Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 8. Juni 2010

 
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Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Deutschland - Teil 4

Aufbereitung von Ulrike Eppe*

Karlheinz Schmidt ./. Deutschland

Urteil vom 18. Juli 1994, EuGRZ 1995, S. 392.1  

Zusammenfassung (nicht-amtliche Leitsätze):
  1. Eine Unterscheidung ist i.S.d. Art. 14 diskriminierend, wenn sie einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung ermangelt.
  2. Die im baden-württembergischen Feuerwehrgesetz verankerte und nur von Männern zu leistende Ausgleichsabgabepflicht ist nicht gerechtfertigt, da sie an eine nur rechtlich und theoretisch bestehende Dienstpflicht anknüpft.
 

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer lebt in Tettnang in Baden-Württemberg. Am 30. April 1982 wurde er von der Gemeinde aufgefordert, eine Feuerwehrabgabe in Höhe von 75,- DM zu leisten.

Der Zahlungsbescheid erging aufgrund des baden-württembergischen Feuerwehrgesetzes.2 Es verpflichtete alle männlichen Gemeindeeinwohner zwischen 18 und 50 Jahren zum Feuerwehrdienst. Ersatzweise war von den Männern, die nicht in der Feuerwehr dienten, eine Ausgleichsabgabe zu zahlen, deren Höhe durch die Gemeindesatzung festgelegt wurde.

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits früher, im Jahre 19613 entschieden, daß die Ausgleichszahlung nicht gegen das Grundgesetz verstoße.

Im Jahre 1978 wurde in Baden-Württemberg auch Frauen der Dienst in der Feuerwehr ermöglicht. Nach den Feststellungen des EGMR ist kein einziger Einwohner in Baden-Württemberg zur Feuerwehr dienstverpflichtet worden.

Seinen Widerspruch begründete der Beschwerdeführer mit dem Argument, die Ausgleichsabgabe verstoße gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau. Der Widerspruch wurde vom Landratsamt des Bodenseekreises als unbegründet abgewiesen.

Ebenso blieben die Klage vor dem VG Sigmaringen und dem VGH Mannheim erfolglos. Alle Instanzen hielten an dem oben erwähnten Beschluß des BVerfG aus dem Jahre 1961 fest.

Die anschließende Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG nicht angenommen. Es hielt an der Auffassung fest, daß die Beschränkung der Feuerwehrdienstplicht auf männliche Einwohner wegen der damit verbundenen Gefahren gerechtfertigt sei. Daß einzelne Feuerwehraufgaben von Frauen übernommen würden und sogar in einigen Ländern Frauen freiwillig in den Feuerwehrdienst eintreten könnten, ändere daran nichts. Selbst eine Verpflichtung der Frauen, wie sie in manchen Ländern eingeführt wurde, führe nicht zu einer anderen Rechtsauffassung. Solange objektive Anknüpfungspunkte für eine unterschiedliche Behandlung vorliegen, sei der Gesetzgeber befugt, Männer und Frauen unterschiedlich zu behandeln.

Herr Schmidt legte am 11. August 1987 Beschwerde bei der Menschenrechtskommission ein. Diese entschied am 8. Januar 1992 und 14. Januar 1993, daß Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 1 des 1. ZP4 (Diskriminierungsverbot bei Eingriffen in das Eigentum) sowie i.V.m. Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK verletzt sei

 

A. Zulässigkeit der Klage

Der Fall wurde dem Gerichtshof am 7. April 1993 ordnungsgemäß von der Kommission zugewiesen, Art. 48 I lit. a EMRK. Die Vorlagefrist von drei Monaten, Art. 47, Art. 32 Abs. 15 wurde eingehalten.

Die Zuweisung an den EGMR erfolgte durch die Kommission aufgrund der gegen Deutschland gerichteten Beschwerde des Herrn Schmidt, die dieser der Kommission gem. Art. 25 vorlegte.

Die Zulässigkeit ist im übrigen unproblematisch.

Zwischenergebnis:

Die Klage ist zulässig.

