Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 20. April 2010
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Ulrike Leitner

Humboldt, Cotta, Ritter
Eine Miszelle über die Arbeit an einer Edition

Herausgeber stoßen bei der Bearbeitung von Briefwechseln oft auf  unerwartete Schwierigkeiten, beispielsweise beim Entziffern der Handschriften, bei der Verifizierung von biographischen oder historischen Tatsachen oder bei der chronologischen Einordnung nicht datierter Briefe. Bei der Edition des handschriftlichen Nachlasses Alexander von Humboldts (s. Schriftenreihe "Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung") sind die Mitarbeiter der A. v. Humboldt-Forschungsstelle ständig mit diesen Problemen konfrontiert. Im Folgenden soll dazu ein Fallbeispiel aus der Korrespondenz Humboldts mit seinen Verlegern Cotta gezeigt werden. Dieser chronologisch archivierte Briefwechsel[1] legt von einer über ein halbes Jahrhundert währenden Verbindung des berühmten preußischen Weltbürgers zu dem bekannten süddeutschen Verlagshaus Zeugnis ab.

Die Probleme bei der Edition beginnen mit der bekanntlich schwierigen Handschrift. Nach Biermann „gab Humboldts Schrift schon zu seinen Lebzeiten den Lesern Rätsel auf“[2]. Humboldt war sich selbst der Unleserlichkeit seiner Handschrift bewusst und hat sich bei vielen Adressaten dafür entschuldigt. So beendete er beispielsweise einen Brief mit den Worten: 

      Mit alter Anhänglichkeit und vieler Entschuldigung für die immer unleserlicher werdenden Hieroglyphen

                                                                                                              Ihr

                                                                                                                 gehorsamster

                                                                                                                 AlHumboldt[3]

Er begründete die schlechte Schrift mit einer rheumatischen Lähmung seines rechten Armes, die er sich während der Amerikareise beim Schlafen auf feuchten Blättern zugezogen habe. Mit dem Übergang von deutschen zu lateinischen Lettern um 1830 wurde seine Schrift etwas schlichter und weniger verschnörkelt, was eine Entzifferung vereinfacht.

Ein anderes Problem ergibt sich daraus, dass Humboldt viele Briefe nicht oder nur vage datiert hat[4]. In der Korrespondenz Humboldts mit dem Verlagshaus Cotta spielt die fehlende Datierung eine eher untergeordnete Rolle. Von 372 Briefen sind ganz ohne Datum nur 18, mit Datum und ohne Jahresangabe 8;  und diese lassen sich leicht aus dem Kontext datieren, zumal Humboldt meist den Wochentag seines Schreibens vermerkt hat.

So schreibt er zum Beispiel den folgenden kurzen Brief an Johann Friedrich von Cotta:

Hier, mein Bester, unsere Contracte wie Sie sie genehmigten! Ich habe keine Furcht in Ihre Dienste zu treten, wir werden nie mit einander unzufrieden sein. Der Gang der mall[e-]post[5] macht dass wir schon Montag früh reisen müssen: wenn Sie also wie ich verstand, Herrn Kunth seiner Unterschrift wegen zu Lafitte schikken wollen, so bitte ich Sie, mein /2/ Theurer, Herrn Kunth zu schreiben, ob und wann er morgen zu Ihnen kommen soll? Wegen der Speisung schreiben Sie mir auch!

AvHumboldt.

Freitags.[6]

