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Eva-Maria Siegel
Repräsentation und Augenschein.
Organisation des Wissens und Wahrnehmung des Fremden um 1800 am Beispiel der Reiseberichte und -tagebücher Alexander von Humboldts
2. Die Sprache der Natur und ihre instrumentelle Wahrnehmung
“Humboldt ist der umfassend alphabetisierte Leser eines ‘Buches der Natur’.”[1] Mit dieser Aussage leitet sich eine Betrachtung der Beziehungen des Reisenden zu jener “Konstellation” um 1800 ein, die unter der Bezeichnung “Weimarer Klassik” firmiert und auf die zurückzukommen sein wird. Als Autor von Wissenschaftsprosa dringt Humboldt auf weitgehend unbekanntes Gelände vor. In der Natur, schreibt Leo Kreutzer, lese er wie in einer Schrift: Zeichen, die sich zu Texten zusammenfügen. Geologisches, Mineralogisches, Metereologisches, Pflanzen, Tiere, Menschen – alle Vielfalt werde detailliert erfasst, um alles mit allem zu ‘typischen’ Naturszenen zu verbinden. Anhand einer Betrachtung des Kosmos, Humboldts letztem Werk, hat Hans Blumenberg in seinem Band Lesbarkeit der Welt bereits gezeigt, dass Humboldts ‚Schreiben’ zwar “aufs Gemüt wirken soll wie die Natur” – aber “seine Natur” wirkt keineswegs “wie ein Buch”, sondern “wie ein ‚Gemählde’”.[2] Das trifft auch auf die Beschreibung der Reisen in die Gegenden des Neuen Kontinents zu. Die Phänomene der Natur werden durch die instrumentelle Wahrnehmung gleichsam zum ‚Sprechen’ gebracht. In Bild und Schrift dargestellt, dienen sie dem Aufzeigen von “Verbindungen”, die für Humboldt “in den Naturwissenschaften” ebenso wie “in den Naturerscheinungen selbst” herrschen.[3] Nur weil die Natur auch – aber nicht nur - in Zahlenverhältnissen spricht, lässt er also “all diese Meßinstrumente mit sich rumschleppen”.[4] Zu ihnen gehören
“Sextant und Chronometer zur Standortbestimmung; Fernrohr und Mikroskop zur Beobachtung von Ferne und Nähe; Thermometer, Barometer, Hygrometer, Cyanometer und Elektrometer zu Messungen aller Art”[5].
Nicht das umherschweifende, sondern das stillgestellte, auf den einzelnen Sehakt konzentrierte Auge ist demzufolge als “Organ der Weltanschauung” zu betrachten. Das Wissen, das mit Hilfe der Messinstrumente organisiert wird, tritt in die “Funktion der Übersetzung” von “Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen” ein; es zeigt sich demnach in höchstem Maße “bewaffnet”[6].
Das Verhältnis von visueller Erkenntnis und sprachförmigem Wissen, das dem Genre des Reiseberichts zugrunde liegt, gewinnt allerdings erst in dem Maße an Bedeutung, in dem der Reisende sich mit der Aufgabe konfrontiert sieht, die “Faszination unmittelbarer Aufzeichnung” in die “Erinnerung an das Gesehene”[7] zu überführen. Nicht allein jene “Wunder”[8] also sind festzuhalten, die Humboldt zwischen Juli 1799 und November 1800 den Orinoko entlang führen, deren Ansicht ihn auf der Reise durch die Anden im März 1801 bis Februar 1803 beschäftigt oder die den einjährigen Aufenthalt in Mexiko bis zum Hochsommer 1804 zu einem Höhepunkt der Reise werden lassen - mit anschließender Überfahrt nach Kuba sowie einem Abstecher in die Vereinigten Staaten, wo ihn Präsident Jefferson empfängt.[9] Das Ziel der Reise ist vielmehr ein doppeltes:
“Ich wollte die Länder, die ich besuchte, einer allgemeinen Kenntnis zuführen; und ich wollte Tatsachen zur Erweiterung einer Wissenschaft sammeln, die noch kaum skizziert ist und ziemlich unbestimmt bald Physik der Welt, bald Theorie der Erde, bald Physikalische Geographie genannt wird.”[10]
In der Niederschrift der Erlebnisse sind die “Potenzen der Schrift” wie des Bildes auszuloten - “Sondierungen, die nicht bei der Sinngebung ansetzen, sondern vorab auf die Formung der Sinne in ihrer aisthetisch verschriftlichten Materialität zielen.”[11] Sie vor allem bedürfen eines Vorwissens des Reisenden, das seine Auffassungs- und Wahrnehmungsfähigkeit ebenso bestimmt wie sein Vermögen zur Weitergabe; das den Charakter des Berichteten ebenso prägt wie es repräsentative Funktionen voraussetzt.