 

B. Begründetheit

Die Klage ist begründet, wenn die baden-württembergische Feuerwehrdienstpflicht oder die Abgabepflicht mit der Verpflichtung Deutschlands aus Art. 14 i.V.m. Art. 1 des 1. ZP und aus Art. 14 i.V.m. Art. 4 Abs. 3 (lit. d) in Widerspruch steht.


I. Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 4 Abs. 3 (lit. d)

Art. 14 in der hier einschlägigen Fassung lautet:
"Der Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten muß ohne Unterschied des Geschlechts [...] gewährleistet werden."
Art. 4 Abs. 2:
"Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten."
Art. 4 Abs. 3:
"Als 'Zwangs- oder Pflichtarbeit' im Sinne dieses Artikels gilt nicht: [...]
d) jede Arbeit oder Dienstleistung, die zu den normalen Bürgerpflichten gehört."

1. Anwendbarkeit von Art. 14 i.V.m. Art. 4 Abs. 3 (lit. d)

a) Kein autonomer materieller Gehalt des Art. 14

In seiner Entscheidung bekräftigt der Gerichtshof seine Auffassung, daß Art. 14 - etwa im Unterschied zu Art. 3 GG - keine selbständige Bedeutung hat, sondern die anderen Normen der EMRK und der Protokolle ergänzt.6  
Art. 14 hat demzufolge kein von den übrigen Gewährleistungen unabhängigen Gehalt, sondern "entfaltet seine Wirkung nur im Verhältnis zu diesen".


b) Art. 14 als integraler Bestandteil der materiellen Konventionsnormen

Es stellt sich die Frage, wie sich dieses Verhältnis zwischen Art. 14 und den übrigen Konventionsnormen darstellt.

Ursprünglich machte der Gerichtshof die Anwendung von Art. 14 von der Verletzung einer anderen Konventionsnorm abhängig. Dies bedeutete, daß eine alleinige Verletzung von Art. 14 nicht möglich war, sondern die Verletzung einer anderen Norm immer schon voraussetzte.

Die Abkehr von dieser Rechtsprechung vollzog der EGMR im "Belgischen Sprachenfall".7 In dieser Entscheidung wurde das Erfordernis der Verletzung einer anderen Norm als Anwendungsvoraussetzung für Art. 14 aufgegeben. Es reicht nun aus, daß die Streitfrage in den (Schutz-)Bereich ("ambit") einer anderen Konventionsnorm fällt. 8 Auf das Vorliegen oder Fehlen einer Verletzung kommt es nun nicht mehr an.


c) Anwendbarkeit von Art. 14 im Hinblick auf Art. 4

Im vorliegenden Fall bedeutet dies, daß nur dann Raum für die Anwendung des Art. 14 ist, wenn der Schutzbereich des Art. 4 eröffnet ist.

Art. 4 Abs. 2 statuiert das Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit.

Nicht als solche gelten jedoch Arbeiten oder Dienstleistungen, die zu den "normalen Bürgerpflichten" gehören, Art. 4 Abs. 3 lit. d. Den obligatorischen Feuerwehrdienst, wie er in Baden-Württemberg besteht, zählt der Gerichtshof - wie auch die übrigen, in dieser Frage übereinstimmenden Verfahrensbeteiligten - dazu.

Gleiches gelte für die Geldzahlungspflicht. Da sie an die Dienstleistungspflicht anknüpfe, falle auch sie unter Art. 4 Abs. 3 lit. d.

Im Ergebnis ist der Feuerwehrdienst resp. die Ausgleichsabgabe als eine "normale Bürgerpflicht" anzusehen.


Fraglich ist aber, wie das Vorliegen einer "normalen Bürgerpflicht" rechtlich einzuordnen ist. Sie könnte einzuordnen sein als ein gesetzlicher Regelfall, in dem die an sich gem. Art. 4 Abs. 2 verbotene Zwangs- oder Pflichtarbeit gerechtfertigt ist. Oder aber sie stellt eine Ausnahme vom Schutzbereich dar mit der Folge, daß "normale Bürgerpflichten" per se nicht der Zwangs- oder Pflichtarbeit unterfallen. In diesem Fall würde der Anwendungsbereich gar nicht erst eröffnet, womit auch das Tor für die Anwendung des Diskriminierungsverbots gem. Art. 14 Tor verschlossen bliebe.