Dieser im Vergleich zu seinen sonstigen Briefen eher formlose, knappe Zettel deutet darauf hin, dass  die Entfernung zwischen den beiden Korrespondenten geringer als sonst (zwischen Paris bzw. Berlin  und Stuttgart) war, sie sich anscheinend kürzlich gesehen hatten und Näheres mündlich besprochen wurde. Der Brief wurde offensichtlich in Paris geschrieben, denn es geht um ein Treffen zwischen Kunth[7], Humboldt und Cotta. Offenbar wollten Humboldt und Kunth gemeinsam Cotta wegen eines Vertragsabschlusses aufsuchen. Tatsächlich hielt sich Cotta im Sommer 1825 in Paris auf. Gemeinsam mit seiner Frau war er in das Schloss des Bankiers Jacques Lafitte eingeladen und „knüpfte und festigte [...] seine Beziehungen zur oppositionellen literarischen und politisch-publizistischen Szenerie von Paris“[8]. Bei dieser Gelegenheit erledigte er auch Geschäftliches für seinen Verlag, wie den hier erwähnten Vertrag über Humboldts Mitarbeit an Cottas Zeitschrift Hertha vom 1.7.1825[9]. Die erwähnte Abreise Montag früh ergibt eine zusätzliche Fixierung des Datums. Damit ist eine Exkursion mit Kunth in die Bretagne im Juli 1825 gemeint. Mit Hilfe der einschlägigen Kalenderrechnungen kann man nun den Freitag genau bestimmen: es handelt sich um den 1. Juli 1825.

Im Cotta-Archiv findet sich gleich darauf folgend ein weiterer, ebenso formloser und knapper Zettel, der mit den Zeilen beginnt:

Herzlichen Dank! Ich nehme die Einladung zu morgen Sonnabend mit Herrn Kunth gern an und wir werden etwas vor 6 Uhr gern uns einfinden, damit die geistreiche u. liebenswürdige Fr[au] v. Cotta nicht über mich zürne.

Bei diesem Brief gibt es eine zusätzliche Datierungshilfe: wie viele Briefe, die im Cotta-Archiv in Marbach liegen – so dass sich die obigen Überlegungen zur Datierung aus biographischen Details oft erübrigen – trägt dieser einen Bearbeitungsvermerk von Cotta (oder vielleicht von einem ordentlichen Sekretär, der die Briefe für die Ablage bearbeitet hat): "1 Jul. 25" ist in einer Ecke des Blattes vermerkt. Oft besteht eine solche Anmerkung auch aus drei Daten: das Datum des Humboldtschen Schreibens, das der Ankunft und ein drittes, das offenbar das der Antwort Cottas ist. Leider war Humboldt selbst nicht so pedantisch: er hat nicht nur eingehende Briefe nicht datiert, sondern sie sogar meist weggeworfen. Wenn in dem penibel geführten Cotta-Archiv nicht auch Abschriften von Cotta-Briefen liegen würden, wären fast keine Briefe aus dem Hause Cotta überliefert. Abgesehen von vielen biographischen und buchhändlerischen Einzelheiten, beispielsweise zur Entstehung des immensen Humboldtschen Oeuvres, wären uns auch Zeugnisse einer freundschaftlichen Beziehung entgangen, die vor allem den Sohn Johann Georg von Cotta mit Humboldt verband: "ein Seitenstück zur Freundschaft zwischen Johann Friedrich Cotta und seinen größten Autoren Schiller und Goethe."[10]

Undatierte Briefe sind also nicht – wie sonst häufig, beispielsweise im Briefwechsel mit Ehrenberg[11] – das Hauptproblem bei der Edition dieses Briefwechsels. Die wenigen Fälle lassen sich relativ leicht aus dem historischen Kontext datieren. Im Folgenden soll ein Beispiel einer Fehldatierung vorgestellt werden, das aufzuklären kompliziertere Recherchen erforderlich machte, die aber zu neuen, interessanten Tatsachen in der Humboldt-Forschung  führten. Falsche Datierungen kommen bei Humboldt nicht oft, aber doch manchmal vor. Das ist nicht verwunderlich bei der Fülle der Schreiben, die er täglich zu bewältigen hatte.[12]

So schrieb Humboldt einige Male nach dem Jahreswechsel noch das alte Jahr, was aus dem Inhalt bzw. aus der Brieffolge und ihrem wechselseitigem Bezug leicht als Fehler erkennbar ist. Ein besonderes Rätsel gab aber der folgende Brief auf, der hier zu Demonstrationszwecken genauer vorgestellt werden soll:

Ihre verzögerte Antwort, mein theurer, alter Freund, hatte mich an das hier überall ausgebreitete Gerücht glauben lassen, dass wir die grosse grosse Freude haben würden, Sie endlich einmal in Paris zu sehen. In dieser Erwartung hielt ich das Manuscript der Zusäze meiner Ansichten der Natur zurük. Verzeihen sie nun diese Zögerung: ich werde das Manuscript nun sogleich abgehen lassen, da Ihr Brief vom 22 Oct.[13] mir keine Hofnung mehr lässt es Ihnen hier persönlich zu übergeben.

