Archivkopie der Website http://www.humboldt-im-netz.de |
---|
______________________________________________________
Ulrike Leitner
Vielschichtigkeit und Komplexität
im Reisewerk Alexander von Humboldts - Bibliographischer HintergrundEinleitung
”Ein Buch von der Natur muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorrufen” schrieb A. v. Humboldt an Varnhagen über seinen ”Kosmos”, aber es trifft auch auf seine anderen Hauptwerke zu, insbesondere auf das vielbändige Werk zur Amerikareise 1799-1804. Humboldt war sich durchaus der Bedeutung des literarischen Stils zur Vermittlung seiner Ideen bewußt: Der Kosmos sollte ein Werk werden, ”das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt”. Humboldt wollte mit seinem Schreiben Natur simulieren - so Ette in seiner überzeugenden Analyse von Humboldtian writing.[1] Besonders in Amerika erfordert der Anblick der Natur - so Humboldt selbst - ein komplexes und vielschichtiges Schreiben: ”Nirgendwo anders ruft ihm die Natur so lebhaft zu, sich zu allgemeinen Ideen über die Ursache der Erscheinungen und ihre gegenseitige Verknüpfung zu erheben.”[2]
Humboldt war als Naturwissenschaftler Empiriker, eine Fülle von Daten und diese möglichst von verschiedenen Orten (um sie miteinander vergleichen zu können) sollte den Eindruck von der natürlichen Vielfalt wiedergeben. Daneben suchte Humboldt aber immer nach ordnenden Strukturen, nach funktionalen Beziehungen zwischen den beobachteten und aufgezeichneten Phänomenen und Daten.
Obwohl Humboldts Leistungen auf den verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebieten längst der Vergangenheit angehören und ihm von den Historiographen in der Entwicklung der naturkundlichen Disziplinen ein eher unbedeutender Platz eingeräumt wird, ist ein zunehmendes Interesse an seinen Schriften heute zu beobachten. Einerseits kann sich der Faszination durch einen z. T. persönlichen und spannenden Bericht, mit dem Humboldt seine Reisen und die Natur einer fremden Welt (heute ebenso fremd, da sie so nicht mehr existiert) beschreibt, auch heute kaum ein Leser entziehen. Andererseits ist der in den einzelnen Teildisziplinen fast vergessene Humboldt wegen seiner ganzheitlichen Sichtweise und der in seinen Schriften vermittelten Interdependenz der naturwissenschaftlichen Disziplinen untereinander wieder stärker ins Interesse der Naturwissenschaftler gerückt. In der Wissenschaftsgeschichte wird ihm - nach seinem Lehrer Georg Forster - ein bedeutender Platz in der Phase des Übergangs von der Entdeckungsreise zur wissenschaftlichen Forschungsreise zuerkannt. Neben diesem zunehmenden Interesse verblüfft - trotz einer Fülle von neuen Publikationen[3] - die geringe Kenntnis der Schriften Humboldts. Zwar sind seine eher populärwissenschaftlichen Werke, wie die ”Ansichten der Natur” relativ bekannt, aber von dem 29bändigen Reisebericht werden meist nur die sich auf Abenteuer beschränkenden Auszüge (z. B. die Fahrt auf dem Orinoco[4]) gelesen. Der geringe Bekanntheitsgrad des Reisewerks hat seinen Grund nicht nur in der mangelnden Verfügbarkeit[5], sondern auch in Humboldts besonderem Stil, der eine lineare Lesbarkeit erschwert, aber - wie gesagt - von Humboldts Natursicht geprägt ist. Das soll an einigen Beispielen näher erläutert werden.
