Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 20. April 2010 |
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Ulrich Päßler
Alexander von Humboldt
und die transnationale Wissenschaftskommunikation im 19. Jahrhundert2. Ein preußischer Weltbürger in Paris – Humboldt und die Académie des sciences
In den Wissenschaftsakademien des 18. Jahrhunderts hatte sich das Ideal der Gelehrtenrepublik manifestiert. Die personelle Zusammensetzung der Akademien spiegelte das Korrespondentennetzwerk der ortsansässigen Mitglieder wieder. Die Schaffung neuer Lehr- und Forschungseinrichtungen sowie die Herausbildung nationaler Wissenschaftsmilieus stellte die Daseinsberechtigung der Akademien um 1800 grundsätzlich infrage. Zahlreiche europäische Akademien schlossen ihre Pforten oder versuchten, sich durch teils einschneidende Reformen einem zunehmend spezialisierten und professionalisierten Wissenschaftsbetrieb anzupassen.[1] Die Pariser Académie des sciences entwickelte sich nach der vorübergehenden Schließung (1793-1795) zum einflussreichen Organ einer zentralistischen Wissenschaftsadministration.[2] Das Augenmerk der Académiciens richtete sich nun verstärkt auf die Verwaltung und Förderung eines nationalen Forschungsrahmens. Die Begutachtung und Bewertung von Forschungsarbeiten, die eine unmittelbare Nutzanwendung versprachen, festigte gegenüber einer interessierten Laienöffentlichkeit das Bewusstsein der Größe der Wissenschaftsnation Frankreich und rechtfertigte zugleich die Existenz der Institution.
Eine solche Fokussierung der Akademiearbeit auf den nationalen Bezugsrahmen kommentierten einige Zeitgenossen durchaus kritisch. 1840 veröffentlichte der französisch-italienische Mathematiker Guglielmo Libri in der Zeitschrift Revue des Deux Mondes eine Artikelserie mit dem Titel „Lettres à un Américain sur l’état des sciences en France.“ [3] Er übte in einem dieser Artikel nicht zuletzt massive Kritik an der Akademie der Wissenschaften, die sich mehr und mehr vom Rest des wissenschaftlichen Europas isoliere während das Französische seinen Rang als europäische Wissenschaftssprache verlor. Im Rückblick auf das 18. Jahrhundert und die untergegangene europäische République des lettres merkte Libri an:
Dans le siècle dernier, notre littérature dominait dans toute l’Europe, les cours du Nord avaient adopté notre langue, les académies les plus célèbres de l’Allemagne publiaient leurs mémoires en français, et, depuis Pétersbourg jusqu’à Lisbonne, il ne faisait aucune découverte, aucune observation intéressante, que l’auteur ne s’empressât d’en donner connaissance à l’Académie des sciences de Paris, qui, à huis clos et sans chercher la popularité, avait établi partout sa suprématie. Et maintenant on dirait qu’à mesure que l’on fait des avances au public, la sphère d’action et l’influence de l’Académie diminuent. […] Les hommes les plus illustres du Nord, les Berzélius, les Gauss, n’envoient même plus leurs ouvrages à l’Institut. C’est là un fait grave, qui intéresse au plus haut degré la dignité du corps et la gloire scientifique de la France.
Auch andere kritische Beobachter, nicht zuletzt Alexander von Humboldt (der der Académie des sciences ab 1804 zunächst als korrespondierendes, dann als auswärtiges Mitglied angehörte), machten auf die mangelnden Sprachkenntnisse und das fehlende Interesse der Pariser Akademiker an deutschen Forschungsergebnissen aufmerksam. An Karl Cäsar von Leonhard schrieb Humboldt 1838 über die Bibliothek des Institut de France, in das die Académie des sciences eingebunden war:[4]
Das Institut [...] hat alle wichtigen deutschen Bücher. Es wird von hunderten junger Leute, die dort lesen, täglich besucht. Ich finde kein deutsches Buch auch nur aufgeschnitten, selbst wenn das Buch Zahlen enthält, wie G[ustav] Rosen’s und meine sibirische Reise, Parrot’s Ararat od. Poggendorfs Annalen. Und dann behauptet man, die deutsche Sprache nehme hier zu!! Poetische und dramatische Neugierde, ja; scientifische gar nicht.