Ich sehe aus diesem, sonst recht liebevollen Briefe dass Sie meine Vorschläge der Geognosie und der damit verbundenen Mitwirkung an Ihren geographischen Unternehmungen wahrscheinlich ablehnen werden. [...] Ich hatte geglaubt dass meine Anträge darum einigen Reiz für Sie haben würden, als Sie Ihnen ein, Neugier erregendes langdauerndes Werk zusichern als dieses Werk in der Quart und Octav Ausgabe sich an alle meine Reisewerke unter gleichem franz[ösischem] Titel: Voy[age] de Humboldt et Bonpland Partie minéralogique anschließt[14], als ich Name und Mitwirkung für die geogr[aphische] Zeitschrift verspreche, und als ich (zu einer neuen Reise mich zurüstend) mir eine Verbindung bereiten wollte, durch die ich, während der Reise, kürzere Aufsäze zuerst in meinem Vaterlande publiciren könnte.

Von Annahme von Vorschüssen kann gar keine Rede sein, wenn Ihre Verhältnisse, mein Lieber, Ihnen die Annahme der Geognosie und der damit verknüpften geograph[ischen] Mitwirkung nicht annehmlich machen. Ich kann nur annehmen, selbst von Freunden, wie Sie, wenn ich gebe d. h. Arbeit liefere, und da ich hintereinander diese Geognosie und zwei andere auf Meteorologie und  physikalische Geographie Bezug habende Compendia herausgeben will, so muss ich eilen für einen so weitschichtigen  Plan, sei es hier oder durch andere Verbindungen in Deutschland mein Geschäft zu sichern. Ich wiederhole daher meine Bitte, mir ja recht bald eine bestimmte abschlägige Antwort freimüthigst zu geben. Sollten Sie im Gegentheil, wie ich nicht glaube, annehmen, so versteht sich von selbst dass bei einem Namen wie der Ihrige die Verzögerung der Termine keine Schwierigkeit finden wird. Was die Geographie der Pflanzen betrift so muss ich ja bitten sie nicht wiederzudrukken. Ich habe schon ein lateinisches Werk de distributione geogr[aphica] plant[arum] an die Stelle gesezt und gedenke eine neue ganz umgearbeitete Geographie die im Manuscript nicht vollendet ist, herauszugeben. Von dem alten Werke ist nichts mehr wahr als das allgemeine.

                
           
Mit unwandelbarer Freundschaft

                                    Ihr

                                              A Humboldt

Paris

den 28 Oct.

1825  

Ihre Hertha ist gewiss in vortreflichen Händen wenn Herr Hofmann und Berghaus[15] an der Spize stehen, aber der Plan den ich Ihnen mitgetheilt scheint mir methodisch ansprechender und umfassender als die Anzeige welche Ew. Hochwohlgeboren mir schikken. Herr Ritter den wir hier mehrere Wochen besessen schien meinen Plan sehr zu begünstigen. Ich bitte Sie freien Gebrauch davon zu machen selbst in dem mir seit Ihrem lezten Briefe wahrscheinlicheren Falle, dass ich selbst an Ihren geographischen Unternehmungen keinen Theil nehme.[16]

Das Problem zeigt sich bereits im ersten Satz: warum hoffte Humboldt Ende Oktober 1825, Cotta "endlich einmal in Paris zu sehen", wenn er doch, wie aus den obigen Beispielen (den kurzen Notizen, die sich eindeutig datieren ließen), Cotta knapp zwei Monate zuvor während dessen Besuchs in Paris getroffen hatte? Folglich müsste es 1824 heißen. Allerdings scheint es etwas seltsam, sich so in der Angabe des Jahres zu irren, dass man einen Brief vordatiert. Man wird jedoch sehen, dass man nicht umhin kommt, Humboldt einen derartigen Fehler zu unterstellen. Einige der im Brief erwähnten Tatsachen liefern Indizien dafür:

1. Humboldt kündigte die sofortige Absendung eines Manuskripts der Zusätze zu den „Ansichten der Natur“ an, d. h. der Teile, die in die 2., wesentlich erweiterte Auflage des 1826 erschienen Werkes zusätzlich aufgenommen werden sollten. Nun befindet sich ein separat abgelegter Briefumschlag im Cotta-Archiv, der mit dem Bearbeitungsvermerk: 28.10.1824 versehen ist und vermutlich Manuskripte Humboldts enthalten hatte. Separate Umschläge gibt es sonst nur wenige, denn Humboldt hat seine Briefe auf eine bestimmte Art gefaltet, versiegelt und die Adresse gleich auf die Rückseite geschrieben. Vielleicht hat dieser Umschlag die erwähnten Zusätze enthalten?

2. Humboldt verwies auf seine Vorschläge zu einer „Geognosie“[17] und der damit verbundenen Mitwirkung an Cottas geographischem Unternehmen, die er am 12.8.1824 in einem ausführlichen, 11seitigen Brief an Cotta gesandt hatte. Damit sprach er zwei seiner Projekte an: einmal die Publikation einer zum amerikanischen Reisewerke gehörenden geognostischen Partie (die nicht zustande kam)[18], dann seine dezidierten Vorstellungen eines geographischen Journals[19], auf die Cotta offenbar nicht eingegangen war. Im Gegenteil: wie aus dem Nachsatz ersichtlich, hatte er Humboldt eine Anzeige gesandt, in der er selbst die Gründung einer geographischen Zeitung (Hertha) ankündigte! Humboldt scheint mit dem Konzept der Hertha nicht recht zufrieden gewesen zu sein. Seine Kritik hätte jedoch gewiss anders gelautet, wenn der Brief vom Herbst 1825 stammen würde, nämlich nach Erscheinen des ersten Bandes, dessen Vorwort bereits vom  22.12.1824 datiert ist. Außerdem wurde (wie bereits oben erwähnt) während Cottas Aufenthalt in Paris am 1.7.1825 ein Vertrag über Humboldts Mitarbeit an der Hertha abgeschlossen, der dazu führte, dass vom 2. Band an Humboldt auf dem Titel der Zeitschrift genannt ist.

3. Zum Schluss des Briefes ging Humboldt auf ein weiteres Buchprojekt ein: eine Neufassung seiner Pflanzengeographie, deren Herausgabe er plane und von der offenbar bereits Manuskriptteile existierten.[20] Mit seiner "Geographie der Pflanzen" (Partie 5 des Reisewerks, 1807 auf deutsch und französisch erschienen) hatte Humboldt entscheidende Grundlagen für die Konsolidierung einer neuen Disziplin gelegt. 1817 war eine Neubearbeitung als Einleitung der botanischen Partie 6.3 ("Nova genera") publiziert worden, jedoch nur in Latein, so dass ihm an einer Neuausgabe dieses Werks – von dessen Bedeutung er zu Recht überzeugt war – gelegen war. Im Februar 1825 haben Humboldt und Cotta über diese Neufassung, die leider nicht zustande kam, einen Vertrag abgeschlossen.[21]

4. Das überzeugendste Argument für eine Fehldatierung findet sich in einem kleinen Nebensatz, in dem Humboldt Carl Ritter erwähnte, "den wir hier mehrere Wochen besessen". War Ritter im Herbst im Herbst 1824 oder 1825 in Paris?

Es musste also in der glücklicherweise ergiebigen Ritter-Forschung gestöbert werden. Die Ergebnisse waren so interessant, dass sie hier etwas genauer vorgestellt werden sollen, obwohl sie über die eigentliche Thematik hinausgehen. Andererseits illustriert das die oft so spannende Arbeit an einer Edition.

