Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

Inhalt

  

Mag. Angelika Birck:1

Wie krank muß ein Flüchtling sein, um von der Abschiebung ausgenommen zu werden? 
 Vergleich von Stellungnahmen des Polizeiärztlichen Dienstes in Berlin und jenen von niedergelassenen Fachkollegen2

Inhaltsübersicht
I. Ausgangslage
II. Datenmaterial und Stichprobe

III. Fragestellung und Methode der Datenanalyse

IV. Ergebnisse

1. Vorgeschichte und traumatische Erlebnisse
2. Beschwerden und Diagnosestellung
3. Behandlungsbedarf und Reisefähigkeit
4. Hinweise zum Sprachverständnis
5. Argumentationslinien

V. Interpretation und Schlußfolgerungen

 
 
II.

I. Ausgangslage

 
Für Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsstaat abgeschoben werden sollen, erstellen einerseits Mitarbeiter des Polizeiärztlichen Dienstes, andererseits niedergelassene Mediziner und Psychologen Stellungnahmen zur Beurteilung des Gesundheitszustandes bzw. der Reisefähigkeit. Nach §§53 Abs. 6 und §55 Abs. 2 AuslG3 wird von einer Abschiebung abgesehen und eine Duldung erteilt, wenn für den Ausländer im anderen Staat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht oder eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Es zeigte sich, daß die Ergebnisse der polizeiärztlichen Untersuchung fast immer kraß von jenen niedergelassener Fachkollegen abwichen. Zur Beschreibung und Erklärung dieser Unterschiede wurden Stellungnahmen von polizeiärztlichen Mitarbeitern und von niedergelassenen Fachkollegen bezüglich struktureller und inhaltlicher Merkmale analytisch verglichen.

   

III.

II. Datenmaterial und Stichprobe

 
 Im Zeitraum von Oktober bis Dezember 1999 wurden von der Autorin mit der Hilfe von Rechtsanwälten, denen die untersuchten Personen Akteneinsicht gewährt hatten, polizeiärztliche Atteste und Stellungnahmen von niedergelassenen Fachkollegen gesammelt.4 In allen Stellungnahmen waren Namen von Personen, Orten und Datumsangaben unkenntlich gemacht, ausgenommen von den Schwärzungen waren Geburtsjahr, staatliche und/oder ethnische Zugehörigkeit und die Datumsangaben der Untersuchungen für die zeitliche Zuordnung von Stellungnahmen. Alle erhaltenen Stellungnahmen wurden in die Analyse miteinbezogen, sofern sich die Untersuchungen polizeiärztlicher und niedergelassener Diagnostiker auf denselben Zeitraum von maximal sechs Monaten bezogen. Atteste, die mehr als 6 Monate vor der polizeiärztlichen Untersuchung erstellt worden waren, wurden nur in jenen Ausschnitten berücksichtigt, auf die in späteren Folgeattesten desselben Klinikers ausdrücklich verwiesen wurde (z.B. traumatische Vorgeschichte). Dieser relativ grobe Zeitrahmen wurde zugelassen, da bei den zu erwartenden posttraumatischen Störungen ein hohes Chronifizierungsrisiko besteht und eine geringe Häufigkeit von Spontanremissionen zu erwarten ist.5 Die überwiegende Zahl der verglichenen Stellungnahmen bezogen sich indes auf Untersuchungen, die im Zeitraum von 1-2 Monaten stattgefunden hatten.

Die vorliegenden Stellungnahmen des Polizeiärztlichen Dienstes und von niedergelassenen Fachkollegen bezogen sich auf insgesamt 26 Personen. Alle Atteste wurden in die Untersuchung miteinbezogen, es waren im einzelnen 24 polizeiärztliche Atteste (2 für 1 Person, 1 für 3 Personen, 1 für 2 Personen) und 47 Stellungnahmen von niedergelassenen Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten (davon 5 Folgeatteste zu Stellungnahmen vom selben Diagnostiker). Unter den 26 Personen waren 13 Männer und 13 Frauen. 25 Personen kamen aus Bosnien-Herzegowina, davon waren ihrer ethnischen Zugehörigkeit nach 23 bosnische Muslime, eine Kroatin und eine Mazedonierin. Eine Person war Kurde aus der Türkei. Die Personen waren durchschnittlich 42 Jahre alt (SD 14,9; Min. 18, Max. 75). Weitere demographische Angaben zu den Personen waren aus Gründen des Datenschutzes nicht zugänglich. In 14 Stellungnahmen von niedergelassenen Klinikern, aber in keinem Attest des Polizeiärztlichen Dienstes wurde auf das Vorliegen einer Entbindung von der Schweigepflicht hingewiesen.
   

IV.

III. Fragestellung und Methode der Datenanalyse


Ziel war ein Vergleich zwischen Stellungnahmen des Polizeiärztlichen Dienstes und jenen von niedergelassenen Diagnostikern bezüglich folgender inhaltlicher und formaler Kriterien: Umfang der anamnestisch erhobenen Vorgeschichte (Maßeinheit: Anzahl der Zeilen), Berücksichtigung traumatischer Ereignisse, Beschwerden, klinische Diagnose, Kriterien der Diagnosestellung, Behandlungsbedarf, Reisefähigkeit, verwendete Argumentationslinien.