An den Physiologen Emil du Bois-Reymond, den Humboldt ermutigte, eine Forschungsarbeit an die Pariser Académie des sciences zu senden, schrieb er noch 1851:[5]
Das Hinschicken der deutschen Abh[andlung] nach Paris hilft bei dasiger Faulheit und genereller Unkenntniß der Sprache dort zu gar nichts, sondern vielmehr dann nachdem 1-2 Mitglieder des Instituts etwas werden davon halb errathen haben, kommt ehe in 3-4 Monathen etwas davon übersetzt wird das grosse Vorurtheil sur ces rêves d’Allemand in Umlauf.
Diese Äußerungen sind sicherlich auch Humboldts Lust an Spott und ironischer Überspitzung geschuldet. Doch bestätigt die wissenschaftshistorische Forschung grundsätzlich die von Humboldt konstatierte Asymmetrie deutsch – französischer Kontakte in den Naturwissenschaften zumindest während des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts.[6] Deutsche Gelehrte verfügten im Allgemeinen über gute bis sehr gute französische Sprachkenntnisse und richteten ihren Blick ständig auf das europäische Wissenschaftszentrum Paris. Während französische Forschungsarbeiten zudem durch Übersetzungen und deutsche Überarbeitungen schnell in den deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs Einzug fanden, zeichnete sich die französische naturwissenschaftliche Forschung im genannten Zeitrahmen eher durch Selbstbeschränkung und verzögerte Wahrnehmung ausländischer Forschungsergebnisse aus.
Für die Pariser Académie des sciences hatte die Akademiereform und die Nationalisierung der europäischen Wissenschaftslandschaft ein zwiespältiges Ergebnis erbracht. Während sie ihre wissenschaftsorganisatorische Position in Frankreich festigte, nahm ihre Strahlkraft als europäische Gelehrtenvereinigung ab. Der Akademie-Kritiker Libri forderte daher:[7]
Rétablir les relations qu’avait l’Académie avec les sociétés des autres pays, lui rendre tout son ascendant en Europe, voilà ce que doivent chercher de préférence les hommes qui sont ses organes officiels et qu’elle a choisis pour interprètes et pour représentans [...].
Hier kam die Überzeugung zum Ausdruck, dass eine Wissenschaftsakademie nach wie vor dazu bestimmt war, ein Ort des grenzübergreifenden europäischen Gelehrtendiskurses zu sein – freilich unter dem intellektuellen Primat der französischen Wissenschaften. In formaler Hinsicht wurde die Bewahrung dieser traditionellen Rolle durch die Mitgliederstruktur gewährleistet. Zwar nahm der Druck zu, die Stellen der verstorbenen ausländischen korrespondierenden Mitglieder durch Franzosen zu besetzen. Doch dem steuerte François Arago, ab 1830 Secrétaire perpétuel der Akademie, aktiv entgegen. Er achtete darauf, dass diese vakanten Stellen wiederum von Ausländern besetzt wurden.[8] Zugleich aber mahnte er an, dass die Wahlkommissionen der Akademie ausländische und französische Kandidaten stets auf einer gemeinsamen Vorschlagsliste präsentierten und nicht etwa getrennt aufführten.[9] Auf diese Weise wurde die Illusion aufrechterhalten, allein die fachliche Eignung sei das Wahlkriterium – und nicht etwa die Herkunft des Kandidaten.
Durch derartige Kontrollmechanismen hielt die Akademie den Anteil ausländischer Mitglieder konstant und bewahrte ihr Selbstbild als europäische Gelehrtenvereinigung. Schwieriger als diese mehr oder weniger symbolische Einbindung der ausländischen Wissenschaftler in die Académie des sciences erwies sich jedoch die konkrete Einbeziehung ausländischer Forschungsergebnisse in die gelehrte Diskussion der wöchentlichen Sitzungen.