Carl Ritter (1779-1825) war einer der wichtigen Briefpartner A. v. Humboldts, den er bereits seit 1807 kannte. Da die überlieferte Korrespondenz[22] jedoch erst in der 30er Jahren (also lange nach Humboldts Übersiedlung nach Berlin) einsetzt, liefert sie keine Aufschlüsse zum fraglichen Zeitraum 1824/1825.

Ritter lebte seit 1820 in Berlin, lehrte an der Allgemeinen Kriegsschule und der Berliner Universität. Seit 1822 war er Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Regelmäßig unternahm er ausgedehnte Studienreisen, darunter eine in Begleitung seines ehemaligen Zöglings (aus seiner Zeit als Hauslehrer und Erzieher in Frankfurt/Main) August Bethmann-Hollweg im Herbst 1824 nach Paris. Über diese Reise berichtete er in mehreren Briefen an seine Frau[23], der er ausführlich und euphorisch die Stadt, seine Begegnungen und Unternehmungen schilderte, darunter auch die Begegnungen mit Alexander von Humboldt. Humboldt war zu der Zeit gewissermaßen eine Institution, die jeder deutsche Parisreisende aufsuchte. Für die Gespräche, die die beiden Wissenschaftler geführt haben, sind Ritters Tagebücher[24] aufschlussreicher, denn verständlicherweise hat er geographische Probleme in den sonst ausführlichen Briefen an seine Frau ausgeklammert. Leider ist Ritters Handschrift mindestens so schwer lesbar wie Humboldts, vor allem durch den knappen, stichpunktartigen Stil und die vielen Kürzel. Auffallend ist die häufige Verwendung von Ausrufezeichen. Wie die Briefe zeigen, hatte Ritter auf die berauschende Atmosphäre der Weltstadt bei seiner Ankunft in Paris euphorisch reagiert:

Nie hat eine Stadt einen solchen Eindruck auf mich gemacht, wie Paris; weder Berlin, Rom, Venedig sind damit zu vergleichen, Neapel nur in einigen Rücksichten. Man sieht es und hört es und fühlt es, daß man in einer ungeheuren Maschine steckt, in der seltsamsten, welche je die Menschen erfunden, daß man nur ein kleinstes Rädchen derselben ist, das mit herumgerollt wird, weil das Ganze im unaufhaltsamsten Schwunge ist.[25]

Die Schilderung in Ritters Tagebuch[26]  von seinem Besuch bei Humboldt am 14. September 1824 zeigt die Gesprächsthemen:

Zu Humboldt. So hoch hinauf; herrliche Aussicht über die Seine, - er gibt Dr. Macklot[27] Belehrg. üb. d. Barometer – dann mir – über den See Parime – über d. Himalaja-Höhen und s. Correspondenz mit Colebrooke[28] welche Punkte die bestimmten – dann s. System der 4 Querketten – dann s. Entwicklung des Unterschiedes der Schneegrenze in Hochasien – dann s. Arbeiten über die Flüsse in Amerika od. über die Gebirgskette

e. critische Geschichte alles topographischen in Südamerica – alle Materialien ihm mitgetheilt. – [...]

Nun die Kette der Anden in ihrer ganzen Länge

mit den Längenthälern und Seen, die

1) gar keinen Ausfluß haben oder

2) e. SeitenEmission, die keine Erosion seyn kann, und

3. in der Richtung des Längenthals wie d. Amazonenfluß in der Länge des Ganzen – also nicht Wasserspülg sondern aufgebrochen wie e. Druse![29] – merkwürdig

Die 1) Lage von Afrika im Süd v. Europa ist e. Ursache der Wärme von Europa

2) d. Mangel se. Ausdehnung gegen N

3) s. Zersplitterung gegen d. Meer. -

Abb. aus Ritters Tagebuch, in der deutlich die Gebirgsbecken zwischen den beiden Gebirgsketten erkennbar sind.

Zoom

Abb. aus Ritters Tagebuch, in der deutlich die Gebirgsbecken zwischen den beiden Gebirgsketten erkennbar sind.

[Es folgt eine Geschenkliste, darunter Humboldts Profilkarte von Spanien.]