In einem ersten Auswertungsschritt wurde das Material einzelfallorientiert analysiert. Dazu wurden alle Stellungnahmen, die für eine Person bezüglich des beschriebenen Zeitraums vorlagen, entsprechend der tabellarischen Methode qualitativer Datenanalyse6 geordnet und analysiert. Bei Personen, für die von einem Diagnostiker mehrere Stellungnahmen (Folgeatteste) vorhanden waren, wurden Inhalte desselben Diagnostikers immer nur einmal berücksichtigt, d.h. Wiederholungen wurden nicht doppelt ausgewertet. Ziel der Einzelfallanalysen war der direkte personenbezogene Vergleich zwischen den Ergebnissen verschiedener Stellungnahmen. In einem weiteren Analyseschritt wurden die einzelnen inhaltlichen und formalen Kriterien personenübergreifend gegenübergestellt.7 Die Methode erlaubte durch die systematische Integration von Einzellfallergebnissen in einen personenübergreifenden Vergleich eine Modifikation, Differenzierung und Verallgemeinerung der Ergebnisse und führt so zu einer differenzierten qualitativen Beschreibung von Inhalten und Strukturen der verschiedenen Stellungnahmen. Die Ergebnisse der vergleichenden Analyse zeigten deutliche Unterschiede in den Argumentationslinien der verschiedenen Stellungnahmen. Alle Argumentationen wurden personenübergreifend gesammelt und nach der inhaltsanalytischen Technik der Strukturierung weiter ausgewertet.8 Dabei wurden Typen von Argumentationsmustern gebildet.

 
5.

IV. Ergebnisse

 

1. Vorgeschichte und traumatische Erlebnisse

In polizeiärztlichen Attesten wurde die Vorgeschichte des zu Untersuchenden im Durchschnitt mit 5,6 Zeilen beschrieben (Minimum: keine Angaben zur Vorgeschichte, Maximum: 14 Zeilen), dabei wurden traumatische Ereignisse in 16 Attesten für 17 Personen berücksichtigt und in 8 Attesten für 9 Personen nicht berücksichtigt (d.h. traumatische Ereignisse wurden in 66% der Atteste und für 65% der untersuchten Personen berücksichtigt).

In den Stellungnahmen von niedergelassenen Fachkollegen nahm die Vorgeschichte durchschnittlich Raum von 10,8 Zeilen (Min. 1 Zeile, Max. 52 Zeilen) ein. Dabei wurden traumatische Ereignisse in 32 Stellungnahmen (71%) für 25 Personen (96%) berücksichtigt, in 13 Stellungnahmen für 12 Personen nicht berücksichtigt. Nur bei einer Person lag keine Stellungnahme eines niedergelassenen Arztes oder Psychologen vor, in der traumatische Erlebnisse der zu untersuchenden Person zur Sprache kamen. 2 Folgeatteste ohne diesbezüglichen Neuerungswert wurden nicht in die Auswertung miteinbezogen.

2. Beschwerden und Diagnosestellung

In den polizeiärztlichen Attesten wurde bei 7 Personen (27%) auf das Vorliegen von Beschwerden verwiesen (dabei wurden durchschnittlich 2,4 verschiedene Symptome genannt), für 19 Personen (73%) wurden Beschwerden verneint . Bei 18 Personen (69%) wurde das Vorliegen einer klinischen Diagnose verneint, für 8 Personen (31%) wurden klinische Diagnosen gestellt (viermal Befindlichkeitsstörungen, je einmal Depression, posttraumatische Belastungsstörung, psychische Traumatisierung mit psychosomatischen Beschwerden, chronische Krankheitsbilder). Bei keiner dieser acht gestellten Diagnosen wurde auf internationale Klassifikationssysteme9 verwiesen. Zwei polizeiärztliche Diagnosen verwendeten eine Terminologie, die analog zu jener in internationalen Klassifikationssystemen war (Depression, posttraumatische Belastungsstörung; 25%), bei 6 Diagnosen (75%) entsprach die Terminologie nicht internationalen Gepflogenheiten und war daher in ihrer Bedeutung unklar (Befindlichkeitsstörungen, psychische Traumatisierung mit psychosomatischen Beschwerden, chronische Krankheitsbilder).

Im Gegensatz dazu gingen 38 Stellungnahmen niedergelassener Diagnostiker (81%) für 26 Personen auf Beschwerden ein, im Durchschnitt wurden 8,1 verschiedene Symptome genannt. In 7 Stellungnahmen (19%) wurden keine Beschwerden genannt. In allen 47 Stellungnahmen der niedergelassenen Mediziner, Psychologen und Psychotherapeuten für 26 Personen wurde eine klinische Störung diagnostiziert. Dabei handelte es sich in 34 Attesten für 24 Personen um eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), in 3 Attesten für 3 Personen um eine andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung bzw. eine chronifizierte posttraumatische Belastungsstörung, in 19 Attesten für 17 Personen um Depression. In je einer Stellungnahme niedergelassener Diagnostiker für je eine Person fanden sich folgende Diagnosen: generalisierte Angststörung, paranoid-halluzinatorische Schizophrenie, Psychosis reactiva (posttraumatisch), posttraumatisch reaktive Psychose, Kriegspsychose, Herzneurose, Ulcus duodeni, Ulcus ventriculi, Diabetes mellitus, cerebrovaskuläre Insuffizienz, chronische Lungenerkrankung. 16 (34%) der insgesamt 47 untersuchten Stellungnahmen niedergelassener Diagnostiker verwiesen explizit auf internationale Klassifikationssysteme zur Beschreibung von Störungen (ICD-10, DSM-IV)8, in 28 Stellungnahmen (55%) wurde eine Terminologie verwendet, die Klassifikationssystemen entspricht (PTBS), fünfmal (11%) war die Terminologie der Diagnose unüblich und ihre Bedeutung unklar (Kriegspsychose, posttraumatisch reaktive Psychose, Psychosis reactiva (posttraumatisch), Herzneurose, chronische Lungenerkrankung).

