Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 20. April 2010 |
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Kurt-R. Biermann / Ingo Schwarz
Warum bezeichnete sich Alexander von Humboldt
als DER ALTE VOM BERGE (Vecchio della Montagna)?Zuerst erschienen in: Alexander von Humboldt-Stiftung. Mitteilungen. AvH-Magazin Nr. 60, Dezember 1992, S. 71-73.
2. Worauf wollte Humboldt anspielen?
Vier Antworten bieten sich an:
Humboldt benutzt den Titel der Novelle „Der Alte vom Berge“ aus der Feder seines Korrespondenzpartners Ludwig Tieck. Die Erzählung wurde 1828 in Breslau veröffentlicht. Der Titelheld ist ein Besitzer von Fabriken, Bergwerken und Alaunvorkommen. Trotz unermesslichen Reichtums ist er infolge verschiedener Umstände sehr unglücklich. Er verhindert, dass Verwandte und von ihm Abhängige ihr Lebensglück finden. Das ändert sich erst nach seinem unerwarteten Tode, denn kluge und menschlich empfindende Angehörige erben sein riesiges Vermögen. Es gibt keinerlei Analogien zu Humboldts Persönlichkeit oder Lebenslauf; es sind keine Gründe erkennbar, warum er auf den Titelhelden angespielt haben könnte, und sei es auch nur im Spaß. In seiner Bibliothek war die Novelle (auf die uns dankenswerterweise Fritz G. Lange[1], Kleinmachnow, hingewiesen hat) nicht vorhanden; in seinem Briefwechsel mit dem Dichter wird sie nicht erwähnt. Zudem stand Humboldt dem Menschen und Autor Tieck nicht unkritisch gegenüber – über dessen Gestiefelten Kater hat er sich recht abfällig ausgelassen. Es kann also ausgeschlossen werden, dass die ohnehin weitgehend unbeachtet gebliebene Novelle eine Rolle bei Humboldts Wahl eines scherzhaften Cognomen gespielt hat.
Es liegt eine Allusion auf Humboldts Chimborazo-Besteigung vom 23.6.1802[2] vor. Auf diese, seine Hochgebirgs- und Vulkanforschungen krönende Leistung ist Humboldt mit Recht stolz gewesen, auch wenn er den Gipfel des damals als höchsten Berg der Welt (6 310 m) geltenden Chimborazo nicht ganz erreichte.[3] Er hatte dennoch ohne jede alpine Ausrüstung einen lange Bestand habenden Höhenweltrekord unter europäischen Reisenden[4] aufgestellt. „Ich habe“, schrieb er im November 1828 dem Kartographen Heinrich Berghaus, „mir mein Lebenlang etwas darauf eingebildet, unter den Sterblichen derjenige zu sein, der am höchsten in der Welt gestiegen ist – ich meine am Abhange des Chimborazo.“ Es drängt sich daher die Schlussfolgerung auf, dass bei Humboldts Titelwahl „Der Alte vom Berge“ sein Alter und seine Chimborazo-Besteigung (bzw. seine Gipfelbesteigungen in den Anden schlechthin) eine Rolle gespielt haben. Allerdings wohl nicht allein, wie wir noch sehen werden.
Humboldt spielt auf den Potsdamer Hügel an, auf dem Schloss Sanssouci liegt. Er hat erklärtermaßen Briefe mit der Ortsangabe Sanssouci versehen, wenn er gar nicht dort war. Er tat dies als Meister für „public relations“, wenn er sich davon einen „Effekt“ versprach, will sagen, wenn er sich von einer unauffälligen Erwähnung seiner Nähe zur Macht Erfolg erhoffte. Einerseits war die Erinnerung an Friedrich den Großen noch relativ frisch, zum anderen gehörte er als Kammerherr zur Umgebung des Königs Friedrich Wilhelm III. und danach des Königs Friedrich Wilhelm IV. Mit letzterem war er, man kann sagen: persönlich befreundet, wenngleich seine politischen Einwirkungsmöglichkeiten beschränkt blieben, was aber für Außenstehende nicht ohne weiteres erkennbar war. Er hat daher, wenn es ihm hilfreich erschien, Empfehlungsbriefe und an ausländische Staatsmänner gerichtete Bitten ganz unabhängig davon, wo er gerade wohnte und schrieb, als in Sanssouci verfasst deklariert. Indessen hat er nie von einem „Berg“ in Potsdam gesprochen, sondern immer nur von dem Hügel, auf dem Sanssouci liegt, oft mit dem Zusatz „historisch“ (colline historique). Außerdem wäre es höchst überflüssig gewesen, Korrespondenten wie etwa Fürst Metternich oder den König Maximilian II. von Bayern an seine Position am preußischen Hof zu erinnern. Somit scheidet diese Antwort auf die Frage nach dem Grund für den Beinamen „Der Alte vom Berge“ aus.
Humboldt spielt auf den gewöhnlich mit Alter vom Berge übersetzten Titel Scheich al-Djebel (Oberhaupt des Gebirges) des Führers des alten islamischen Geheimordens der Assassinen an. Auf den ersten Blick scheint eine Bezugnahme auf das islamische Oberhaupt völlig abwegig zu sein, zumal im Französischen „assassin“ ein Synonym für Meuchelmörder geworden ist. Bedenken wir aber, dass die Wiener Kirchenzeitung vom 9. Januar 1857 Humboldt der „Seelenmörderei“ geziehen hat,[5] weil in seinem Kosmos von der Weltschöpfung im christlichen Sinne nicht die Rede war, dann wird eine ironisch gemeinte Verbindungsherstellung zwischen Humboldt, dem „Assassin des âmes“, und dem fundamentalistischen Chef der Assassinen plausibel. Diese Vermutung wird zur Gewissheit, wenn wir sehen, dass er sich in einem Brief vom 13.8.1857 an König Maximilian II. als „il Vecchio della Montagna“ bezeichnet und zugleich seine Verdammung als „Assassin des âmes“ zitiert.
[1] Fritz-Gustav Lange (1905-1995), Archivar und Alexander-von-Humboldt-Forscher an der Berliner Akademie der Wissenschaften.
[2] Siehe hierzu die verdienstvolle Edition: Alexander von Humboldt. Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen. Mit dem vollständigen Text des Tagebuches ‚Reise zum Chimborazo’. Hrsg. und mit einem Essay versehen von Ottmar Ette und Oliver Lubrich. Frankfurt am Main 2006.
[3] Humboldt hatte bei seinem Aufstieg eine erreichte Höhe von 3 036 Toisen = 5 920 m ermittelt. Nach Reinhold Messner und Marco Cruz, die den Aufstieg rekonstruierten, mussten Humboldt und seine Begleiter, Aimé Bonpland und Carlos Montúfar, bei 5 600 m umkehren.
[4] Der A.-v.-Humboldt-Forscher Loren McIntyre hat darauf hingewiesen, dass bereits im 15. Jahrhundert in den Anden lebende Inkas die Sonne auf Bergen anbeteten, die höher als der von Humboldt erreichte Punkt waren; vgl. Loren Mc Intyre: Pioneer of Modern Geography: Humboldt’s Way. In: National Geographic Vol. 168, No. 3, September 1985, S. 318-351, hier S. 344.
[5] Zu Reaktion Humboldt auf diese Vorwürfe in der Presse vgl.: Alexander von Humboldt – Samuel Heinrich Spiker. Briefwechsel. Hrsg. von Ingo Schwarz unter Mitarbeit von Eberhard Knobloch. Berlin 2007, S. 240-241 und 386-387. (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung. Bd. 27).
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