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Stand: 12. August 2005
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Alexander von Humboldt
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Symposion: Aufbruch in die Moderne 1799-1999
(Mai/ Juni 1999)

 

Symposium      Teilnehmer/ Tagungsstruktur

Teilnehmer des Symposiums

Prof. Dr. Haroldo de Campos

Die transamerikanische Wanderschaft des Guesa von Sousândrade

 

Die erneute Betrachtung des Werkes von Joaquim de Sousa Andrade, Sousândrade (1832-1902) in den 60er Jahren veränderte den traditionellen Kanon der brasilianischen Romantik (der von Sílvio Romero bis zu Antonio Candido reichte). Die jüngere Literaturgeschichtsschreibung (Alfredo Bosi, Massaud Moisés) würdigt bereits die Originalität dieses Dichters, seine Vorreiterschaft, und seine Universalität. Im Gegensatz zum romantischen Indianismo, der vom mittelalterlichen heldenhaften Code geprägt ist und im Werk von Gonçalves Dias und José de Alencar idealisiert wird, wählt Sousândrade für sein langes narratives Gedicht, das von seinen Reiseerfahrungen gespeist wird, die mythische jugendliche Gestalt des Guesa zum Protagonisten aus. Guesa ist für ein rituelles Götteropfer vorgesehen, das von den Muisca-Indianern Kolumbiens kultiviert wird. Er wurde vom Bericht Alexander von Humboldts (Vues des Cordillères et Monuments des peuples indigènes de l’Amérique, 1810-1813) dazu angeregt. Ebenso wie Goethe in Die Wahlverwandtschaften (1809) zollt er seiner Bewunderung für Humboldts Erzählkunst einen Tribut. Sousândrade stellt den Bericht Humboldts, der sich auf den Sonnenmythos des Guesa bezieht, seinem Gedicht als Motto voran. Außerdem ehrt er an mehreren Stellen seines langen Gedichts den herausragenden deutschen Wissenschaftler, den er "Vater Humboldt" nennt. Das Werk wird im Verlauf von 20 Jahren veröffentlicht (1868-1888) und spielt in seinen bedeutendsten Teilen in den Gegenden (Amazonien, Anden), die der weise Naturforscher auf seiner Reise in die Neue Welt erkundet hat (1799-1804). Im Unterschied zu unserer kanonisierten Romantik, die versucht, dem brasilianischen Indianer Privilegien des vornehmen Rittertums zuzuschreiben, stellt Sousândrade mit einem Rückgriff auf den kolumbianischen Mythos des Guesa oder des Wanderers und die Chronik des Inkareichs als ein umfassendes Symbol des amerikanischen Aborigine heraus, der dem weißen Eroberer zum Opfer fiel. Er macht aus dem Guesa, mit dem er sich identifiziert, die persona des exilierten, pilgernden Dichters und projiziert ihn schließlich mitten in die "Börse von New York", in die Zentrale von Korruption und Spekulatino im sogenannten "Goldzeitalter" (1870-1880) des erstarkenden nordamerikanischen Kapitalismus. Das Gemeinschaftssystem der Inkas, das mit der sozialutopischen Republik Platons und den ethischen Inhalten des Christentums verschmilzt, erlaubt es ihm, sich eine ideale, gerechte und brüderliche Gesellschaft vorzustellen. Dies ist der paradiesische Pol des Gedichtes ("das Morgenlicht-Paradies der Inkas") im Gegensatz zu den beiden Abteilungen der Hölle (dem Tatuturema, einem orgiastischen Tanz der dekadenten, durch den weißen Mann verdorbenen Eingeborenen des Amazonasgebietes, und der Wall-Street-Hölle, dem Strudel des aufsteigenden Kapitalismus, über den der Gott Mamonas herrscht).