3. Behandlungsbedarf und Reisefähigkeit

In den polizeiärztlichen Attesten für 26 Personen wurde das Vorliegen eines Behandlungsbedarfes für 5 Personen (19%) bejaht, für 9 Personen (35%) verneint, bei 12 Personen (46%) wurden bei fehlender klinischen Diagnosestellung dazu keine dezidierten Angaben getroffen. Für 25 Personen (96%) wurde die Reisefähigkeit bejaht, für eine Person verneint.

Dagegen wurde in 41 Stellungnahmen (87%) von niedergelassenen Fachkollegen für 26 Personen (100%) ein Behandlungsbedarf festgestellt, in 6 Stellungnahmen (13%) fehlen (bei Vorliegen einer klinischen Diagnose) dazu explizite Angaben. Die Reisefähigkeit wurde in 26 Stellungnahmen für 15 Personen (58%) explizit verneint, in den restlichen Fällen wurden zur Frage der Reisefähigkeit keine Angaben gemacht.

4. Hinweise zum Sprachverständnis

Insgesamt lassen sich in nur sehr wenigen Stellungnahmen Hinweise auf das Zustandekommen eines Sprachverständnisses zwischen den zu untersuchenden fremdsprachigen Personen und den Diagnostikern finden. In keinem polizeiärztlichen Attest finden sich dazu Angaben. Hinweise enthält das Anschreiben des Landeseinwohneramtes Berlin, in dem Betroffene aufgefordert werden, sich zur polizeiärztlichen Untersuchung zu begeben. Darin heißt es: "Wir bitten Sie, zur Untersuchung eine sprachkundige Person mitzubringen, sofern Sie selbst der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind." Dagegen geht aus den Stellungnahmen von niedergelassenen Diagnostikern hervor, daß 17x der Kliniker die Muttersprache des zu Untersuchenden sprach, 11x übersetzten professionelle Dolmetscher, 19x fanden sich keine Angaben zum Sprachverständnis, häufig auch bei Institutionen, deren Zielgruppe Flüchtlinge sind und von denen bekannt ist, daß sie grundsätzlich mit professionellen Dolmetschern arbeiten.

s. Tabelle 1

5. Argumentationslinien

a) Argumentationslinien des polizeiärztlichen Dienstes

1. Beschwerden werden nicht als krankheitswertig erkannt.

Willkürlich ausgewählte Symptome werden als typische Zeichen von Störungen nach dem Erleben traumatischer Ereignisse bezeichnet. Diese Symptome stimmen nicht mit jenen überein, die nach internationalen Forschungsergebnissen häufig als Folge traumatischer Erlebnisse auftreten. Anerkannte posttraumatischen Symptome (ICD-10, DSM-IV) werden nicht berücksichtigt. Beim Fehlen von willkürlich ausgewählten Symptomen, die in keinem zu erwartenden Zusammenhang stehen mit jenen Störungsbildern, die bei Opfern und Zeugen extremer Gewalt häufig sind, wird das Vorliegen einer posttraumatischen oder anderen krankheitswertigen psychiatrischen Störung verneint. Dagegen wird auf allgemein anerkannte typische Folgesymptome traumatischer Ereignisse (intrusives Wiedererleben, Vermeidung, Übererregung) oder auf zahlreiche andere Krankheitsbilder, die bei Überlebenden von Krieg, Gefangenschaft und Folter verstärkt vorkommen, z.B. dissoziative Störungen, Angsterkrankungen und depressive Störungen, Schmerzen und andere somatoforme Störungen, kognitive Störungen, sozialer Rückzug u.a.10 nicht eingegangen.

BSP1, fast wortgleich bei BSP21: "Es liegt keine psychiatrische Erkrankung von Erheblichkeit (Anm: Hervorhebung im Original) vor, das Bestehen einer Posttraumatischen Belastungsstörung wird wegen des Fehlens der Erheblichkeit psychopathologischer Befunde verneint. Beide Frauen wurden in ihrem Lebenswillen trotz äußerst leidvoller Widerfahrnisse nicht soweit gebrochen, daß sie diesen verloren hätten oder gänzlich lebensuntüchtig wurden. Die Einwirkungen durch Wahrnehmungen aus dem Bürgerkriegsgeschehen führten nicht zu einem völligen Darniederliegen jeglichen Lebenswillens, auch nicht zu schwerer Zerrüttung des psychischen Zustandsbildes mit anhaltenden, stark hervortretenden Psychopathologica, wie z.B. Angst, Stupor, Mutismus, Abulie, tage- u. wochenlange Nahrungsverweigerung, psychotische Erlebnisse, Realitätsverkennung usw. Beide bekunden, daß sie ihre alltagspraktischen Verrichtungen selbst bewältigen können, selbst wenn leidvolle Erinnerungsbilder aus ihrem Herkunftsland immer wieder in ihren Bewußtseinshorizont eintreten."

BSP 3: "Im Vordergrund der zweifellos vorhandenen psychischer Störungen steht die Reaktion auf enttäuschte Erwartungen (Frustration). Eine Traumatisierung mit Krankheitswert durch Kriegseinwirkungen konnte nicht erkannt werden."

BSP 23: "Frau X bekundete, daß es ihr bereits schon gelinge, die Kriegserinnerungsbilder zu vergessen, dann fühle sie sich hinreichend gut, nur bei ihrer Wiedererinnerung fühle sie sich leidvoll tangiert. Es ist sicherlich richtig und zutreffend, daß Frau X leidvolle Wahrnehmungen des Bürgerkrieges erfahren mußte. Summiert man indessen die hier geklagten Beschwerden und berücksichtigt ihren aktuellen Psychostatus, kann vom Bestehen einer psychiatrischen Erkrankung mit erheblicher Krankheitssymptomatik nicht gesprochen werden. Es liegt also keine posttraumatische Störung vor. Die Mitteilungen aus der Stellungnahme (eines niedergelassenen Arztes, Anm. A.B.) beschreiben leidvolle Erfahrungen mit Folgewirkungen eines Menschen im Kriege, aber keine schwere psychiatrische Erkrankung."