Die folgende Darstellung ist durch Ettes Analyse des Humboldtian writing beeinflußt, der diesen Begriff in Analogie zum Begriff Humboldtian science [6] prägte und so nachwies, daß Humboldt mit seinem Schreiben nicht gescheitert ist, sondern daß es eine gewollte Form der Wissensorganisation und damit Spezifik des Humboldtschen Denkens und Schreibens ist. Humboldtian writing sei intermedial (Vernetzung zwischen Text/Text und Text/Bild), interkulturell (an fremden Kulturen interessiert) und transdisziplinär (nicht an disziplinäre Grenzen gebunden) und beruhe auf einem Denkstil, der geprägt sei durch eine “spezifische Kombinatorik, die zwischen den unterschiedlichsten Gegenstandsbereichen, Wissensgebieten und Methodologien Verbindungen herstellt und so das (auf einer Fülle von Einzeluntersuchungen basierende) Zusammendenken als Herzstück Humboldtscher Wissenschaftskonzeption ausweist.”[7] Ette stellt seiner Analyse in seinem Buch über wandernde Netze und vernetzte Wanderungen[8] Humboldts Sätze in der Einleitung zum “Kosmos” als Motto voran: “Eine allgemeine Verkettung, nicht in einfacher Ursache, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe, nach höherer Ausbildung oder Verkümmerung gewisser Organe, nach vielseitigem Schwanken in der relativen Uebermacht der Teile, stellt sich allmälig dem forschenden Natursinn dar.”
Humboldts grandiose Absicht, die Natur in ihren vielfältigen Verzweigungen darzustellen, zeigt sich auch in dem Phänomen, daß viele Werke Humboldts unvollendet blieben.[9] Da Humboldt sein sich fortlaufend erweiterndes Wissen in die über viele Jahre bzw. sogar Jahrzehnte entstehenden Schriften einfließen ließ, sind diese als ”work in progress” anzusehen.”[10] Insofern ist sein Schreiben als ein realistischerer Versuch der Darstellung der Natur als jede Enzyklopädie anzusehen.
Zwar erscheint uns als Leser der ausufernde Schreibstil oft etwas mühsam, aber die Ettesche Analyse gibt uns gewissermaßen ein Rezept, wie die Texte Humboldts zu lesen sind: nämlich nicht linear, nicht chronologisch, nicht systematisch, sondern ”wie die Natur selbst”, die man ”erfahren” (bzw. erlaufen) kann, von der man mit schweifendem Blick aus der Ferne einen Gesamteindruck gewinnen kann, oder in der man sich auf ein bestimmtes Thema (botanisches, zoologisches, geographisches, historisches, anthropologisches usw.) fixieren und faktensammelnd im Detail verbleiben kann - all dies (und mehr) ist im Humboldtschen Schreiben vereint.
Im folgenden soll auf der Grundlage des Etteschen Konzepts und bibliographischer Recherchen die Vielschichtigkeit und Komplexität im Humboldtschen Reisewerk an Beispielen dargestellt werden.
[1] Ette 2002, 137
[2] Humboldt 1997, I, 16
[3] Insbesondere die 2004 in „Die Andere Bibliothek“ (hrsg. v. Hans Magnus Enzensberger) herausgegebenen Werke „Ansichten der Natur“, „Kosmos“ und „Ansichten der Kordilleren“ (Humboldt 2004a, Humboldt 2004b und Humboldt 2004c)
[4] Beispiele: Humboldt 1958, Humboldt 1971, Humboldt 1985
[5] Nur in wenigen Bibliotheken ist das Reisewerk vollständig vorhanden, in Berlin z. B. im Botanischen Museum und in der Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz.
[6] Cannon 1978
[7] Ette 2001, 51
[8] Ette 2002
[9] Humboldt plante beispielsweise für die Reiseschilderung vier Bände, von denen drei erschienen, die aber nur etwa ein Drittel des Reisewegs enthalten. Der “Examen critique” brach mit seiner letzten Lieferung 1838, also fast 25 Jahre nach Humboldts Rückkehr, ebenfalls unvollendet ab. Vgl. auch Ette 2002, 162
[10] Vgl. Ette 2002, S. 105. Ette verweist hier besonders auf die über drei Auflagen immer weiter ausufernden ”Ansichten der Natur”.
______________________________________________________
<< letzte Seite | Übersicht | nächste Seite >>