S. Rath üb. die Herausgabe eines Journals.

Ritters Notizen betreffen Themen, die Humboldt gerade beschäftigten, wie die bereits oben geschilderte Gründung einer geographischen Zeitschrift. Sie sind deshalb für die Humboldt-Forschung von Interesse.

Das Thema Barometer war sowohl für Humboldt als auch für Ritter wegen der Höhenmessungen, die in jener Zeit in der Geographie zunehmend benötigt wurden, von besonderer Bedeutung. Humboldt hatte sich mit der Technik und mit dem für die Auswertung verwendeten Kalkül über lange Zeit befasst und Briefe mit den verschiedensten Spezialisten darüber ausgetauscht. Zur Zeit von Ritters Besuch arbeitete Humboldt vermutlich gerade am Text der Lieferung 5 der „Relation historique“ (der ersten Hälfte von Band III der Quartausgabe), die im Sommer 1825 erscheinen sollte.[30] Mehr als zwei Drittel des Textes dieser Lieferung gehören nicht zur eigentlichen Reiseschilderung, sondern enthalten, betitelt mit „Notes...“,  spezielle Essays zu wissenschaftlichen Fragestellungen, darunter zwei über seine barometrischen Messungen in den Tropen.[31] Bereits in der Lieferung zuvor, die 1821  erschienen war, gab es ein Kapitel über den See Parime, der angeblich eine Quelle des Orinoco sei – laut Humboldt eine „Fabel“, die im Zusammenhang mit dem Mythos von „El Dorado“ erzählt wurde.[32]

Ein weiterer separater Text ist der bisher wenig beachtete geognostische Essay[33], der an einen ersten Entwurf aus dem Jahr 1801 anknüpfte. Hier wollte Humboldt, wie er einleitend schrieb, im Gegensatz zu den in der Reiseschilderung nur isolierten Tatsachen eine Zusammenstellung aller geognostischen Ergebnisse darlegen. Ähnliches scheint er nun im Gespräch mit Ritter getan zu haben, denn die Themen wie das System der Anden mit den Querketten bzw. Gruppen, ihre Lage, Höhe und Richtung, die verschiedenen Ursachen der Bildung von Gebirgsbecken, die Richtung der Flüsse und vorhandene Wasserscheiden usw. sind dort ausführlich behandelt: eine Gesamtschau eines Kontinents aus größerer Entfernung, vergleichbar einer Flugsimulation.

Daneben ist das Tagebuch interessant,  weil Ritter zu einer politisch brisanten Zeit Paris besuchte. Der nach langer Krankheit vorauszusehende Tod Ludwigs VIII. und der darauffolgende Regierungsantritt durch Karl X. (Graf Artois u. Herzog von Angoulême, jüngerer Bruder von Ludwig XVIII.) waren Tagesgespräch. Im weiteren Tagebuch schilderte Ritter Humboldts Bemerkungen darüber:

Er kennt Nachricht der König sey sehr übel. Aber noch nicht gestorben. – Humb. sagt er habe noch einmal e. große Comoedie gespielt. Von dem ganzen Hofe d. Sacrement genommen, ungeachtet

er den Comte d'Artois und Duch. d'Angoulême n. ausstehen kann – ihnen die schönsten Sachen gesagt – er selbst sei liberal, jener bigott. Das Ministerium werde sich ändern. Artois habe schon seit einem Monath regiert – H. habe von Chateaubriand[34] durch Alibert[35] gehört wie es mit dem Könige stehe – er werde gewiß nicht 2 Stunden seyn ohne vom Tode des Königs zu hören etc.