2. Wenn Beschwerden beschrieben werden, werden diese entweder als Zeichen einer Persönlichkeitsstörung, die schon vor der Flucht bestand, oder aber als Resultat der ungünstigen sozialen Umstände im Fluchtland bewertet. In beiden Fällen wird geleugnet, daß Symptome mit den traumatischen Erlebnissen im Heimatland in Verbindung stehen.

Der Widerspruch besteht darin, daß einerseits die extreme Belastung durch das Erleiden traumatischer Ereignisse im Heimatland als Ursachen für Symptome dezidiert verneint, andererseits die Belastung durch die sozial mißliche Lage in Deutschland als Ursache für Symptome anerkannt wird. Störungen haben sich in der Argumentation des Polizeiärztlichen Dienstes nicht durch traumatische Ereignisse im Heimatland entwickelt, sondern erst durch die "Reflexion" dieser Ereignisse in einer unsicheren sozialen Situation in Deutschland. Diese vom fachlichen Standpunkt aus willkürliche Zuschreibung von möglichen Ursachen zu beobachteten Beschwerden führt in den polizeiärztlichen Attesten dazu, daß die Symptomursache der unsicheren sozialen und Aufenthaltssituation in Deutschland durch Rückführung ins Herkunftsland beseitigt werden soll. Es ist gemeinhin anerkannt, daß das Erleben oder Bezeugen traumatischer Ereignisse zu schweren psychischen Störungen führen kann. Internationale Erkenntnisse zeigen, daß posttraumatische Störungen sich nicht immer in unmittelbarem Anschluß an traumatische Ereignisse entwickeln, sondern z.T. ein verzögerter Krankheitsbeginn beobachtet werden kann, d.h. auch wenn sich Beschwerden erst nach einem symptomfreien Intervall in Deutschland gebildet haben, spricht das nicht gegen die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10, DSM-IV).

BSP 3: "Eine psychotherapeutische Behandlung in Deutschland mit dem Ziel, die vorhandenen Persönlichkeitsstörungen so weit zu reduzieren, daß sie keine Einschränkungen der Lebensqualität mehr darstellen, ist kontraindiziert, denn dafür müßten die in Deutschland geltenden sozialen Standards verinnerlicht werden. Eine Rückkehr nach Bosnien wäre dann einer erneuten, sehr schweren (absehbaren!) Traumatisierung gleichzusetzen."

BSP 7: "Durch die Wahrnehmung traumatisierender Vorkommnisse während des Kriegsgeschehens entwickelte sie hier bei der Reflexion der Ereignisse eine psychotische Reaktion mit (...) zweimaligem Versuch zu suizidaler Handlung."

BSP10: "Man kann bei einer unvorbelastenden (so im Original, Anm. A.B.) Person davon ausgehen, daß sie in der Lage sein muß, den Tod einer ihr nahestehenden Person innerhalb einer kurzen Zeit angemessen zu verarbeiten. Die Versagung eines Visums und durch den (so im Original, Anm. A.B.) daraus ableitbaren Suizidversuch ist menschlich verständlich, berechtigt indessen nicht, der Begehrenstendenz unter erneuten Suiziddrohungen zu entsprechen, da außerhalb der Begehrenstendenz (Erhalt eines Visums und Fortdauer des Aufenthalts hier) keine Gemütsstörungen vorliegen."

BSP 14: "Als Ergebnis der Untersuchung kann festgestellt werden, daß die psychischen und psychovegetativen Befindlichkeitsstörungen reaktiv verursacht sind und in der Unsicherheit des Aufenthaltsstatus und der sozialen Zukunft ihren Entstehungsgrund haben."

BSP 16: "Es ist bemerkenswert, daß die psychischen Störungen zur vollen Ausbildung erst im Fluchtland, also an einem Aufenthaltsort gekommen sind, wo die Betroffene nicht durch traumatisierende Wahrnehmungen beeindruckt und wiedererinnert wurde, sie indessen Schutz und allgemeine Lebenssicherheit durch hochrangige Grundgesetzgarantien genoß. Der Verbleib im Fluchtland stellt also nicht ausschließlich und allein die Gewähr für einen verbesserten Gesundheitsstatus dar."

3. Die Tatsache, daß Menschen irgendwie in der Lage sind, ihren Alltag zu bewältigen, wird als Zeichen hinreichender Gesundheit bewertet.

Dabei wird insbesondere auf praktische Verrichtungen des Alltags im Haushalt (Körperhygiene, Ernährung) bezug genommen. Andere Lebensbereiche, die zur Beurteilung von Gesundheit oder Krankheit entsprechend üblicher Klassifikationssysteme (vgl. DSM-IV 5. Achse: Globale Erfassung des Funktionsniveaus) bedeutsam sind, werden nicht angesprochen. Gesundheit mit der Fähigkeit zur Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse gleichzusetzen und das Vorliegen von krankheitswertigen Störungen mit dem Verweis auf ebendiese noch bestehenden Fähigkeiten zu verneinen, kommt einer krassen Reduzierung des Mensch-Seins gleich und entspricht weder jenen Standards, anhand derer die Gesundheit oder Krankheit üblicherweise bei deutschen Patienten eingeschätzt wird noch internationalen Gepflogenheiten (z.B. WHO11, DSM-IV: GAF).