Wie konnte diesem Defizit begegnet werden? Ein institutionalisierter Austausch mit anderen europäischen Akademien, wie ihn Libri anregte, strebte die Académie des sciences nicht an. Zu sehr war sie auch unter ihrem Sekretär Arago noch damit beschäftigt, ihre Bedeutung als zentrales Administrativorgan und repräsentative Institution der Wissenschaftsnation Frankreich gegenüber Politik und Öffentlichkeit zu festigen.
Es bot sich wiederum ein Rückgriff auf die Tradition des vorangegangenen Jahrhunderts an, um einer allzu offensichtlichen Beschränkung der Akademiearbeit auf den nationalen Rahmen entgegenzuwirken. Bereits in der Académie des sciences des Ancien Régime waren die Vorstellung und Diskussion eingesandter Forschungsergebnisse auch ausländischer Wissenschaftler wichtiger Bestandteil der wöchentlichen Versammlungen gewesen.[10] Nach den Statuten des Jahres 1795 gehörte es zu den Aufgaben der beiden Secrétaires perpétuels im wöchentlichen Turnus die eingehende Korrespondenz zu sichten und dem Plenum ausgewählte Forschungsbeiträge vorzustellen.
François Arago wertete die wöchentliche Vorstellung der eingegangen Korrespondenz auch im Dienst einer besseren Außendarstellung der Akademie zum ersten und herausragenden Tagungsordnungspunkt der Zusammenkünfte auf. Unter seinen Vorgängern war dies eine wenig beliebte Pflichtübung gewesen. Arago bereitete die Präsentation minutiös vor, um dann scheinbar aus dem Stegreif über Forschungsergebnisse aus verschiedenen Wissensbereichen zu referieren. Humboldt hatte sich eine solche Rolle Aragos in der Académie des sciences gewünscht. Bereits kurz nach der Wahl Aragos zum Sekretär schrieb er aus Potsdam:[11]
Tu sauras ramener, j’en suis sûr, les Rapports et les discours publics à ce qu’ils doivent être dans une Académie des sciences. La véritable éloquence naît de la grandeur des vues et un coup d’œil rapide, jetté [sic] sur les progrès que dans l’Europe entière telle où telle science a faits, accoutumera peu à peu le public à préférer ce qui agrandit la pensée aux froids plaisanteries et à la manière anecdotique.
Arago verfügte jedoch über keine dauerhaften ganz Europa umspannenden Gelehrtenkontakte wie sein Kollege und Vorgänger Georges Cuvier. Dennoch gelang es ihm, in den wöchentlichen Versammlungen ab 1830 regelmäßig über Forschungsergebnisse deutscher Gelehrter zu berichten. Dies verdankte er den Mitteilungen seines engen Freundes Alexander von Humboldt.
Dank dieser Kooperation konnte Arago Sitzungen, in denen sonst nur Arbeiten französischer Wissenschaftler zur Sprache gekommen wären, eine stärker europäische Dimension verleihen.
Vor 1830 hatte Humboldt nur hin und wieder Arbeiten deutscher – vor allem preußischer –
Forscher nach Paris gesandt, nach dem Amtsantritt Aragos entwickelte sich hingegen eine kontinuierliche Zusammenarbeit. Zwischen 1827, dem Jahr der Rückkehr Humboldts aus Paris nach Berlin und 1859 lassen sich in über 120 Sitzungen briefliche und persönliche Wortmeldungen Humboldts nachweisen, die zumeist mehrere verschiedene Arbeiten überwiegend preußischer Wissenschaftler zum Gegenstand hatten. Die thematische Bandbreite reichte dabei von der Astronomie über Geophysik, und Geologie bis zur Biologie. Viele seiner Einsendungen stimmte Humboldt auf aktuelle Diskussionsschwerpunkte der Akademie ab. Als sich im Jahr 1832 eine Akademiekommission mit der Bekämpfung der Cholera auseinandersetzte, nahm dies Humboldt zum Anlass, neueste Arbeiten deutscher Ärzte zu diesem Problem in der Akademie vorzustellen.[12]
Betrachtetet man die Korrespondenz zwischen Humboldt und Arago sowie die Sitzungsberichte der Académie des sciences, so fällt auf, dass Arago die meisten Beiträge aus den Briefen Humboldts übernahm, ohne dass es einer besonderen Aufforderung des Freundes bedurfte. Nur selten finden sich in der Korrespondenz direkte Hinweise auf die Bestimmung seiner Meldungen. 1833 schrieb Humboldt:[13]
Quoique je devrois t’importuner moins souvent de mes petites annonces scientifiques, je crois pourtant devoir te communiquer, mon cher ami, ce qui intéressera le Bureau des Longitudes, peut-être aussi l’Académie.