Denn Humboldt weiß: Was Betrachter so alles in Naturformen “hineinträumen”[12], erweist sich leicht von einer Beschaffenheit, die dem Sehvermögen der “Wissenschaft der Steuerleute” auf hoher See gleichzustellen ist: “Da unser Steuermann sieht, was er glaubt”, führt er aus, “sieht er alles, was das Rezept ihm ankündigt.”[13] Wahrnehmungen von Ähnlichkeit entlang der “Fortschrittsgeraden”[14] erweisen sich so im Blick auf fremde Kulturen häufig als bevorzugte Ingredienzen dieser Rezeptur. Um aus der Fülle der anschaulichen Welt einzelne Aspekte hervorzuheben, erfährt der visuelle Prozess aber auch in der Naturbeobachtung nicht selten eine Stilisierung. Gesehen wird auch hier, weiß Humboldt, in aller Regel das, was vorher ‘gelernt’ worden ist:
“Die Europäer haben überall Pflaumen, Kirschen, Oliven, Äpfel gefunden. Die entfernte Ähnlichkeit der Tropenpflanzen mit den Gewächsen des Vaterlandes haben sie aufgefaßt. Der Däne sieht überall Birken, Tannen, Weiden und Eichen, der Spanier Oliven und Johannisbrot, jedem schwebt allgegenwärtig das Bild seiner Heimat vor. Um die Phantasie mit angenehmen Träumen zu füllen, gibt der Ankömmling dem neuen Wohnort den Namen seiner Vaterstadt, Flüsse, Seen und Berge, alles umher wird mit vaterländischen Namen begrüßt. [...] So haben die Abkömmlinge jener Völker, die einst die Welt durch ihre Eroberungen in Erstaunen setzten, Spanier und Portugiesen, den Vorzug, in beiden Indien nicht nur Sprache und Mitbürger, sondern auch Erinnerungen an die Produkte und kleinsten Lokalverhältnisse ihres Vaterlandes zu finden.”[15]
Die Fülle der wahrgenommenen Objekte ist demzufolge als eine Grenzbestimmung zu betrachten, an deren Schwelle sich im Sichtbaren eine Art blinder Fleck einnistet. Zu jeder visuellen Konfiguration, zu jeder optischen Präsenz gehörend, erweist er sich allzu häufig als unvermeidliche Folge des wahrnehmenden Blicks. Vor diesem Horizont erhebt sich nun die Frage, inwieweit der Reisende Humboldt als Wahrnehmender selbst an jene Sinnwelt gebunden bleibt, die aus seinen eigenen, den europäischen Repräsentationspraktiken, hervorgeht.
[1] Leo Kreutzer: Alexander von Humboldt und die Gruppe 94. Naturwissenschaft und Naturästhetik im Projekt einer anderen Moderne, in: Welfengarten. Jahrbuch für Essayismus 4 (1994), S. 88.
[2] Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981, S. 289. Vgl. zu diesem ganzen Komplex der ‚écriture’ aus neuerer Sicht vor allem die Arbeiten von Ottmar Ette: Alexander von Humboldt heute, in: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens. Haus der Kulturen der Welt, Berlin: 6. Juni – 15. August 1999; Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn: 15. September 1999 – 9. Januar 2000. In Kooperation mit dem Goethe-Institut [Katalog], S. S. 30; Ottmar Ette u.a. (Hrsg.): Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne. Berlin 2001 (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung; 21)
[3] Alexander von Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Hrsg. von Ottmar Ette. Mit Anm. zum Text, e. Nachw. u. zahlr. Abb. sowie e. farbigen Bildteil. 1. u. 2. Bd. Frankfurt a.M. 1991, S. 13.
[4] Leo Kreutzer: Alexander von Humboldt und die Gruppe 94, [Anm. 28], S. 89.
[5] Urs Bitterli: Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt. München 1991, S. 471; zu den Praktiken der Vermessung Alexander von Humboldt: Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, [Anm. 6], S. 49, S. 74, S. 143, S. 242, S. 251, S. 259, S. 282, S. 310 und S. 324.
[6] Karlheinz Barck: “Umwandlung des Ohrs zum Auge”. Teleskopisches Sehen und ästhetische Beschreibung bei Alexander von Humboldt, in: Bernhard J. Dotzler/ Ernst Müller (Hrsg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen einer Aisthesis materialis. Berlin 1995, S. 32.
[7] Ebd., S. 29.
[8] Frank Holl: “Wir kommen von Sinnen, wenn die Wunder nicht bald aufhören”. Die amerikanische Reise, in: Alexander von Humboldt. Netzwerke des Wissens, [Anm. 29], S. 63ff.
[9] Vgl. Urs Bitterli: Die Entdeckung Amerikas, [Anm. 32] S. 452ff.
[10] Alexander von Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, [Anm. 30], S. 12.
[11] Karlheinz Barck: “Umwandlung des Ohrs zum Auge”, [Anm. 33], S. 34 (Hv. ebd.).
[12] Alexander von Humboldt: Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, [Anm. 6], S. 384.
[13] Ebd., S. 358.
[14] Leo Kreutzer: Alexander von Humboldt und die Gruppe 94, [Anm. 28], S. 91.
[15] Alexander von Humboldt: Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, [Anm. 6], S. 216f.
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