BSP 1 (gleicher Text bei BSP 21): "Beide Frauen wurden in ihrem Lebenswillen trotz äußerst leidvoller Widerfahrnisse nicht soweit gebrochen, daß sie diesen verloren hätten oder gänzlich lebensuntüchtig wurden."

BSP 21: "Die Frauen bekundeten, daß sie befähigt seien, ihre alltagspraktischen Verrichtungen selbst bewältigen zu können, selbst wenn leidvolle Erinnerungsbilder aus ihrem Herkunftsland immer wieder in ihren Bewußtseinshorizont eintreten."

4. Werden das Vorliegen von Beschwerden oder die Krankheitswertigkeit von Störungen nicht verneint, wird argumentiert, diese Beschwerden könnten auch im Herkunftsland adäquat behandelt werden.

Im Anschluß daran wird häufig festgestellt, eine Behandlung der Störungen sei vorzugsweise medikamentös zu erfolgen. Der Verzicht auf psychotherapeutische Behandlungsmethoden bei psychischen und psychiatrischen Störungen entspricht dabei insbesondere für Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung nicht der heute üblichen Behandlungspraxis, diese besteht vielmehr in einer Kombination von psychotherapeutischen und pharmakologischen Methoden. Untersuchungen haben sowohl bei Patienten mit unterschiedlichen Traumatisierungen als auch der speziellen Population bosnischer Kriegsflüchtlinge bewiesen, daß psychotherapeutische Behandlung bei posttraumatischen Störungen ebenso effektiv ist wie pharmakologische Methoden.12 

BSP 5: "Eine Weiterbehandlung des bedrückenden Allgemeinbefindens durch die eingetretene soziale Lage läßt sich mit den Mitteln der ambulanten Medizin (Psychopharmakotherapie) auch im Herkunftsland realisieren."

BSP 7: "Die Betroffene sollte sich mit den ärztlich verordneten Medikamenten versorgen und diese während der Reise und für die ersten Tage nach der Ankunft bei sich führen und nach Weisung des verordnenden Arztes einnehmen."

BSP21: "Laut Auskunft des LEA ist auch im Herkunftsland eine nervenärztliche Infrastruktur vorhanden, die imstande ist, auf die (...) Symptomatiken mit den Mitteln der Psychopharmakotherapie schneller, wirksamer und kostengünstiger einzugehen als mit der noch heute umstrittenen Methode der Psychotherapie."

5. Die Beurteilung des Gesundheitszustandes wird isoliert auf die Fragestellung der Flug- und Reisefähigkeit. Sie scheint dann gegeben, wenn die Person lebendig im Zielland ankommt.

BSP 7: "Wir halten es für erforderlich, um suizidalen oder parasuizidalen Fehlhandlungen vorzubeugen, ihr am Abreisetag eine Sicherheitsbegleitung bis zum öffentlichen Verkehrsmittel hin zur Verfügung zu stellen, im Bedarfsfalle sogar diese Begleitung bis zur Ankunft im Herkunftsland mit auf den Weg zu geben."

BSP 10: "Wir empfehlen, um nicht auszuschließende Überreaktionen beherrschbar zu machen und möglichen Schaden prophylaktisch abzuwenden, die Eröffnung und den Vollzug der Ausreiseverpflichtung in kurzen zeitlichen Abständen folgen zu lassen. Ferner die Abreise bei Sicherheitsbegleitung mindestens bis zum Startpunkt der Rückreise zu gewährleisten. Bei diesem fürsorglichen Mühewalten um das Wohl der Betroffenen ist die Flug- und Reisefähigkeit zu bejahen."

BSP 13: "Er gab an, daß er die Absicht habe, nach Amerika auszuwandern (...). Der Wille, auswandern zu wollen, bezeugt die subjektive Feststellung der Flug- und Reisefähigkeit des Betroffenen selbst."

BSP 14: "Zwar liegen gesundheitliche Störungen vor, jedoch stehen diese nicht einer kurzen Flugreise von ca. 2,5 bis 3 Stunden Dauer entgegen."

6. Traumatische Erlebnisse werden bagatellisiert.

BSP 15: "Die Äußerungen zu den von Herrn X erlebten Bürgerkriegshandlungen entsprechen mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichen oder ähnlichen Widerfahrnissen von gleichbetroffenen, wehrhaften Männern im Herkunftsland. Eine außerordentliche Traumatisierung liegt nicht vor."

BSP 16: "Frau X erlebte im Krieg durch eigene Wahrnehmung traumatisierende Ereignisse im Zuge ethnischer Säuberungen. Dieses Schicksal teilt sie mit vielen gleichbetroffenen Landsleuten, die, soweit Angehörige des weiblichen Geschlechtes, oft auch vergewaltigt wurden. Sie selbst verneint, eine sexuelle Vergewaltigung bei sich erlitten zu haben." (Zur selben Frau schreibt eine niedergelassene Ärztin: "Frau X und viele ihrer Freundinnen wurden in ein Haus verschleppt, dort sollten sie vergewaltigt werden. Die Vergewaltiger waren alle maskiert, aber Frau X erkannte an den Stimmen frühere Freunde und Bekannte. Sie mußte zuschauen, wie andere systematisch vergewaltigt wurden, eine nach der anderen sollte drankommen. In der Zeit griffen Männer das Haus an, in dem die Frauen gefangen waren. Im entstehenden Gefecht konnte Frau X durch ein offenes Fenster fliehen.)"

b) Argumentationslinien niedergelassener Diagnostiker

7. Es liegen Beschwerden vor, die zur Diagnose einer krankheitswertigen Gesundheitsstörung führen, die der Behandlung bedarf.