Meist vertraute Humboldt jedoch darauf, dass Arago Zeit und thematischen Zusammenhang für die Präsentation selbst richtig wählte. So findet sich ein Brief Humboldts an Emil du Bois-Reymond vom März 1849, der sich bei Humboldt für Aragos Verlesung einer Arbeit du Bois-Reymonds bedankt hatte:[14]
Mir dürfen Sie über meine Bewunderung und Arago’s rühmliche Anzeige keinen Vorwurf machen. Als Ihr Buch herauskam, übersezte ich in einem Briefe an Arago sehr vorsichtig die einzige Stelle p. XV. Sie hat damals wie es scheint gar keinen Effect auf ihn gemacht. Jezt wiederholte ich zufällig etwas ähnliches, und dieses Mal hat es ihn angeregt.
Aragos Motiv für eine solche Kooperation bestand darin, dem Rezeptionsdefizit bezüglich deutschsprachiger Arbeiten entgegenzuwirken und die europäische Dimension der Pariser Akademiearbeit nicht gänzlich aus dem Blick zu verlieren. Und auch Humboldts Aktivität überrascht eigentlich nicht, sorgte er doch stets in seiner Korrespondenz für die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse auch anderer Gelehrter. Doch besaß Humboldts Pariser Akademiearbeit nach 1830 eine besondere Qualität. In keiner anderen wissenschaftlichen Institution – die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften eingeschlossen – spielte er eine dauerhaft aktive Rolle, die mit der Mittlertätigkeit in der Académie des sciences vergleichbar gewesen wäre.[15]
Humboldt thematisierte in seinen Briefmitteilungen und Vorträgen in der Académie des sciences zumeist die Forschungsergebnisse noch am Beginn ihrer Karriere stehender preußischer Wissenschaftler. Zu ihnen gehörten beispielsweise Heinrich Wilhelm Dove, Hermann Helmholtz, Emil du Bois-Reymond oder Christian Gottfried Ehrenberg. Allein mehr als zwanzig Forschungsarbeiten Ehrenbergs stellte Humboldt zwischen 1825 und 1844 in der Académie des sciences vor.
Humboldts schuf jüngeren Gelehrten auf diese Weise ein Forum außerhalb Preußens und nutzte die Académie des sciences zur Förderung der preußischen Wissenschaften. Er reflektierte also nicht nur die Herausbildung national definierter wissenschaftlicher Milieus und versuchte, dadurch entstandene Kommunikationsdefizite zu überwinden. Er erkannte auch den „strategischen“ Nutzen der Grenzen zwischen Wissenschaftsnationen für die Wissenschaftsförderung in Preußen: Die durch seine Förderung in der Académie des sciences gestiegene Reputation preußischer Wissenschaftler im Ausland, machte er in Preußen bei staatlichen Stellen geltend.
Das preußische Kultusministerium hatte im Laufe des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts strenge Berufungskriterien wie Forschungsleistungen und wissenschaftliche Veröffentlichungen durchgesetzt.[16] In diesem Zusammenhang achtete das Ministerium auch auf den wissenschaftlichen Ruf eines Gelehrten innerhalb der europäischen Wissenschaftsgemeinde.[17] Die positive Beurteilung der Forschungsleistung eines preußischen Gelehrten beispielsweise durch eine Pariser Akademiekommission konnte also der wissenschaftlichen Laufbahn in Preußen förderlich sein. Humboldt verfügte über ausgezeichnete Kontakte zum Kultusministerium.[18] In seinen Gutachten und Empfehlungsschreiben an das Ministerium wies Humboldt immer wieder auf die Erfolge seiner Protegés in Paris hin.
