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Gespiegelte Fassung auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam
Stand: 12. August 2005
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HiN - Humboldt im Netz

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Ulrike Leitner

Vielschichtigkeit und Komplexität
im Reisewerk Alexander von Humboldts - Bibliographischer Hintergrund

II. Dimension: Texte und Hypertexte

Die vernetzte Struktur zeigt sich auch innerhalb eines einzelnen Werkes. Die ”Relation historique” folgt zwar dem chronologischen Reiseverlauf, dieser wird jedoch ständig unterbrochen durch zeitliche Vor- und Rückgriffe (die  für Humboldts Methode des Vergleichs wesentlich waren) und durch Zwischentexte, wissenschaftliche Passagen, tabellarische Übersichten, Zusammenstellungen gesammelter, auch historischer Materialien, Abhandlungen und Essays, die relativ eigenständig im Text stehen und spezielle Sachverhalte behandeln. Damit gelingt es Humboldt (lt. Ette), den gewünschten ”Gesamteindruck zu erzeugen, der auch auf der Konzeption des Ganzen beruhte”. H. Böhme nennt Humboldts Schreiben mit dem Bemühen, Empirie und Holismus zu vereinen, innerhalb der Reiseliteratur gattungstheoretisch beinahe vorbildlos.[1] Zwar bezieht er sich auf den Text ”Über die Steppen und Wüsten” aus den ”Ansichten der Natur”, aber seine Analyse kann ebenso für die ”Relation historique” gelten: ”Texttheoretisch handelt es sich um Hybriden, um Kreuzungen und Wucherungen, die den Haupttext umschlingen, erweitern, verzweigen, rhizomartig unterwandern. [...] Oder, in heutiger Sprache gesagt, es sind Links, welche unter der Oberfläche des Textes immer weitere Tiefenschichten von Hypertexten öffnen.”[2] Für die Reisebeschreibung ist dies auf den ersten Blick nicht so deutlich sichtbar wie für die einzelnen Artikel der ”Ansichten der Natur”, wo diese Hypertexte in Form von Anmerkungen dem Text angehängt sind. Die ”Relation historique” ist noch vielschichtiger. Hier kann man drei Typen diskursiver Abschweifungen unterscheiden:

- Anhänge an die Kapitel (”Notes du livre...”, ”Suppléments” und ”Additions”)
Diese sind nicht direkt bestimmten Textpassagen zuzuordnen, sondern sind tatsächlich vertiefende Anhänge bzw. separate Essays.

- Fußnoten bzw. Anmerkungen
Dieser Typus wird von Böhme in dem erwähnten Artikel über die ”Ansichten der Natur” analysiert. Sie sind in der ”Relation historique” jedoch selten so ausgeufert (Beispiel: LINK), sondern eher unauffällig knapp und nicht wie separate Abhandlungen.

- Diskursive Abschweifungen im Text selbst
Dieser in der Reisebeschreibung relativ stark vertretene Typus ist meist auf den ersten Blick nicht sichtbar, da er vom Text nicht getrennt ist.[3]

Man kann also die ”Relation historique” nicht nur als eine Reiseschilderung lesen, sondern findet an entsprechenden Stellen Unterbrechungen, die sich verallgemeinernd mit einem naturwissenschaftlichen, ethnologischen oder wirtschaftlichen Phänomen beschäftigen. Es gibt keine Linearität, weder chronologisch, noch geographisch, noch systematisch. Alles hängt miteinander zusammen, ständig muß der Autor ein Detail in die Gesamtheit, das ”Naturgemälde”, einordnen. So ist man als linear Lesender verblüfft, plötzlich während der Beschreibung der Überfahrt nach Teneriffa einem Essay über Meeresströmungen im Atlantik zu begegnen, der durch nichts angekündigt ist. Die Beschreibung des Aufstiegs auf den Pico de Teide wird ergänzt durch einen mehrseitigen Absatz zur Beschreibung der vorgefundenen Gesteine, insbesondere des Obsidians. Es folgt ein weiterer geologischer Essay zu Fragen, die in der Vulkanismus/Neptunismus-Debatte der Zeit von Bedeutung waren, in dem Humboldt das Beobachtete zusammenfaßt und erste Hypothesen über die Entstehung der Vulkane und den vulkanistischen Ursprung bestimmter Gesteine wagt.

