Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009 |
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Christian Suckow
BerlinPrinz Humboldt
Gewidmet der Bearbeiterin Humboldtscher Reiseschilderungen,
Frau Dr. Margot Faak, zum 80. Geburtstag.„Eine sibirische Reise ist nicht entzückend wie eine Südamerikanische, aber man hat das Gefühl etwas Nüzliches unternommen und eine grosse Länderstrecke durchreist zu haben.“[1] Man kann diesen Satz, ohne Humboldt Lügen zu strafen, auch umkehren: Bei aller Genugtuung über den mühsam erarbeiteten wissenschaftlichen Ertrag hat eine Sibirienreise doch auch ihre Annehmlichkeiten. Humboldt wußte die ihm während seiner russischen-sibirischen Reise unentwegt entgegengebrachten Aufmerksamkeiten und Ehrungen durchaus zu schätzen, ja verzeichnete sie nicht selten mit der ihm eigenen moderaten Eitelkeit, etwa in Reisebriefen an seinen Bruder Wilhelm. In solchen Momenten wird die wissenschaftliche Expedition zur Episode, ja zur Anekdote. Dem Brief an den Bruder, dem das Eingangszitat entnommen ist, ist gleichsam als Motto vorangestellt: „Ein Ball von dem ich komme und wo ich habe eine Quadrille tanzen müssen!!“[2]
Nun lassen sich die grandiosen wissenschaftlichen Reisen Humboldts gewiß nicht ins Episodische und Anekdotische auflösen, aber im ureigensten Sinne ist jede Reise ja doch zu allererst Ablauf, Geschehen, Erlebnis, eben: Episode gereiht an Episode – und dies gilt natürlich auch für die großen Humboldtschen Reisen, ja vielleicht für sie in ganz besonderem Maße. Humboldt als der Klassiker der ‚Reiseforschung’, eines naturgeschichtlichen Erkundens, das fortschreitend zum naturwissenschaftlichen Forschen wird, aber stets aus dem Quell der Autopsie und Empirie auf Reisen gespeist wird. Es ließe sich der Satz aufstellen: Alles bei Humboldt kommt aus dem Reiseerlebnis und strebt im Werk dorthin zurück. Nicht im vordergründigen Sinne der Beschreibung von Reisegeschehen und -erlebnis, sondern als Zusammenschau, für die die Reise den Referenzrahmen bildet. Es ist inzwischen genug darüber reflektiert worden, wie der Bezug auf die jeweilige Reise im Fluß der wissenschaftlichen Darstellung bei Humboldt immer aufs neue hergestellt wird, und umgekehrt. Negativ als ‚Brüchigkeit’ seines Schreibens kritisiert, positiv als bildhafte Zusammenschau eines gleichsam erlebten ‚Naturgemäldes’ apostrophiert. Was ist sein ‚Kosmos’, in dem er selbst sein Lebenswerk unter Verzicht auf eine streng verfolgte Systematik wie in einem alles umfassenden ‚Naturgemälde’ aufgipfeln sah, anderes als eine Reise durch eben den Kosmos der zu seiner Zeit bekannten Welt ...
Hier nun soll nicht die Rede vom ‚Kosmos’ sein, sondern von einer eng einzugrenzenden Episode Humboldtschen Reisens, dem Besuch nämlich eines Hüttenwerkes namens Syssertski in der Umgebung von Jekaterinburg im Ural auf der russischen Reise von 1829, und zwar am 22. oder 23. Juni. Die Stationen der Humboldtschen Rußlandreise sind häufig auf Tag und Stunde genau zu datieren, da ist die Quellenlage günstig, obgleich es von Humboldt selbst bekanntlich keine Beschreibung der Reise gibt; in diesem Falle aber ist die geringfügige Unschärfe des Datums nicht auflösbar. Das hat seinen eigenen Grund: Weder der gewissenhafte Chronist der Reise, Gustav Rose[3], noch Nikolai Stepanowitsch Menschenin, der offizielle russische Berichterstatter[4], noch etwa Humboldt selbst haben mit irgendeiner Bemerkung des Besuches in der fraglichen Eisenhütte gedacht.