Auf diese Weise förderte Humboldt beispielsweise den Mathematiker Peter Gustav Lejeune Dirichlet. Noch aus Paris unterstützte Humboldt 1826 ein Anstellungsgesuch Dirichlets mit dem mehrfachen Hinweis darauf, dass der junge Gelehrte die wohlwollende Aufmerksamkeit der Académie des sciences auf sich gezogen habe.[19] Entsprechend forderte Humboldt seinen Schützling auf, den Kontakt nach Paris weiter zu pflegen:[20]
J’espère bien que Vous n’avez pas négligé Vos rapports avec l’Institut et les Géomètres en France, cela est même utile par le reflet qui se répand de là sur l’Allemagne.
Das von Arago und Humboldt geschaffene preußisch-französische Wissenschaftsforum blieb nicht auf das Plenum der Académie des sciences beschränkt. 1835 hatte Arago die Comptes rendus hebdomadaires de l’Académie des sciences ins Leben gerufen. Diese Zeitschrift publizierte die Sitzungsprotokolle sowie die vorgetragenen Arbeiten binnen Wochenfrist. Arago ermöglichte die Veröffentlichung vieler von Humboldt eingesandter Arbeiten in den Comptes Rendus wie auch in anderen wissenschaftlichen Zeitschriften, so den ebenfalls von ihm mitherausgegebenen Annales de Chimie et de Physique. Humboldt schätzte die publizistische Ausweitung des Kommunikationsraumes vor allem durch die auch in Deutschland rezipierten Comptes Rendus hoch ein, da er sich auch durch französische Veröffentlichungen eine unmittelbare Wirkung auf den Werdegang von ihm geförderter Gelehrter in Preußen erhoffte. In einem Schreiben vom 9. Oktober 1844 bat Humboldt den befreundeten Secrétaire perpétuel um den Druck einer Abhandlung des Berliner Physikers Georg Adolphe Erman, dessen Wahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften er anstrebte:[21]
Voici, mon cher ami, un mémoire optique de M. Adolphe Erman, gendre de M. Bessel et que j’ai tant de difficultés de faire entrer dans l’Académie. Il me seroit bien utile, si le mémoire étoit dans la nature à fixer ton attention que dans les Comptes rendus il y eut un mot de bienveillance pour un homme dont les formes ne sont certainement pas agréables, mais qui réunit une grande variété de connoissances solides.
Entsprechend informierte Humboldt auch Erman:[22]
Ich habe meinen Freund Arago besonders darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es für mich wegen unserer Académie wäre, wenn recht bald der Compte rendu dieser Versuche erwähnte. Später kann man sie ja für die Annales de Chimie bestimmen.
Der Druck der besagten Arbeit Ermans erfolgte noch im Oktober 1844,[23] eine Wahl in die Berliner Akademie gelang gleichwohl nie.
Die publizistische Verarbeitung des preußisch-französischen Transferraumes in der Académie des sciences blieb nicht auf die Fachpresse beschränkt. Pariser Tageszeitungen, wie das Journal des débats und populärwissenschaftliche Zeitschriften wie l’Institut oder Cosmos trugen dem zunehmenden Interesse des französischen Laienpublikums an den Naturwissenschaften Rechnung und berichteten über die Sitzungen der Académie des sciences.[24] Diese Öffnung der Akademie förderte Arago unter anderem, indem er Journalisten den Zutritt zu den Sitzungen gewährte – eine Maßnahme, die auch in der Akademie selbst umstritten war.
