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Ulrike Leitner
Vielschichtigkeit und Komplexität
im Reisewerk Alexander von Humboldts - Bibliographischer HintergrundSchlußplädoyer
Bei seinen Zeitgenossen stieß Humboldt mit seinem Stil nicht immer auf Verständnis, wie englische Rezensionen der “Personal narrative” zeigen. Bereits bei Erscheinen des ersten Bandes werden besonders die in den Verlauf der Reisebeschreibung eingebetteten Essays kritisiert: “[…] as a writer […] he has his faults, the most prominent of which perhaps are, as too great fondness in the one, for generalization, […]; and, in the other, of mixing up the details and minutiae of scientific observations with the general narrative.”[1] “With a little management” hätte man eine nicht dauernd von allgemeineren Texten unterbrochene Reiseschilderung liefern können. “The scientific descriptions, and the dissertations to which they might lead, would be advantageously thrown into an appendix.”[2]
Daß hinter den harten Kritiken wahrscheinlich auch politische Gründe standen (Humboldts Leben in Paris war in England nicht gern gesehen), bedeutet nicht, daß sein Stil nicht tatsächlich für den linear Lesenden etwas umständlich wirkt. Humboldts vernetzte Schreibweise als Managementproblem zu bezeichnen heißt aber, seine Denkweise vollständig zu verkennen. Nach dem bisher Gesagten (insbesondere den Ausführungen zu
Dim. 2) ist offensichtlich, daß Humboldt mit diesem Stil bewußt die Vielschichtigkeit und Verkettung der Natur besser darstellen wollte.
Das Problem für den Leser ist das Medium Buch, insbesondere eines mit dem Titel “Relation historique” bzw. “Personal narrative”. Man erwartet bei bestimmten Inhalten eine bestimmte Textstruktur, beispielsweise eine strikte Trennung zwischen wissenschaftlichem Text und Erzählung. Einzelne Elemente der Verkettung (Tabellen, Text-Bildverweise) sind sicher für jedes wissenschaftliche Werk normal, insofern entspricht die Textstruktur beispielsweise der “Astronomie” durchaus unseren Lesegewohnheiten. Auch Text-Hypertext-Strukturen sind in gewissem Maß durch das Einfügen von Fußnoten und Anmerkungen in Fließtexten üblich. Das Besondere bei Humboldt ist die Mehrschichtigkeit in vielen Dimensionen, denen keine hierarchische Ordnung gegeben werden kann. Böhme hat Beispiele dafür genannt, daß die Anmerkungen in den “Ansichten der Natur” sich zu eigenständigen Texten entwickelt haben, die im Rang gleichwertig neben den eigentlichen Haupttexten stehen. Ebenso ist es mit den Übersetzungen, die in einigen Fällen keine Übersetzungen eines Ausgangstextes, sondern Bearbeitungen desselben sind und als gleichrangig behandelt werden müssen. Auch die von Humboldt selbst aus den Haupttexten wieder abgedruckten Separata sind nicht notwendig bibliographische Nebentexte, sie können sogar die Ursprungstexte und später dem Haupttext angehängt sein. Ebenfalls kann man nicht - ohne Humboldt zu verfälschen - die reiseschildernden Texte aus der “Relation historique” herauslösen und die diskursiven Abschweifungen bzw. wissenschaftlichen Essays weglassen, denn damit würde man ihnen den Rang eines Subtextes, im Sinne von “nebenbei gesagt…” zusprechen.[3] Man kann eigentlich wegen der Gleichrangigkeit der Partien nicht einmal nur die “Relation historique” lesen, sondern müßte die anderen Bücher der “Voyage…” zum gleichzeitigen Gebrauch parat haben.
Humboldt kann also mit unseren herkömmlichen Lesegewohnheiten nur mißverstanden werden. Erst durch Ettes Analyse sortiert sich das textliche Chaos, das sich nun als ein organisiertes Netzwerk des Wissens darstellt – mit den beschränkten Mitteln, die das Medium Buch bietet.