Zwei Tage später starb der König. Ritter schilderte in einem Brief an seine Frau vom 17. Sept. die aufgeregten Reaktionen während eines Besuchs bei François Arago:

[...] und um 9 Uhr war es nun Zeit, daß ich mich auf den Weg machte, meine Soirée, zu der ich bei Mons. Arago eingeladen war, zu besuchen. So verkehrt ist hier die Lebensart, daß man sich nun erst in die Gesellschaften begiebt, in denen man bis gegen Mitternacht beisammen bleibt. [...] gegen 11 kam endlich auch Al. v. Humboldt an, und jedermann freute sich auf seine Erzählungen und Berichte: denn Niemand ist hier Beobachter wie er; er hat alles gesehen, er ist schon um 8 Uhr aus, seine Excursionen zu machen; er ist sogleich vom Tode des Königs berichtet [sic! U. L.], er hat alle Aerzte gesprochen, mehre der Ersten des Reichs, er ist bei der Ausstellung der Leiche gewesen, bei den Excessen, die im Palaste vorgefallen, bei den Verhören, er weiß, was in den Circeln der Minister vorgefallen ist, was in der Familie des Königs, er war heute in St. Germain, in Passy, bei so vielen öffentlichen Personen, und kam nun eben mit vollen Taschen, voll der interessantesten Anecdoten, die er mit Witz und Laune auskramte, zurück; es war halb 12 Uhr, man ging zum Theetisch; noch trat ein Fremder ein und brachte die bei Laternenschein und transparenten Affichen eingekaufte Flugschrift von Chateaubriand mit Le Roi est mort, vive le Roi – sie wurde laut verlesen, beurtheilt, darüber debattirt, es war Mitternacht vorbei, die Unterhaltung wurde immer lebhafter, steigend, bis 1 Uhr, wo plötzlich alles aufbrach und nach Hause eilte. Zuerst fuhr ich eine Strecke mit Humboldt, es war eine herrliche, sternenhelle Mondnacht, dann warf ich mich in mein Cabriolet [...] und eilte nach Hause, nach 1 kam ich zur Ruhe.[36]

Diese Zitate aus dem Tagebuch und den Briefen Ritters mögen genügen, um zu zeigen, dass die für eine Edition notwendigen Recherchen neue Facetten zur Humboldt-Forschung beitragen können.

Abschließend sei zum eigentlichen Thema der Datierung des Briefes an Cotta noch angemerkt, dass der Prof. M. Linke mündlich bestätigte, dass ein weiterer Besuch Ritters in Paris im Folgejahr auszuschließen sei. Damit ist zweifelsfrei erwiesen, dass Humboldt diesen merkwürdigen vorauseilenden Irrtum beging.

 


[1] A. v. Humboldt an Johann Friedrich von Cotta Frh. von Cottendorf (1764-1832) und an den Sohn Johann Georg (1796-1843), Marbach, Deutsches Literaturarchiv, Cotta-Archiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung)

[2] Biermann 1977, 240

[3] A. v. Humboldt an J. G. v. Cotta, Berlin, 15.3.1841, SNM/DLA, Cotta-Archiv, Marbach

[4] s. Biermann 1968

[5] Briefpost

[6] A. v. Humboldt an J. G. v. Cotta, Paris , 1. 7. 1825, SNM/DLA, Cotta-Archiv, Marbach

[7] Der Botaniker Karl Sigismund Kunth, Koautor an den botanischen Bänden des amerikanischen Reisewerks, lebte zeitweise wegen der Auswertung der Bonplandschen Herbarien in Paris, wo sich Humboldt seit 1807 aufhielt.

[8] Neugebauer-Wölk 1989, 573

[9] Humboldt-Nachlass, Biblioteka Jagiellonska, Kraków (Polen)

[10] Lohrer 1959, 102

[11] Die Korrespondenz mit Christian Gottfried Ehrenberg, herausgegeben von A. Jobst (A. v. Humboldt-Forschungsstelle Berlin), erscheint demnächst.

[12] Biermann ging davon aus, dass Humboldt  ca. 50000 Briefe insgesamt geschrieben (wovon etwa 35 000 als verschollen gelten müssen) und  mehr als doppelt so viele empfangen hat (Biermann 1981, 230).

[13] nicht überliefert

[14] H am Rand: dieses Anschliessen [hat] |ist H ändert Hrsg.| es dem Hause Levrault möglich gemacht nach dem die quart und folio Ausgabe der Nova genera über 180 000 francs gekostet, noch eine dritte Ausgabe in 8vo zu veranstalten.