Andererseits läßt sich das Gedicht in "landschaftliche Malereien" zerteilen, in Verse, die mit der Farbigkeit ihrer Bilder und einer gewagten Syntax überraschen. In den Gipfeln der Kordillieren scheint die Natur sich in den Augen des Dichters Guesa zu vergeistigen, "zu vergöttlichen". Er sieht den "Ewigen Geist" durchscheinen, wo die "Anden, hoch sich auftürmen/ In den Himmeln, in transparenten Nebeln...; er kann in einem "Diamanten/ Aus weißem Licht...", in einem "kristallenen Licht" "den moralischen Prozeß der Natur/ farblose Anfänge, die Existenz/ Absolutheit irdischer und jenseitiger Schönheit" erkennen. Wird es dort ebenfalls eine holistische Auffassung vom Kosmos geben, die den Grundzug des Humboldt’schen Werkes bildet, jener "Synthese von physischer und moralischer Natur", die den deutschen Natur-Philosophen so sehr fasziniert hat?


 

Haroldo de Campos

 

* 1929. Bis 1989 Professor der Pontífica Universidade Católica von São Paulo für Literatursemiotik des Graduiertenprogramms der PUCSP. Dichter, Literarischer Übersetzer, Essayist. Begründer mit Augusto de Campos und Décio Pignatari der nationalen und internationalen Bewegung der Konkreten Poesie (1956). Herausgeber der Sammlung SIGNOS der Editora Perspectiva, São Paulo. Ehrendoktor der Universität von Montréal, Quebec, Kanada seit 1996. Chevalier dans L’Ordre des Palmes Académiques de France (1995). Teilnehmer des Internationalen PEN-Kongresses in New York (1966) (Teilnehmer des Round-Table I "Der Schriftsteller im elektronischen Zeitalter", Vorsitz von Marshall Mc Luhan). Biographien in der Enciclopédia Britânica (1997), in der Geschichte der Literatur – Band VI ; Propyläen Verlag, Berlin (1988). Auszeichnungen mit dem JABUTI-Preis in den Jahren 1991, 1992, 1993, 1994. Preis der Stiftung Octavio Paz für Poesie (1999)

 

Veröffentlichungen (Auswahl): Literatur: Auto do Possesso (1950); Galáxias (1963-1976); Finismundo:A última viagem (1990); Gatinmanhas e Felinuras, (Gedichte über Katzen) (mit Guilherme Mansur) (1994); Crisantempo (Gedichte und Transkreationen) (1998); Kritische und theoretische Schriften: Deus e o Diabo no Fausto de Goethe (Gott und der Teufel in Goethes Faust) (1981); Morfologia de Macunaíma (1973); Macunaíma: A imaginação estrutural (Die strukturale Imagination, (1973); übersetzt von Alrun Almeida Faria (1984); Guimarães Rosa em três dimensões (1970); A Arte no horizonte do provável (1976); Metalinguagem (1976); erweiterte Ausgabe: Metalinguagem e outras metas (1992); Sousândrade-Poesia mit Augusto de Campos (1995); Teoria da Poesia Concreta mit A. de Campos und Décio Pignatari (1965, 1975,1987); Revisão de Sousândrade mit A. de Campos (1964, 1982); Transkreationen: Pedra e Luz na poesia de Dante (1968); Dante: Seis Cantos do Paraíso (1976, 1978); Poemas de Maiakóvski (mit A. Campos und B. Schnaiderman) (1967); Poesia Russa Moderna (1968,1985); Traduzir é trovar (Übersetzen ist Dichten)(1968); Cantares de Eszra Pound (mit A. Campos und D.Pignatari) (1983, 1985)

CD: Marisa Monte und Haroldo de Campos: Barulinho Bom/Uma viagem musical; Poema Blanco von Octavio Paz, fragmentiert und übersetzt von Haroldo de Campos, Emir Music Ltda, 1996; Madan e Haroldo de Campos. CD, darauf: Refrão à maneira de Brecht, Haroldo de Campos (Stimme), Disc Digital Audio(1997); Verschiedentlich Mitarbeit bei Videoaufzeichnungen, Filmproduktionen und Theaterinszenierungen mit namhaften Regisseuren

 

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