Freilich bedeutete dieser dritte Akteur neben Humboldt und Arago einen Kontrollverlust: Nicht nur die Berichte über preußische Forschungsarbeiten im Plenum der Académie des sciences fanden durch die Fach- und Tagespresse Verbreitung. Auch Kritik an den durch Humboldts Vermittlung in der Académie des sciences vorgestellten Untersuchungen gelangte nun in die französische Öffentlichkeit und dadurch mitunter wieder nach Berlin.
1836 griff der Physiker Jean-Charles Peltier in scharfer Form Ehrenbergs Hypothese an, dass Infusorien über vollständige Organsysteme verfügten.[25] Peltiers Brief an die Akademie wurde zunächst in den Comptes rendus und der Zeitschrift l’Institut veröffentlicht. Schließlich griffen die Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen die Meldung auf.[26] Humboldt fühlte sich verpflichtet, sowohl in den Comptes rendus, als auch den Berlinischen Nachrichten und der Pariser Tageszeitung Le Temps Ehrenbergs Gegendarstellung veröffentlichen zu lassen, um weiteren Schaden abzuwenden.[27]
Hier war Humboldts Strategie, mittels des Gelehrtenbriefwechsels als bewährtem Mittel der untergegangenen Gelehrtenrepublik Wissen auszutauschen und Protektion zu gewähren durch das schnelle grenzübergreifende Massenkommunikationsmittel Tageszeitung gleichsam ausmanövriert worden.
[1] Vgl. Renato G. Mazzolini, Nationale Wissenschaftsakademien im Europa des 19. Jahrhunderts, in: Lothar Jordan/Bernd Kortländer (Hg.), Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Studien zum Kultur- und Wissenschaftstransfer in Europa (Communicatio 10), Tübingen 1995, S. 245-260, siehe besonders S. 247-249.
[2] Vgl. zum Folgenden: Jean Tulard, Histoire de l’Institut de France, in: Henri Amouroux (Hg.), Histoire des cinq academies, Paris 1995, S. 17-49.
[3] Anonym [Guglielmo Libri]: Lettres à un Américain sur l’état des sciences en France, in: Revue des Deux Mondes 21 (1840), S. 789-818; ebd., 22 (1840), S. 523-555; ebd., 23 (1840), S. 410-437.
[4] Humboldt an Leonhard, Paris, 14. November 1838, UB Heidelberg, Handschriftenabteilung, Heidelb.Hs. 789.
[5] Humboldt an du Bois-Reymond, o.O., o.D. (Berlin, 26. Dezember 1851), Ingo Schwarz/Klaus Wenig (Hg.), Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung 22), Berlin 1997, S. 123.
[6] Vgl. zum Folgenden: Kanz, S. 228-232.
[7] Libri, Lettres à un Américain, Revue des deux Mondes 21, S. 808.
[8] Archives de l’Académie des sciences de Paris, Comité secret, 1837-1844, 25 avril 1842, S. 96, zitiert nach : Maurice Crosland, Science under Control. The French Academy of Sciences 1795-1914, Cambridge 1992, S. 216.
[9] Vgl. die Diskussion anlässlich der Korrespondentenwahl in der Sektion für Anatomie und Zoologie: Procès-verbaux des séances de l’Académie des sciences, tenues depuis la fondation de l’Institut jusqu’au mois d’août 1835, publiés conformément à une décision de l’Académie par MM. les secrétaires perpétuels, 10 Bde., Hendaye 1910-22, Bd. 10, Séance du 12 janvier 1835, S. 648.
[10] Libri, Lettres à un Américain, Revue des deux Mondes 21, S. 808.
[11] Humboldt an Arago, Potsdam, 10. Juli 1830, Ernest-Théodore Hamy (Hg.), Correspondance d’Alexandre de Humboldt avec François Arago (1809-1853), S. 91. Humboldts große Erwartungen gründeten sich auf Aragos zu diesem Zeitpunkt bereits etablierten Ruf als populärer wissenschaftlicher Redner. Seit 1813 hielt Arago öffentliche Vorlesungen zur Astronomie im Pariser Observatoire. Vgl. Jean-Augustin Barral (Hg.), Astronomie Populaire par François Arago. Secrétaire perpétuel de l’Académie des sciences, 4 Bde., Paris 1854-1857.
