umfassenden Reisewerkes. Kurzum, es bleibt dem Bibliographen nichts weiter übrig, als den Kuba-Essai gleichsam in einer Nebenlinie als relativ selbständiges Werk neben der systematischen Zählung der Partien anzuordnen. Und dies entsprechend zu begründen. Ist ihm dies im Ganzen gelungen und blickt er nun auf das Detail, so sieht er sich jedoch um die erhoffte größtmögliche Klarheit neuerlich geprellt: Ein Bestandteil beispielsweise des Kuba-Essais, ein Exkurs zur Kuba-Karte, findet sich 1826 seinerseits als separate, selbständige Werkveröffentlichung (Nr. 4.2.1.5, S. 130),  zugleich aber auch zweimal in unterschiedlicher Gestalt in den beiden Ausgaben der „Relation historique“ (vgl. S. 130 und 152) veröffentlicht. Erneuter Erklärungsbedarf also!

Erklärungen und Begründungen für all dies sind allein der Werkgeschichte, dem Werkcharakter und den dahinterstehenden Intentionen Humboldts zu entnehmen. Im Falle des Kuba-Werkes und seiner Bestandteile ist eindeutig, daß Humboldt die aus der Reisebeschreibung herausragenden nationalökonomischen und physisch-geographischen Abhandlungen, die das Kuba-Kapitel der „Relation historique“ tatsächlich ausmachen, gesondert herauszugeben für Wert hielt, nicht zuletzt auch, um die Kuba-Abhandlung dem ähnlich angelegten Mexiko-Werk (Nr. 4.6, 4.6.2 und 4.6.3, S. 183 ff.) an die Seite zu stellen, das nun in der Tat eine selbständige Partie des Gesamtreisewerks bildet, während aber wiederum der „Relation historique“ eine Beschreibung der Mexikoreise gänzlich fehlt.

Übrigens - mit dem nun wirklich landläufigen Begriff der „Relation historique“, einer sich aus dem französischen Original der Reisebeschreibung herleitenden Titelgebung für die „historische Erzählung“ der Reise, also die Reisebeschreibung,  liegt noch längst keine lupenreine bibliographische Festschreibung vor. Mit anderen Worten: Auch die Titelgebung streut in Varianten, definitive Gewißheiten gibt es nicht. So enthält der Titel der Oktavausgabe (Nr. 4.1.1, S. 78 ff.) der Reisebeschreibung, die ja nahezu zeitgleich zur Quartausgabe (Nr. 4.1, S. 71 ff.) in Paris erschien, die zwei bestimmenden Titelworte „Relation historique“ überhaupt nicht. Die Ausgabe ist nach guter Tradition der großen Reiseberichte der Zeit getitelt „Reise in die Äquinoctialgegenden des Neuen Kontinents, ausgeführt in den Jahren...usw.“ Dies aber ist zugleich - freilich in verschiedenen Abwandlungen -  der Titel des gesamten, dreißigbändigen Reisewerkes, nicht zu verwechseln eben mit der Reisebeschreibung. „Relation historique“ als Titelpräzisierung tritt uns lediglich in der Titelei der Quartausgabe entgegen, und auch hier nur im jeweiligen Bandtitel! Von hier aus ist die Bezeichnung „Relation historique“ allerdings zu Recht in Sprachgebrauch gekommen schlechthin für die Reisebeschreibung Humboldts, ob es sich nun um die Quart- oder Oktavausgabe handelt. Im übrigen hat jeder Band der Reisebeschreibung in Quart jeweils mehrere Titelblätter, und nicht jedes enthält den Zusatz „Relation historique“. Wir unterscheiden etwa Werk- und Gesamttitel (übrigens in verschiedenen Varianten!), Vor und Zwischentitel. Ein Band hat so bis zu vier Titelblätter (das Widmungsblatt nicht gerechnet), die von Exemplar zu Exemplar in unterschiedlicher Reihenfolge gebunden sein können. Auch hier also wieder ein Irrgarten. Hanno Beck hat bei seiner verdienstvollen Neuausgabe der „Relation historique“ (Nr. 4.1.1.1, S. 81) den gordischen Knoten zerschlagen, indem er getitelt hat: „Relation historique du Voyage aux Régions équinoctiales du Nouveau Continent ... usw.“ Dies ist, wie man sieht, eine Kombination aus Titelelementen, die bei Humboldt durchaus gegeben sind, und als solche in der Hand eines Herausgebers auch zulässig und sinnvoll, aber eben: bei Humboldt findet sich dieser ideale Titel für das ganze Werk nicht - was der Bibliograph dem Leser also wiederum zu erklären hat.

Nur einige Beispiele aus dem Humboldtschen Reisewerk wurden genannt. Wohin aber man im gesamten Humboldtschen Œuvre auch immer blickt, stets hat man es mit ähnlichen Imponderabilien zu tun. Da finden sich drei voneinander höchst verschiedene Ausgaben der „Ansichten der Natur“ (Nr. 3.1, 3.2, 3.3, S. 35 ff.), in den dem ersten, schmalen Bändchen folgenden Ausgaben immer neue Beiträge aufgenommen. Und diese Beiträge sind überwiegend bearbeitete Fassungen von ursprünglichen Akademievorträgen Humboldts, zu Teilen so lange bearbeitet, bis, wie Humboldt selbst schreibt, „nicht 1/20 ungeändert“ (S. 38) blieb. Da weitet sich der Kommentar zu einem Atlasband zu einem eigenständigen fünfbändigen Werk (Nr. 4.2.2, S. 164 f.; vgl. auch S. 152 f.) aus. Und ursprünglich eigenständige Arbeiten werden zu den späten „Kleineren Schriften“ (Nr. 5.4, S. 366 ff.) zusammengefaßt; es handelt sich fast durchweg um überarbeitete Fassungen - aber eben nur „fast“, denn eine von ihnen ist nicht überarbeitet!