8. Eine adäquate Behandlung ist bei Abschiebung ins Herkunftsland nicht möglich.

BSP 1: "Ohne therapeutische Unterstützung (...) kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Zusammenbruch mühsam entstehender psychischer Schutzmechanismen und Ressourcen."

BSP 14: "Eine Rücksiedelung zum jetzigen Zeitpunkt macht eine regelmäßige Kontrolle und Behandlung der Erkrankungen unmöglich, es wären dadurch deutliche Verschlechterungen und möglicherweise lebensgefährdende Komplikationen zu erwarten."

BSP 20: "Vor dem Hintergrund fehlender medizinischer und adäquater therapeutischer Versorgung in Bosnien muß Gefahr für Leib und Leben angenommen werden."

9. Der Betroffene ist aufgrund der Störung auf eine möglichst sichere und belastungsarme Umgebung angewiesen. Selbst minimale Belastungen können zu einer Verstärkung der Symptomatik führen.

BSP 1: "Die Suizidalität droht unter geringsten Belastungen zu kompensieren (dekompensieren? A.B.), drohende Abschiebung stellt eine höchste Gefährdung dar. Bei Rückführung ist die Reaktivierung traumatischer Erlebnisse wahrscheinlich, es besteht die Gefahr einer völligen Dekompensation mit Gefahr für Leib und Leben. Die Unsicherheit über den Aufenthalt behindert den Stabilisierungs- und Heilungsprozeß."

BSP 13: "Bei Rückkehr im derzeitigen Zustand der Erkrankung ist von der Gefahr einer Reaktualisierung der traumatisierenden Erlebnisse (Retraumatisierungsgefahr) auszugehen. Herr X ist auf vertrauensvolle und stützende Betreuung dringendst angewiesen, diese Möglichkeit ist in Berlin (...) gegeben. Die Unterbringung in der Nähe von Vertrauenspersonen ist wichtig, da es in seiner instabilen psychischen Vefassung zu plötzlich auftretenden Krisen kommen kann, die stabilisierende Wirkung der sicheren Umgebung ist ein bedeutender Faktor im Heilungsprozeß."

BSP 21: "Nachdem Familie X die Aufforderung erhalten hatte, sich beim Amtsarzt vorzustellen, verschlechterte sich ihr Zustand dramatisch. Die amtsärztliche Untersuchung ließ alle drei psychisch dekompensieren. Akute Suizidalität konnte nur durch direkte Kriseninterventionen gebannt werden. Die amtsärztliche Untersuchung führte bei Familie X zu einer Retraumatisierung, die den bisherigen Behandlungserfolg zunichte gemacht hat. Kollektiver Suizid wurde nur durch den unverhältnismäßig großen Aufwand der Behandler verhindert."

10. Rückführung bedeutet erheblichen Nachteil für die noch minderjährigen Kinder des/der Betroffenen.

BSP 11: "Frau X hat Angst vor ihrem geschiedenen Mann (Serbe), der gedroht hat, den jetzt 12jährigen Sohn, welcher ihr gerichtlich zugesprochen wurde, bei einer Rückkehr nach Hause, also in die serbische Republik Bosniens, ihr wegzunehmen, wozu er aufgrund einflußreicher Freunde sehr wohl in der Lage sei."

BSP16: "Auch beide Kinder sind behandlungsbedürftig und leiden unter schweren Angstzuständen."

Alle Stellungnahmen wurden nach der Häufigkeit der beschriebenen Argumentationslinien untersucht und ist im folgenden dargestellt (2 Folge-Stellungnahmen niedergelassener Diagnostiker waren diesbezüglich ohne neue Argumente und wurden nicht berücksichtigt):

s. Tabelle 2


 

 

V. Interpretation und Schlußfolgerungen

 

Die Stellungnahmen von niedergelassenen Medizinern und Psychologen und von Fachkollegen des Polizeiärztlichen Dienstes unterscheiden sich gravierend. Das allgemeine Fehlen von Hinweisen zum Vorliegen von Schweigepflichtsentbindungen für die Untersuchungen des Polizeiärztlichen Dienstes erklärt die Unterschiede nicht hinreichend, da entsprechende Hinweise auch bei mehr als zwei Dritteln der Stellungnahmen niedergelassener Diagnostiker fehlen und zumindest allgemeine Aussagen über das Vorhandensein einer klinischen Diagnose und Schlußfolgerungen zu Behandlungsbedarf und Reisefähigkeit davon nicht betroffen sein dürften.

Die Ergebnisse zeigen, daß in den polizeiärztlichen Attesten bei weniger Personen auf eine deutlich geringere Anzahl von Beschwerden verwiesen wurde, und nur bei einem geringen Prozentsatz der untersuchten Personen wurden klinische Störungen diagnostiziert. Dagegen nahm die Beschreibung von Beschwerden in Stellungnahmen niedergelassener Fachkollegen einen deutlich größeren Raum ein. Außerdem wurde in jeder Stellungnahme niedergelassener Diagnostiker das Vorliegen einer klinischen Störung festgestellt, dabei dominierten posttraumatische Störungen.