Der Gerichtshof äußert sich zu dieser dogmatischen Frage nicht eindeutig. Zwar stellt er unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung9 klar, daß

"Art.  4 Abs. 3 nicht die Aufgabe hat, die Ausübung des in Abs. 2 garantierten Rechts zu beschränken ('limit'), sondern den Inhalt dieses Rechts zu konkretisieren ('delimit'). Er bildet eine Einheit mit Abs. 2 und hebt hervor, was der Begriff der 'Zwangs- oder Pflichtarbeit' nicht umfassen soll. Somit dient Abs. 3 als Interpretationshilfe für Abs. 2. Seine vier Unterabsätze heben trotz ihrer Verschiedenheit auf den Grundgedanken des Allgemeininteresses, der gesellschaftlichen Solidarität und der Üblichkeit ab."

Der Begriff "delimit" ist für die Frage der rechtlichen Einordnung neutral. Er läßt offen, ob es sich bei Abs. 3 um eine Schutzbereichsbegrenzung handelt oder ob eine Schrankenregelung gemeint ist, die auf der Ebene der Rechtfertigung für verbotene Zwangs- oder Pflichtarbeit anzusiedeln wäre. Die Wahl des Begriffs der "Interpretationshilfe" mag schon eher darauf schließen lassen, daß der Gerichtshof Abs. 3 als nähere Schutzbereichsbestimmung verstanden wissen möchte. Wäre dies der Fall, wäre das Diskriminierungsverbot gem. Art. 14 nicht anwendbar.

Ohne sich mit dieser Frage näher auseinanderzusetzen, folgert der Gerichtshof allein aus der Anwendbarkeit von Art. 4 Abs. 3  lit. d auf die Anwendbarkeit von Art. 14.10 

"Der Gerichtshof kommt zu dem Schluß, daß wegen der engen Verknüpfung mit der Dienstpflicht auch die Zahlungspflicht unter Art. 4 Abs. 3 lit. d fällt. Folglich findet Art. 14 i.V.m. Art. 4 Abs. 3 lit. d Anwendung."


2. Vereinbarkeit mit Art. 14 i.V.m. Art. 4 Abs. 3 lit. d

Fraglich ist dann, ob die Feuerwehrabgabepflicht gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Von einer Ungleichbehandlung geht der Gerichtshof ohne weiteres aus. Diese sei i.S.d. Art. 1411  diskriminierend,

"wenn sie einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung entbehrt, d.h. wenn sie nicht ein legitimes Ziel verfolgt oder wenn zwischen den angewendeten Mitteln und dem verfolgten Ziel keine vernünftige Beziehung der Verhältnismäßigkeit besteht. Dabei verfügen die Vertragsstaaten über einen gewissen Beurteilungsspielraum (...). Jedoch können nur gewichtige Gründe den Gerichtshof veranlassen, eine allein auf dem Geschlecht beruhende unterschiedliche Behandlung für mit der Konvention vereinbar zu erachten.12


Ohne auf mögliche "gewichtige Gründe" - wie etwa die unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen von Männern und Frauen im Hinblick auf die besonderen Anforderungen des Feuerwehrdienstes, auf die seinerzeit das BVerfG seine Entscheidung gestützt hatte - einzugehen, ist für den Gerichtshof allein ausschlaggebend, daß

"die genannte Dienstpflicht nur rechtlich und theoretisch existiert. Da die Zahl der Freiwilligen stets ausreichte, ist in der Praxis keine Person männlichen Geschlechts verpflichtet worden, Dienst in der Feuerwehr zu leisten. Die finanzielle Leistung hat - wenn nicht rechtlich, so doch tatsächlich - ihren Ausgleichscharakter verloren und ist zur eigentlichen Verpflichtung geworden."

Eine unterschiedliche Behandlung könne bei der Zahlung einer solchen steuerähnlichen Ausgleichsabgabe kaum gerechtfertigt werden.

Art. 14 i.V.m. Art. 4 Abs. 3 lit. d ist daher verletzt (sechs zu drei Stimmen).