Man wird sich nicht im Attribut vergreifen, wenn man dies alles als abenteuerlich bezeichnet. Und eben die in der vorliegenden Bibliographie immer aufs neue explizierten Bemühungen des Bibliographen, in Zweifelsfällen Auskunft zu geben, d. h. aus dem Abenteuer hinaus-  und auf gesichertes Terrain zu führen, lassen die Allgegenwart des bibliographischen Abenteuers erkennen. Des bestandenen, so ist zu hoffen, wenn der Bibliograph seinen Rezensenten findet. Und dieser wiederum wird zu rekapitulieren haben: Eine lupenreine Systematik ist, bei allem Bemühen und möglichen Gelingen, in der Verzeichnung des Humboldtschen Œuvres  per se nicht möglich. So haben sich die Bearbeiter gehütet, die Dezimalklassifikation als Gliederungsprinzip für etwas anzuwenden, was sich in eine derart kristalline, gleichsam aseptische Gliederung seiner Natur nach nicht einzwängen läßt. Die marginal angebrachte dekadische Nummerierung ist eine Suchhilfe - und immerhin systematisch genug, um im Verein mit detaillierter Erläuterung die Sachverhalte offenzulegen. Und so haben der Bibliograph wie der Nutzer der Bibliographie dem Rechnung zu tragen, was in der Einführung des Bandes so formuliert ist: „Die Ursachen für die weithin unbefriedigende [man könnte in unserem Zusammenhang sagen: nicht restlos zu systematisierende] bibliographische Überlieferung eines großen, in der Gegenwart fortwirkenden Lebenswerkes liegen im wesentlichen in des Autors immenser, mehr problem- als werkorientierter Produktivität, in der erstaunlichen zeitgenössischen Popularität vieler Schriften und in den buchhändlerischen Verhältnissen seiner Zeit.“ (S. XVI) Dies trifft den Kern.

Im Umkehrschluß heißt das übrigens, daß sich aus der Bibliographie Zusammenhänge der Werkentstehung wie der öffentlichen Wirkung dieser Werke, Entwicklungen im Humboldtschen Denken und Schaffen sowie Prozesse der Wissenschaftsgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ablesen lassen. Das aber ist wiederum ein Thema für sich (auf das hier nicht weiter eingegangen werden kann): was nämlich Bibliographie für die Wissenschaftsgeschichte leisten kann. Es kann hier auch nicht darauf eingegangen werden, daß die vorliegende Bibliographie durch ihre werkgeschichtlich aufschlüsselnde und kommentierende Anlage der Forschung mehr entgegenkommt, als dies gemeinhin eine Bibliographie leistet. Wenn aber der hier vorliegende Bibliographieband nicht nur für das exakte Zitieren Humboldtscher Werke künftighin sorgen, sondern auch der Forschung ihr gemäße Impulse geben sollte, so wären Erwartungen der Herausgeber, die sich von allem Anfang an daran knüpften, und all ihre Mühen hinlänglich belohnt.



[1] Fiedler, Horst / Leitner, Ulrike: Alexander von Humboldts Schriften. Bibliographie der selbständig erschienenen Werke. Berlin: Akademie Verlag 2000 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung. Schriftenreihe der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 20). - Alle im folgenden Text in Klammern gegebenen Belege beziehen sich auf diese Bibliographie. Humboldtsche Werke sind durch Verweis auf den Abschnitt der Bibliographie, in dem sie genau bibliographiert sind, belegt.

[2] Horst Fiedler war von 1984 bis 1990 Leiter der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der damaligen Akademie der Wissenschaften der DDR. Er verstarb am 14. Januar 1990.

[3] La Roquette, [Jean Bernard Marie Alexandre Dezos] de: Catalogue des ouvrages et des quelques opuscules composés ou publiés par le Baron Alexandre de Humboldt. In: La Roquette: Notice sur la vie et les travaux de M. le Baron A. de Humboldt. Paris 1860, S. 47-88.

[4] Löwenberg, Julius: Alexander von Humboldt. Bibliographische Übersicht seiner Werke, Schriften und verstreuten Abhandlungen. In: Bruhns, Karl (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie. 3 Bde. Leipzig 1872. Bd. 2, S. 485-552.

[5] Beschluß-Protokoll der Mitarbeiter-Besprechung der Alexander-von-Humboldt-Kommission der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 13. und 14.12.1957, S.4. Archiv der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

[6] Alexander von Humboldt. 14.9.1769 - 6.5.1859. Gedenkschrift zur 100. Wiederkehr seines Todestages. Hrsg. von der Alexander-von-Humboldt-Kommissison der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Akademie-Verlag 1959.

[7] Fritz G. Lange war von 1956 bis 1970 Sekretär der Alexander-von-Humboldt-Kommission der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und Leiter der ihr seit 1958 zugeordneten Arbeitsstelle.

[8] Internationale Bibliographie zur Geschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von Günter Albrecht und Günther Dahlke. 4 Bde. Berlin 1969-1977.

[9] Fiedler, Horst: Georg-Forster-Bibliographie 1767 bis 1970. Berlin 1971.

 

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