[15] Der Geologe Karl Friedrich Hoffmann Vollrath (1797-1836) und der Geograph Heinrich Berghaus (1797-1884) waren Mitarbeiter Cottas bei der Herausgabe der Hertha.

[16] A. v. Humboldt an J. F. von Cotta, Paris ,  SNM/DLA, Cotta-Archiv, Marbach, 53

[17] Zum Begriff Geognosie bei Humboldt, der dann in den der Geologie überging, s. Pieper 2006

[18] Vgl. Leitner 1994             

[19] Vgl. Engelmann 1964

[20] An dieser Stelle muss auf eine weitere Schwierigkeit, die nur kurz einleitend erwähnt wurde, hingewiesen werden: die schwer zu entziffernde Handschrift Humboldts. Es ist einer der seltenen Fälle, wo nicht entschieden werden konnte: handelt es sich um ein Manuskript, das "nicht vollendet" oder "fast vollendet" ist? Da auch ein fast vollendetes Manuskript ein nicht vollendetes ist, ist die wahrscheinlichere Lesart gewählt worden. Leider ist ein derartiges Manuskript – sollte es wirklich schon existiert haben – bisher in keinem Archiv aufgetaucht.

[21] Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Humboldt, Gr. Kasten 6, Nr. 42

[22] Eine Edition der größtenteils bisher unpublizierten Briefe ist ebenfalls  geplant.

[23] Kramer 1875

[24] Die Tagebücher liegen im Klopstockhaus in Quedlinburg (Ritters Geburtsstadt) und sind bisher nur in geringen Auszügen publiziert in Schmoldt 1983, 199. Ich bedanke mich bei Brigitte Meixner für die freundliche Hilfe durch Recherche in den Tagebüchern und Übersendung der entsprechenden Seiten.

[25] Kramer 1875, 177

[26] Städtische Museen Quedlinburg / Klopstockhaus, Tagebuch Carl Ritters V/759/S, S. 38

[27] Vermutlich der Arzt Wilhelm Friedrich Macklot aus Karlsruhe (1777-1845). Information von Angelika Sauer, Stadtarchiv Karlsruhe.

[28]  Humboldts Briefwechsel mit dem britischen Botaniker und Sanskritforscher Henry Thomas Colebrooke (1765-1837) ist enthalten in Humboldt 1869, 168ff. Ein Schreiben Humboldts vom 11.5.1824 und Colebrookes Antwort sind hier thematisch einander gegenüber gestellt, betr. die Themen Gebirgshöhen allgemein und höchste Berge, Schneegrenzen und das Zentralplateau von Asien.

[29] Hohlraum in Gestein

[30] Fiedler/Leitner 2000, 75

[31] „Observations faites pour constater la marche des variations horaires du baromètre sous les tropiques, depuis le niveau de la mer jusque sur le dos de la Cordillère des Andes » (S. 270-312) und « Hauteur moyenne du baròmetre a niveau du mer, sous les tropiques » (S. 313-134).

[32] Humboldt nahm dieses Thema in einer längeren Fußnote erneut in die 1826 erschienene 2. Ausgabe der „Ansichten der Natur“ auf.

[33] „Esquisse d’un tableau géognostique de l’Amérique méridionale, au nord de la rivière des Amazones et à l’est du méridien de la Sierra Nevada de Mérida. » (S. 188-268) Nicht zu verwechseln mit dem « Essai géognostique » von 1823 (Fiedler/Leitner 2000, 344), der die Lagerung und Schichtung der Gesteine beinhaltet, also inhaltlich von diesem Text wesentlich verschieden ist. 

[34] François René Chateaubriand (1768-1848), französischer Schriftsteller und Publizist, liberaler Politiker, unter Ludwig XVIII. in der französischen Regierung, zeitweise Botschafter auch in Berlin. Von seinem kurzzeitigen Amt als Außenminister wurde er durch Karl X. entlassen.

[35] Vermutlich der Dermatologe Baron Jean-Louis Alibert (1768-1837).

[36] Kramer 1875, Bd. 2, 185-186, s. auch Beck 1959, 81.

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Letzte Aktualisierung: 24 April 2008 | Kraft
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