[12] Vgl. Procès-verbaux des séances de l’Académie des sciences, Bd. 9, séance du 3 janvier 1831, S. 595; ebd., séance du 28 mars 1831, S. 595; ebd., séance du 18 avril 1831, S. 605.
[13] Humboldt an Arago, Berlin, 15. März 1833, Hamy, S. 121.
[14] Humboldt an du Bois-Reymond, o. O., o. D. (Berlin, 12. 5. 1849), Schwarz/Wenig, S. 89.
[15] Humboldt besuchte die Akademiesitzungen in Berlin nur sehr unregelmäßig, mitunter blieb er ihnen monatelang fern. Vgl. die Protokolle der Gesamtsitzungen der Akademie im Archiv der BBAW, II-V,8 (1827) – II-V,29 (1848) sowie die Protokolle der physikalischen bzw. physikalisch-mathematischen Klasse, ebd., II-V,106 (1824-29), II-V,116 (1859-63).
[16] Vgl. Roy Steven Turner, The Growth of Professorial Research in Prussia, 1818 to 1848 – Causes and Context, in: Russel McCormmach (Hg.): Historical Studies in the Physical Sciences, Bd. 3, Philadelphia 1971, S. 137-182.
[17] Ebd. S. 177.
[18] Hier ist insbesondere auf die Verbindung zu Oberregierungsrat Johannes Schulze hinzuweisen, vgl. Kurt-R. Biermann (Hg.), Vier Jahrzehnte Wissenschaftsförderung. Briefe Alexander von Humboldts an das preußische Kultusministerium (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung 14), Berlin 1985, S. 15.
[19] Humboldt an Karl Freiherr Stein zum Altenstein, Paris, 14. Mai 1826, Biermann, Vier Jahrzehnte, S. 49.
[20] Humboldt an Lejeune Dirichlet, Potsdam, 27. Mai 1828, Kurt-R. Biermann (Hg.), Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Peter Gustav Lejeune Dirichlet (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung 7), Berlin 1982, S. 42.
[21] Humboldt an Arago, Sanssouci, 9. Oktober 1844, Hamy, S. 261. Zur Förderung Ermans durch Humboldt siehe Fedor Kretschmar/Christa Kouschil, Der „Sibirier“ Georg Adolph Erman: Protegé und Konsultant Alexander von Humboldts, in: Acta historica Leopoldina 27 (1997), S. 49-62.
[22] Humboldt an G.A. Erman, o.O., o.D. (Potsdam, 9. Oktober 1844), SUB Bremen, Handschriftenabt., Nachlass Adolphe Erman, Humboldt, Nr. 26.
[23] Sur la loi de l’Absorption de la lumière par les vapeurs de l’iode et du brome (Note de M. A. Erman adressé à M. Arago), Comptes Rendus hebdomadaires de l’Académie des Sciences 19 (1844), S. 830-845.
[24] Siehe Crosland, S. 285 sowie Daniel Raichvarg/Jean Jacques, Savants et ignorants. Une histoire de la vulgarisation des sciences, Paris 1991, S. 68f.
[25] M. Peltier. Lettre sur les animaux microscopiques, Comptes Rendus 2 (1836), Séance du lundi, 8 février 1836, S. 134f.
[26] Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen Nr. 41, 18. Februar 1836.
[27] Vgl. Humboldt an Ehrenberg, o.O., o.D., (Berlin, nach 16. Februar 1836), Archiv BBAW NL Ehrenberg, Humboldt, Nr. 80 sowie Humboldt an Ehrenberg, o.O. (Berlin), 22. März 1836, ebd., Nr. 79. Siehe auch die digitalisierte Ausgabe des Briefwechsels zwischen Ehrenberg und Humboldt, herausgegeben von Anne Jobst unter Mitarbeit von Eberhard Knobloch:
http://telota.bbaw.de/AvHBriefedition/index.html (15.09.08).
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