Fest steht – nach Rose und Menschenin – hingegen, daß vom 22. bis 24. Juni eine jener Exkursionen vom Standquartier in Jekaterinburg aus unternommen wurden, die Humboldt und seine Begleiter in die nähere Umgebung der damaligen Uralmetropole führte, noch ehe man zu der großen dreiwöchigen Exkursion in den Norden aufbrach, die die Reisenden mit dem Ural auf größere Strecken bekannt machte. Wie überall im Ural ging es Humboldt auch auf dieser Exkursion um die Besichtigung von Gruben, Seifenlagerstätten, Steinbrüchen und Hütten, und so stand denn ein Besuch der Kupfer- und Malachitgrube Gumeschewski (heute Sjuselski) und des benachbarten Hüttenwerkes Polewskoi, etwa 50 Werst im Südwesten von Jekaterinburg gelegen, auf dem Programm.
Bei der Hütte Polewskoi handelt es sich nun nicht um jene in den bekannten Berichten unerwähnte Eisenhütte Syssertski. Aber der Reihe nach: Man brach am 22. Juni in Jekaterinburg in Begleitung des Berghauptmanns und Leiters des Bergamtes Jekaterinburg Ossipow und eines sachkundigen Mitinhabers der Gumeschewsker Grube namens Solomirski auf, querte das ausgedehnte, waldreiche Plateau im Süden von Jekaterinburg, wechselte in einem Dorf Gornoschitskoje die Pferde und besichtigte, 15 Werst weiter, große Marmorbrüche nebst der angeschlossenen Marmorschleiferei Mramorski. Auf dem weiteren Weg nach Polewskoi, dem Ziel dieses Tages, wurden noch einer Goldseife und einem Marmorbruch bei Kossoi Brod kurze Visiten abgestattet. Erst spät abends trafen die Reisenden in Polewskoi ein.
Am nächsten Tag war ein großes Programm zu bewältigen. Auf dem Wege nach Gumeschewski wurde zunächst das Goldseifenwerk Shelesinski besichtigt. Die Reisenden wurden dorthin von A. I. Schmakow begleitet, einem leitenden Angestellten jener Eisenhütte Syssertski. Dort, 40 Werst östlich von Polewskoi, befand sich das Verwaltungszentrum der Gruben, Seifen und Hütten, die in dieser Gegend südlich Jekaterinburg konzentriert waren. Die Produktionsstätten waren um die Mitte des 18. Jahrhunderts in den Besitz der Familie Turtschaninow gekommen und hatten sich zu profitreichen Unternehmen entwickelt; sie waren Eigentum eines Kreises von Erben, zu denen auch der erwähnte Solomirski gehörte.
Die Kupfergrube Gumeschewski fand man inmitten von tannenbewaldeten Hügeln. In den tiefen Schacht stieg Humboldt auf Leitern ab, während ein Teil seiner Begleiter, darunter auch Rose, in Förderkörben einfuhren, die ein von Pferden angetriebener Göpel in Gang setzte. Am Nachmittag nach Polewskoi zurückgekehrt, besichtigten die Reisenden hier noch die Kupferhütte, eine Hochofenanlage und eine Mineraliensammlung.
Dies alles läßt sich den erwähnten klassischen Berichten über Humboldts Rußlandreise entnehmen. In Vergessenheit geraten sind hingegen die Aufzeichnungen eines russischen Zeitzeugen, wonach Humboldt anläßlich dieser nach Polewskoi führenden Exkursion auch in Syssertski, eben der erwähnten Haupthütte der Turtschaninowschen Werke, gewesen sein soll. Dieser Zeitzeuge war I. A. Schmakow, der Sohn jenes A. I. Schmakow, der Humboldt auf einem Teilabschnitt der Exkursion begleitete. Im Gegensatz zu Roses Schilderung des Exkursionsablaufs sei Humboldt mit seiner Begleitung von Jekaterinburg aus zunächst nach Syssertski und dann von dort weiter nach Polewskoi gefahren. Bis auf diesen zweifelhaften Sachverhalt stimmt Schmakows Bericht in bezug auf den weiteren Ablauf der Exkursion aber mit der von Rose gegebenen Schilderung im wesentlichen überein. Soweit also der Aufenthalt in Polewskoi und Umgebung in Frage kommt, ist es daher ausgeschlossen, daß es sich hier um eine andere als die von Rose beschriebene Exkursion handelt. Denkbar wäre, daß Humboldt ein andermal von Jekaterinburg aus nach Syssertski gefahren ist und Schmakow dies bei der Aufzeichnung seiner Erinnerungen Jahrzehnte später fälschlich mit der Exkursion nach Polewskoi in Zusammenhang gebracht hat. Das würde bedeuten, daß Rose eine solche Fahrt nach Syssertski in seinem Bericht übergangen hat. In der Tat hat er nicht lückenlos über alle Unternehmungen während des langen Aufenthaltes in Jekaterinburg berichtet. Daß der Besuch in Syssertski weder von Rose noch von Humboldt noch in irgendeiner seit 1829 bekannten Quelle zur Humboldtschen Rußlandreise erwähnt ist, hatte zur Folge, daß sich auch in der Sekundärliteratur, voran die quellennahe Schilderung der Rußlandreise durch Hanno Beck[5], diese Reiseepisode bis heute nicht erwähnt findet.