An dieser Stelle muß fast nicht mehr gesagt werden, daß diese Sichtweise automatisch ein Plädoyer für eine Digitalisierung des 29 bändigen Reisewerks ist – aber auch nur des Gesamtwerks und auch nur unter den strengen Voraussetzungen einer kritischen Edition! Erst hier ließen sich komplexe Register erstellen, die eine Verbindung zu allen einzelnen Bänden und damit die Verkettung untereinander ermöglichen. Erst hier kann man mit Leichtigkeit unter einem thematischen Gesichtspunkt (oder einem bestimmten Datum, einem bestimmten Ort, einer bestimmten Person) von einem Band zum andern wandern. Erst hier kann man ein hierarchisches Prinzip außer acht lassen, weil man mal die eine Partie, mal die eine Übersetzung, mal eine weiter entfernte Publikation (aus
Dim. 4 oder
Dim. 5) in den Vordergrund stellen und diesen Vordergrund auch jederzeit wechseln kann, so daß ein anderer Text aus dem Hintergrund in den Vordergrund gelangen kann. Durch die zusätzliche Möglichkeit der Kommentierung ließe sich sogar Humboldts Auffassung seiner Schriften als “work in progress” realisieren.
Es ist übrigens interessant, daß man bei Begründungen von Digitalisierungen historischer oder wissenschaftlicher Texte nicht auf die Analyse von Textstrukturen stößt. Umgekehrt stößt man jedoch in Darstellungen zu “Hyperfiction”, also einer im Internet entwickelten neuen Textgattung mit hybriden Ausdrucksformen, auf einige der Eigenschaften, die für die Humboldtschen Texte typisch sind: “Eine Hyperfiction ist ein elektronischer Hypertext, der Text als Gewebe oder Textur versteht, an der ständig weitergeflochten wird. Einzelne Texteinheiten werden innerhalb und außerhalb eines Dokuments auf assoziative, nicht sequentielle Weise, d. h. in der Struktur eines Rhizoms oder Baums miteinander verbunden. Der Leser erhält damit die Möglichkeit, verschiedenen Gewebefäden und damit auch Erzählsträngen zu folgen, ja er muß neue Fäden finden und sie (weiter)spinnen. Somit hat er beim Lesen die Möglichkeit, mehrere Informationen oder Texteinheiten in eine neue Abfolge zu bringen und damit einen neuen Zusammenhang schöpferisch zu kreieren.”[4] Jedoch wird das “Auftauchen hybrider Ausdrucksformen” in der Hyperfiction auf die Mitte der 90er Jahre datiert, eine Verbindung zu bereits vor dem Internet existierenden Textstrukturen wird hier gar nicht erst gesucht,[5] allerdings “Parallelen zu Denk- und Gestaltungsformen der Gegenwartsgesellschaft” gesehen: “Denkformen des Gewebes, der Verflechtung, der Verkreuzung, der Vernetzung” statt der “alten Denkweisen sauberer Trennung und unilinearer Analyse”.[6]
Humboldts Werk als ein Vorläufer einer “Hyperscience” also?
Zumindest zeigen die hier genannten Beispiele, daß dem Humboldian writing – damit ihm ein adäquates Lesen entspricht - nur eine vollständige, ungekürzte, durch spezielle Suchfunktionen nichtlinear zugängliche, mit Registern versehene Edition gerecht werden kann, daß eine solche aber umgekehrt völlig neue Forschungsergebnisse aufzeigen und einige Lücken der Humboldt-Forschung schließen kann.
[1] Rezension in Quarterly Review, 18 (1817), Oct., 136
[2] Rezension in Quarterly Review, 21 (1819), March, 320
[3] Die unzähligen Auszüge, Nachauflagen, Nacherzählungen und Neuübersetzungen der Reisebeschreibung in deutscher Sprache (s. Fiedler/Leitner 2000, 83-103) zeigen die Geschichte dieses Mißverstehens: bis heute haben sich ausnahmslos alle Herausgeber und Übersetzer durch Weglassen dieser Textpassagen darum bemüht, Humboldt im Sinne der englischen Rezensenten zu verbessern.
[4] Suter/Böhler 1999, 15-16
[5] Allerdings wird Literatur vor der Erfindung des Internets aus dem Begriff “Hyperfiction” per definitionem ausgeschlossen, s. Reinhold Grether, Versuch über Welttexte - 1. Thesen zur Netzliteratur: “Wenn es Oral-, Manuskript- und Druckliteratur gibt, dann kann es auch Netzliteratur geben. Gibt es Netzliteratur, läßt sich die literarische Tradition daraufhin befragen, was an ihr schon ‘netzig’ war. [...] Netzliteratur, soweit sie schon erkennbar ist, setzt jedenfalls Computer und Computernetze [...] voraus.”
[6] ebd., 9. Die Autoren zitieren hier Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M., 1996.
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