Während der Weiterreise gibt es Texte über Winde, über den Meertang, über fliegende Fische, über Meßmethoden, über Meerestemperatur, die Färbung des Himmels, die Intensität magnetischer Kräfte usw. Die Beschreibung der Abreise von Caracas wird unterbrochen durch eine Schilderung der Erdbeben von Caracas und der Darstellung des Zusammenhangs verschiedener geophysikalischer Erscheinungen in einem größeren geographischen Rahmen sowie des mehrfach beobachteten Zodiakallichts. Später liest man eine geschlossene Abhandlung über die Milch des Kuhbaums und über den Kakao-Anbau in der Provinz Caracas. Mehr als ein Drittel des siebenten Kapitels im zweiten Band beinhaltet die Beschreibung des elektrischen Aals, dem aber in der ”Zoologie” bereits ein ganzes Kapitel gewidmet war. Im nächsten Kapitel findet man einen ganzen Aufsatz über das Klima der Tropen. Band 3, der im wesentlichen der Orinocoreise gewidmet ist, enthält verschiedene Aufsätze z. B. über die Ausbreitung der Schallwellen, die Herkunft des Kautschuks, das hydrographische System der Gewässer nördlich des Amazonas, Gabelteilungen von Flüssen, die Gewinnung des Curare, die Erde essenden Otomaken usw. und zum Abschluß die Texte, die dann nochmals separat als der sog. Kuba-Essay publiziert sind (s. u. Dim. IV).

Dies sind nur einzelne Beispiele der inhaltlichen Verzweigungen und Verschachtelungen, die die lineare Abfolge der Reiseschilderungen unterbrechen und von Humboldt nicht als Unterkapitel gekennzeichnet sind.[4] Nur einzelne Bemerkungen Humboldts verdeutlichen, daß diese Essays gewolltes literarisches Mittel sind: ”Ehe wir den Archipel der Canarischen Inseln verlassen, wird es nützlich sein, uns noch einen Augenblick aufzuhalten, um unter einem Gesichtspunkt das zusammenzufassen, was sich auf das Naturgemälde dieser Gegenden bezieht.” Bei einer anderen Abschweifung, der historischen Darstellung der Erdbeben von Cumaná, beschreibt er das ”Ziel, das wir uns bei diesem Werk gesteckt haben, einen gleichförmigen Gang zu befolgen und in ein und demselben Rahmen alles zu vereinigen, was sich auf diese schrecklichen und so schwer zu behandelnden Erscheinungen bezieht.”[5]

Humboldt weist also mit diesen zusammenfassenden Passagen immer wieder darauf hin, das Ganze, den Totaleindruck durch die Fülle der Details nicht aus den Augen zu verlieren. In seiner Einleitung hat er dieses Anliegen verdeutlicht. Er schreibt hier, daß er keine “Relation historique” im eigentlichen Sinne schreiben wollte, sondern ein beschreibendes Werk: ”Um meinem Werk mehr Mannigfaltigkeit in der Form zu geben, habe ich häufig den erzählenden Teil mit einfachen Beschreibungen unterbrochen. Zuerst stelle ich die Erscheinungen in der Ordnung dar, wie sie sich darboten; dann betrachte ich sie im ganzen ihrer individuellen Verbindungen.” Über die hier interessierenden Passagen schreibt er: ”In den Abhandlungen, die zur Vertiefung der verschiedene Gegenstände unserer Forschung bestimmt sind, haben Herr Bonpland und ich die Betrachtung jeder Erscheinung unter verschiedenen Aspekten und die Einordnung unserer Beobachtungen nach den Beziehungen, die sie untereinander darboten, versucht.”[6] Humboldt hat allerdings für diese Verallgemeinerungen und theoretischen Analysen während der relativ langen Bearbeitungszeit der ”Relation historique” (gedruckt wurde an den Lieferungen in den Jahren von 1812 bis 1831) weiteres, ihm während der Reise noch nicht zugängliches Material einfließen lassen.

Hat man sich als Leser erst einmal an diese Schreibweise gewöhnt, erscheint sie einem logisch: Sie entspricht dem Gang des Forschungsreisenden, der mal den Blick in die Ferne schweifen läßt, mal innehält, um ein Detail zu betrachten, und der dann in einer Pause über Entferntes reflektiert oder bisher Gesehenes mit dem hier Vorgefundenen zu vergleichen, oder sich in Ruhemomenten philosophischer oder naturwissenschaftlicher Spekulation hinzugeben.



[1] Böhme 2001, 23

[2] Böhme 2001, 24

[3] Erst in der 1997 erschienenen deutschen Neuausgabe (Humboldt 1997) hat H. Beck durch die geglückte Vergabe von zusätzlichen Kapitelüberschriften diese Abhandlungen sichtbar gemacht. Leider sind einige der Essays (wie auch Fußnoten) in dieser Ausgabe – wie in den meisten deutschen Ausgaben - entfallen.

[4] Weitere Beispiele kann man dem Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes der deutschen Edition von Beck entnehmen (s. Humboldt 1997, I)

[5] Humboldt 1997, I, 186

[6] Humboldt 1997, I, 10

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