Die Darstellung der individuellen Vorgeschichte war in Stellungnahmen des Polizeiärztlichen Dienstes nicht nur deutlich kürzer als in jenen niedergelassener Kollegen, auch wurden traumatische Ereignisse seltener erwähnt. Diese Unterschiede sind so gravierend, daß sie durch die Abweichung im Bereich der Schweigepflichtsentbindungen nicht hinreichend erklärt werden dürften. Denn selbst in jenen polizeiärztlichen Attesten, in denen sowohl traumatische Ereignisse als auch Beschwerden beschrieben wurden, wurden diese nicht in einen Zusammenhang gebracht. D.h. in polizeiärztlichen Attesten werden nicht nur dann keine posttraumatischen Störungen diagnostiziert, wenn entweder keine traumatischen Ereignisse oder keine Beschwerden festgestellt wurden, sondern entsprechende Diagnosen fehlen sogar dann, wenn sowohl traumatische Ereignisse als auch typische Beschwerden beschrieben wurden.

Außerdem entsprechen klinische Diagnosen von niedergelassenen Diagnostikern deutlich häufiger internationalen Qualitätsstandards als jene, die vom Polizeiärztlichen Dienst gestellt werden. Die wenigen Diagnosen des Polizeiärztlichen Dienstes sind durch das Fehlen üblicher klinischer Termini und durch einen Verzicht auf Standardisierung (ICD-10, DSM-IV) gekennzeichnet. Klinische Diagnosestellung nach internationaler Klassifikation macht durch die einheitliche Terminologie die inhaltliche Bedeutung der festgestellten Störung explizit und stellt damit eine von Fachkollegen geteilte Kommunikationsbasis dar. Dadurch werden Beschwerden, ihre Stärke und zeitliche Dauer, Prognosen und empfohlene therapeutische Maßnahmen transparent. Darüberhinaus berücksichtigen die Klassifikationssysteme einen allgemein anerkannten Forschungsstand zu einzelnen Störungen. Werden andererseits Störungen in einer nicht üblichen Terminologie beschrieben, bleibt unklar, welche Symptome die Störung kennzeichnen und damit auch, welche Beobachtungen im diagnostischen Gespräch gemacht worden sein müssen. Es können außerdem kaum Aussagen über Behandlungsbedarf und Prognosen gestellt werden. Diese Ungenauigkeit und Unbestimmtheit, die in Diagnosen des Polizeiärztlichen Dienstes häufig ist, macht ein Nachvollziehen klinischer Merkmale unmöglich und behindert den fachlichen Austausch über die Schlußfolgerungen, die aus der Diagnose gezogen werden.

Die geringe Güte der klinischen Diagnosen des Polizeiärztlichen Dienstes kommt zusätzlich darin zum Ausdruck, daß nach unseren Ergebnissen das sprachliche Verständnis zwischen Diagnostiker und zu Untersuchendem in der polizeiärztlichen Untersuchung deutlich beeinträchtigt ist. Dabei bildet ein gutes Sprachverständnis die Voraussetzung für jede diagnostische Tätigkeit. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie klinische Aussagen über Personen getroffen werden können, mit denen im Rahmen der Untersuchung eine sprachliche Verständigung kaum möglich ist, umso mehr, wenn psychische Störungen im Vordergrund stehen, bei denen der körperliche Befund in der Regel von untergeordneter Bedeutung ist. Klinische Diagnostik muß, um zu zuverlässigen Ergebnissen zu führen, in einer Sprache stattfinden, in der sich die zu untersuchende Person möglichst mühelos verständigen kann, bestenfalls in der Muttersprache. Sprachvermittlung im klinischen Kontext muß daher durch professionelle Dolmetscher geschehen. Angehörige oder Bekannte der zu untersuchenden Personen eignen sich aus Gründen der hohen Anforderungen an die Qualität der Übersetzung, wegen der zu erwartenden stark belastenden und/oder tabuisierten Inhalte, aufgrund von Schweigeverpflichtungen u.a. nicht für die Sprachvermittlung. Es kann nicht erwartet werden, daß die zu untersuchenden Personen im allgemeinen selbst in der Lage sind, die Bedeutung eines professionellen Dolmetschers für die klinische Untersuchung richtig einzuschätzen und dementsprechend einen professionellen Sprachvermittler zu engagieren und zu bezahlen. Die gängige Praxis, wonach Flüchtlinge selbst für die Sprachvermittlung im Rahmen der polizeiärztlichen Untersuchung sorgen müssen, beeinträchtigt daher in bedeutendem Umfang die Qualität der getroffenen klinischen Diagnosen und macht die daraus abgeleiteten Schlußfolgerungen nicht zuverlässig.

Die Analyse der Argumentationslinien trug wesentlich zur Klärung der systematischen Unterschiede zwischen Attesten des Polizeiärztlichen Dienstes und jenen von niedergelassenen Fachkollegen bei. Insgesamt sind die Argumentationen von niedergelassenen Diagnostikern in sich stärker konsistent und weniger widersprüchlich als jene des Polizeiärztlichen Dienstes, die Argumentationen niedergelassener Diagnostiker lassen sich aus einem fachlich medizinisch-psychologischen Verständnis heraus gut nachvollziehen. Das Hauptargument der niedergelassenen Kliniker ist dabei die festgestellte klinische Störung, aus der sich ein häufig kontinuierlicher Behandlungsbedarf ergibt, der einer Abschiebung entgegensteht. Dagegen sind die Argumentationen in polizeiärztlichen Attesten unter medizinisch-psychologischen Gesichtspunkten in der Regel in sich widersprüchlich, nicht nachvollziehbar und unverständlich. Sinn machen diese Argumente nicht im klinischen Kontext, sondern nur in einem politischen Kontext, der die Durchsetzung der Abschiebung fordert. Erst unter Berücksichtigung dieses politischen Zweckes der polizeiärztlichen Untersuchung lösen sich die (klinischen) Widersprüche der polizeiärztlichen Argumentation, gleichzeitig scheint in diesem politischen Kontext die Vernachlässigung internationaler klinisch-diagnostischer Standards sinnvoll. Damit sind Mitarbeiter des Polizeiärztlichen Dienstes offenbar nicht vorrangig medizinisch oder psychologisch tätig, denn sie entfernen sich sowohl von medizinischen und psychologischen Kriterien als auch von einer wohlwollenden ärztlichen oder medizinischen Haltung. Stattdessen erfüllen sie fachfremde politische Aufgaben und werden so ihrem diagnostischen Auftrag nicht gerecht. Die beobachtete polizeiärztliche Argumentationsstruktur kennzeichnet sich durch eine Verleugnung des Vorliegens und/oder der pathogenen Bedeutung traumatischer Erlebnisse und durch eine Verneinung des Vorliegens klinischer Diagnosen. Innerhalb dieser Argumentationsstruktur, die dem übergeordneten Zweck der Durchsetzung der Abschiebung dient, wurde folgende Hierarchie von Argumenten beobachtet:

  1. Die zu untersuchende Person ist gesund.

  2. Ist die zu untersuchende Person so schwer krank, daß ihre Störung nicht geleugnet werden kann, steht die Krankheit zumindest in keinem Zusammenhang zu traumatischen Erlebnissen, es besteht auch kein Behandlungsbedarf.

  3. Kann nicht mehr geleugnet werden, daß Behandlungsbedarf besteht, kann dieser auch im Herkunftsland erfüllt werden.

Auf alle Fälle (mit einer Ausnahme) steht einer Rückführung ins Herkunftsland nichts im Wege.

Zur Beantwortung der Eingangsfrage: Um von der Abschiebung aufgrund einer akuten Gefahr für Leib und Leben ausgenommen zu werden, muß beim Vorliegen posttraumatischer Störungen das Erleiden traumatischer Ereignisse offenbar durch eine strafrechtliche Verurteilung der Täter bewiesen worden sein (wie in der einzigen Verneinung der Reisefähigkeit bei einer Frau, die in Berlin vergewaltigt wurde und die Täter anzeigte). Ansonsten wird von einer Abschiebung entsprechend der Argumente des Polizeiärztlichen Dienstes aus Gründen der Gefährdung von Leib und Leben offenbar nur dann abgesehen, wenn die abzuschiebende Person so krank ist, daß selbst für wenige Stunden (d.h. für die Dauer der Reise) eine akute Todesgefahr nicht gebannt werden kann.


Anmerkungen:
 

1 Psychologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Behandlungszentrum für Folteropfer, Berlin.
2 Die Studie wurde ermöglicht durch eine großzügige Spende von Herrn Prof. Jan Philipp Reemtsma, Institut für Sozialforschung, Hamburg. Sie wurde bereits veröffentlicht im Informationsbrief Ausländerrecht, April 2000.
3 Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet vom 9. Juli 1990 (Ausländergesetz) (BGBl. I S.1354), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 (BGBl. I S. 1618, 1620).
4 Dies war durch das Engagement von einzelnen Rechtsanwälten, insbesondere von Frau Ellen Apitz möglich.
5 C. Zlotnick / M. Warshaw / T. Shea / J. Allsworth / T. Pearlstein / M. Keller, Chronicity in posttraumatic stress disorder (PTSD) and predictors of course of comorbid PTSD in patients with anxiety disorders in: (1999) Johttp://nbn-resolving.de/urnal of Traumatic Stress, 12 (1), 89-100; A. McFarlane, The longitudinal course of Trauma, in: (1996) Bailliere’s Clinical Psychiatry, 2, 353-370, E. Hauff, P. Vaglum, Chronic posttraumatic stress disorder in Vietnamese refugees. A prospective comunity study of prevalence, course, psychopathology, and stressors, in: (1994) The Johttp://nbn-resolving.de/urnal of nervous and Mental Disease, 182, 85-90.
6 In Anlehnung an die "Checklist Matrix" nach M. Miles & M. Huberman, Qualitative data analysis, in: (1994) An expanded sourcebook. London, New Delhi, Sage Publications, pp 105ff.
7 Die Cross-Case-Analyse orientierte sich an der "Case-ordered descriptive meta matrix" nach Miles & Huberman (Fn. 6), pp. 187-193.
8 P. Mayring (1995). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 5. Auflage, Weinheim, Deutscher Studienverlag, S. 76f.
9 Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.) (1995). Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision. (ICD-10). Amtliche deutschsprachige Ausgabe. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle, Hans Huber. Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen (DSM-IV) (1996). Übersetzt nach der vierten Auflage des Diagnostic and statistical manual of mental disorders der American Psychiatric Association. Dt. Bearbeitung von H. Saß, H.-U. Wittchen & M. Zaudig. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle, Hogrefe.
10 A. Goldfeld / R. Mollica, / B. Pesavento / S. Faraone, The physical and psychological sequelae of torture, in: (1988) The Johttp://nbn-resolving.de/urnal of the American Medical Association, 259 (18), 2725-2729; J. L. Herman, Complex PTSD: A syndrome in survivors of prolonged and repeated trauma, in: (1992) Johttp://nbn-resolving.de/urnal of Traumatic Stress, 5 (3), 377-391.
11 World Health Organization: Definition of Health. Online. URL: http://www.who.int/aboutwho/en/definition.html vom 13.1.2000.
12 B. Drozdek, Follow-up study of concentration camp survivors from Bosnia-Herzegovina: Three years later, in: (1997) The Johttp://nbn-resolving.de/urnal of nervous and Mental Disease, 185, 690-694; R. Ebbinghaus / M. Bauer / S. Priebe, Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung, in: (1996) Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 64, 433-443.
 
Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 2 / 2000
 
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