 

II. Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 1 des 1. ZP

Da vorstehend eine Verletzung festgestellt wurde, hat der Gerichtshof die Rüge des Beschwerdeführers, daß er einen diskriminierenden Eingriff in sein Eigentum erlitten habe, nicht mehr geprüft (einstimmig).

 

III. Ergebnis

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

 

IV. Sondervoten

Gegen das Ergebnis wenden sich die Richter Spielmann und Gotchev. Nach ihrer Auffassung

"handelt es sich nicht um eine unterschiedliche Behandlung, die ausschließlich auf dem Geschlecht beruht, sondern um eine Unterscheidung, die auf der Fähigkeit beruht, die schwierigen und gefährlichen Aufgaben zu erfüllen, die zum Dienst in der Feuerwehr gehören. Der Gesetzgeber konnte zu Recht davon ausgehen, daß Männer für diesen Dienst besser geeignet sind als Frauen, genauso wie unter den Männer diejenigen zwischen 18 und 50 besser geeignet sind als die jüngeren oder älteren.

Die Unterscheidung sei daher gerechtfertigt und die Konvention folglich nicht verletzt.

 

Um eine dogmatische Sicht bemühen sich die Richter Morenilla und Mifsud Bonnici in ihren Sondervoten. Beide stimmen entgegen der Auffassung des Gerichtshofs darin überein, daß Art. 4 Abs. 3 eine Ausnahme vom Schutzbereich darstellt und Art. 14 i.V.m. Art. 4 Abs. 3 lit. d daher schon gar nicht anwendbar sei.

Während Richter Morenilla aber auf ein - bisher im Rahmen der EMRK nicht anerkanntes - allgemeines Recht auf Gleichheit der Geschlechter abzustellen scheint und dieses Recht durch eine steuerähnliche Abgabe für eine nur theoretisch bestehende Dienstpflicht verletzt sieht, hält Richter Bonnici die Entscheidung der Mehrheit für falsch und führt aus:

"Man hat nicht festgestellt, daß eine bestimmte Vorschrift der Konvention oder des Protokolls anwendbar ist. Daher kann ich mich nicht der Mehrheit anschließen, denn ohne die Anwendbarkeit einer Norm zu festzustellen, bevor auf Art. 14 zurückgegriffen wird, ist letztere nicht anwendbar."

 


Anmerkungen:
 

* Aufbereitet von Rechtsreferendarin Ulrike Eppe. Die Zitate der Entscheidung sind kursiv in die Angaben der Bearbeiterin eingeordnet.
1 Serie A, Band 291-B, S. 24ff..
2 Feuerwehrgesetz des Landes Baden-Württemberg vom 1. April 1956 in der Fassung vom 27. November 1978.
3 Beschluß vom 17. Oktober 1961, BVerfG E 13, 167.
4 Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952, BGBl. 1956 II 1879.
5 Artikel ohne Gesetzesangabe sind solche der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK), BGBl. 1952 II 686 (mit späteren Änderungen).
6 Der Gerichtshof verweist auf Abdulaziz, Cabales and Balkandili, Urteil vom 28. Mai 1985, Serie A, Band 94, Ziff. 71 = EuGRZ 1985, S. 567 ff. (570); Inze, Urteil vom 28. Oktober 1987, Serie A, Band 126, Ziff. 36.
7 Belgischer Sprachenfall, Urteil vom 23. Juli 1968, Serie A, Band 6, Ziff. 10 = EuGRZ 1975, S. 298ff. (301).
8 Fall Abdulaziz, Cabales u. Balkandili (s. Fn. 7), Ziff. 71.
9 So die vom EGMR übernommene Bezeichnung aus BVerfG E 13, 167 [171].
10 Van der Mussele, Urteil vom 23. November 1983, Serie A, Band 70, Ziff. 38 = EuGRZ 1985, S. 477 (482).
11 Siehe Fn. 1, Ziff. 23.
12 In diesem Zusammenhang verweist der Gerichtshof auf die Fälle Schuler-Zgraggen, Urteil vom 24. Juni 1993, Serie A, Band 263, Ziff. 67 und Burghartz, Urteil vom 22. Februar 1994, Serie A, Band 280-B, Ziff. 27.
 
 
 
Quelle: MenschenRechtsMagazin Heft 3/98