Nun war I. A. Schmakow, wie er selbst berichtet, bei der Begegnung mit Humboldt 1829 erst neun Jahre alt. Das ist in Betracht zu ziehen, schließt aber Glaubwürdigkeit seiner Aufzeichnungen nicht grundsätzlich aus, um so weniger, als es die erwähnten Übereinstimmungen mit Rose gibt. Und es ist zu bedenken, daß die Dinge der sinnlichen Wahrnehmung gerade in dem Alter, in dem der Berichtende damals stand, sich ja besonders fest, genau und unverrückbar einzuprägen pflegen, so daß uns hier durchaus eine Quelle von bemerkenswerter Authentizität vorliegen mag. Jedenfalls gibt der Schmakowsche Bericht ein recht glaubhaftes und höchst anschauliches Bild von einem für Humboldt durch eine lokale Hüttendirektion veranstalteten Empfang, wie er ihm ähnlich mehrfach während der Reise zuteil geworden ist.
Es sei zitiert:[6]
„[...] ein Kosakenkonvoi mit einem Offizier gaben Humboldt überall das Geleit. Die Kosaken ritten elegant vor und hinter der langen Reihe von Kutschen [...] Humboldt wurde von zahlreichen Angehörigen des Werkes mit lauten Hurrarufen begrüßt. Sie liefen hinter den Equipagen her und nannten ihn sofort Prinz Humboldt.“ Schmakow weist auf die Gründe für diese spontane Rangzuschreibung hin: Man war erstaunt über die ungewöhnliche Aufmerksamkeit und die Ehren, die Humboldt von den uralischen Behörden erwiesen wurden; das sprach sich herum, und „alle wollten in ihm nicht nur einen gelehrten Reisenden, sondern unbedingt auch eine hohe Persönlichkeit, und zwar den Prinzen Humboldt, sehen.“
Dann aber der Empfang durch die Direktion selbst:
„Keiner von den Besitzern war zu jener Zeit in Syssertski, und deshalb wurde er von Mitgliedern der Verwaltung und einigen Bergbauingenieuren des Werkes empfangen [...] Nach der Besichtigung [der Eisenhütte – d.Verf.] nahm er die Einladung meines Vaters an und sah sich bei uns in der Wohnung eine Mineraliensammlung an [...] Danach begab sich Humboldt mit seiner ganzen Suite zum Mittagessen, das für ihn in einem alten luxuriösen Haus der Bergbaubesitzer veranstaltet wurde.
Obwohl dies sehr lange her ist und ich zu jener Zeit erst 9 Jahre alt war, kann ich mich gut an die majestätische und schöne Gestalt Humboldts erinnern. Er war damals etwa 60 Jahre alt, aber seine Frische, seine Kraft und Gesundheit waren bemerkenswert. Seine grauen, aber dichten Haare waren kurz geschnitten, er trug einen Frack aus himmelblauem Tuch mit goldenen Knöpfen und irgendeinem Ordensstern. Die Hosen fielen auf kurze lackierte Stiefel herab, in den Händen hatte er einen schwarzen Hut mit breiter Krempe. Humboldt sprach ständig und mit großer Lebhaftigkeit französisch. [...]
Es war ein Paradeessen, aber ich gehörte, obwohl ich noch so jung war, zu den Tischgenossen. Die meisten waren Bergbauingenieure in den prächtigen Paradeuniformen jener Zeit. Diese waren blau mit schwarzem Samtkragen und schöner Goldstickerei.
Neben dem Besteck Humboldts lag unter einer Serviette ein vor kurzem gefundenes Stück Gold. Dieses Stück Gold, durchzogen von Quarzadern, war sehr schön und hatte die Form eines flachen Tellers oder, besser gesagt, eines Fladens. Dieses teure Geschenk, das etwa 9 Pfund[7] wog, wurde dem berühmten Reisenden mit Erlaubnis der Bergbauobrigkeit gemacht, und zwar im Namen der Werkbesitzer.
Während des recht langen Essens wurden in französischer Sprache die ich nicht beherrsche, lebhafte Gespräche geführt. Humboldt sprach laut, viel und sehr lebhaft. Er trank nur Wasser, das er ganz leicht mit Wein färbte.
Nach dem Mittagessen wurde Tee getrunken, den Humboldt sehr liebte.“
Soweit die Erinnerungen Schmakows an den bewunderten Humboldt.
Übrigens skizziert Schmakow auch die Erscheinung Roses und zieht einen Vergleich mit der „majestätischen und schönen Gestalt“ Humboldts: „Die Gestalt seines gelehrten Begleiters Gustav Rose war nicht minder bemerkenswert, und zwar durch ihre Komik. Er war von mittlerem Wuchs, hager, rothaarig und trug Frack und Hosen gleichfalls in rötlicher Farbe.“ Dies mag nun die Optik des Knaben als eine ganz subjektive gewesen sein. Denn auch Rose gegenüber obwaltet in den zeitgenössischen Berichten sonst Respekt, und von Komik ist gewöhnlich nicht die Rede.
Sonst aber treffen die Erinnerungen Schmakows schlagend charakteristische Züge Humboldts, ihn nicht nur als den Rußlandreisenden genommenen, den der Neunjährige sah, sondern als Persönlichkeit und Gelehrten mit unverwechselbar eigenen Verhaltensweisen und Interessen. Der blaue Frack, den er auf der Rußlandreise trug, das unentwegte Parlieren und der vorsichtige Genuß von Wein, sparsam nur einem Glas Wasser zugesetzt, sind Humboldt-typische Charakteristika, von Zeitzeugen nicht nur einmal berichtet. Und dann der Goldfladen unterm Teller! Hier ist der Berichtende mit einem Schritt im Zentrum des Humboldtschen Gelehrten-Interesses: Gold stand bekanntlich im Vordergrund Humboldtscher Aufmerksamkeit nicht nur auf der Rußlandreise, sondern lebenslang seit seinem beruflichen Beginn als Bergmann im Bayreuthischen, und zwar als Objekt lagerstättenkundlicher Erforschung beider Hemisphären der Erde wie auch weltweiter monetär-volkswirtschaftlicher Untersuchungen. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden, es genüge der Hinweis, daß die russische Seite wohl wußte, womit sie Humboldt eine besondere Freude machen konnte. Fast an jedem der russischen Bergbauorte, die Humboldt besuchte, wurden ihm Mineralgeschenke gemacht, und hier in Syssertski war es eben das so geschätzte Gold. Daß er diese Geschenke nicht für sich persönlich beanspruchte, sondern den Königlichen Sammlungen in Berlin überließ, weiß man.
Schließlich und endlich bringt der Schmakowsche Bericht einen weiteren Beleg für die durch Alexander Herzen liebenswürdig-ironisch überlieferte Titulierung Humboldts als ‚Prinz Gumplot’ (die Verunzierung des Namens so bei Herzen)[8], die die volkstümliche russische Fama dem berühmten Reisenden andichtete. Die Episode, in der der ‚Prinz Gumplot’ figuriert, wie es Herzen berichtet, möge bei diesem nachgelesen werden. Hier sei nur gemutmaßt: Wenn im öffentlichen Bewußtsein von Voraussetzungen, Zielen und wissenschaftlichen Ergebnissen der russisch-sibirischen Reise Humboldts nichts haften bleiben sollte, so dürften doch Episoden, wie sie Alexander Herzen und eben unser neunjähriger Kronzeuge Schmakow berichtet haben, im Gedächtnis Wurzel schlagen.
[1] Brief A. v. Humboldts an seinen Bruder, Jekaterinburg, 21.6.1829. In: Humboldt 1880, S. 186.
[2] Ebd., S. 185.
[3] Mit dem Reisewerk Rose 1837-1842.
[4] N. S. Menschenins Reisebericht wurde in deutscher Übersetzung von H. Petzschner veröffentlicht: Petzschner 1960.
[5] Beck 1983.
[6] Alle Zitate Šmakov 1898, S. 224 f. Übersetzung aus dem Russischen: Leo Gurwitsch.
[7] Russische Pfund zu 409,5 g.
[8] Herzen 1962. Bd. 1, S. 160.
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