Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009 |
---|
______________________________________________________
Ottmar Ette
Universität PotsdamUnterwegs zu einer Weltwissenschaft?
Alexander von Humboldts Weltbegriffe und die transarealen Studien1. Weltbegriffe
In einem seiner letzten Essays hat der unvergessene Ulrich Schulz-Buschhaus auf humorvolle Weise »Anleitungen zum tadellosen Sprachgebrauch« gegeben, an deren Ende der Romanist in der Manier des Dictionnaire des idées reçues eines Gustave Flaubert eine Reihe von Ausdrücken und Wendungen verzeichnete, von deren "Karriereförderlichkeit"[1] er sich überzeugt zeigte. Dort finden wir nicht nur unter dem Stichwort »Eurozentrismus« den knappen Eintrag "Undurchschaut"[2], unter jenem der »Globalisierung« den Hinweis "Zu Unrecht gefürchtet; Prämisse von Individualisierung; Produktivkraft neuer Literatur"[3] sowie unter »Weltwissen« die Erläuterung "Synthese von Biologie und Computersimulation"[4]. Wir erfahren dort auch, daß unter der Kürzel DFG die "Deutsche Agentur von Weltwissen"[5] zu verstehen sei.
Ob die Bezüge zwischen den beiden zuletzt genannten Einträgen einen Hinweis auf die weitere Kanalisierung von DFG-Fördergeldern zur bevorzugten Erzeugung von Weltwissen geben, möchte ich als Angehöriger der von Schulz-Buschhaus mitbedachten Geisteswissenschaften - "In seit langem schwelender Legitimationskrise befangen; erfordern ein neues Paradigma"[6] - hier bewußt offenlassen. Immerhin darf man sich im Rahmen einer mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Tagung - die laut Dictionnaire stets "Hochkarätig besetzt"[7] ist - am Bielefelder Institut für Weltgesellschaft sehr wohl fragen, welchen Beitrag die unterschiedlichen Disziplinen zum »Weltwissen« geleistet haben und inwieweit wir in der Tat einer schleichenden semantischen Verengung von Weltbegriffen beiwohnen. Denn ähnlich, wie der Lebensbegriff in der aktuellen Gleichsetzung der Lebenswissenschaften mit den Biowissenschaften auf eine Schwundstufe dessen geschrumpft ist, was der Begriff bios seit der griechischen Antike unter Einschluß der kulturellen, politischen oder sozialen Dimensionen in seiner ganzen Breite meinte, sollte auch die insbesondere seit dem 11. September 2001 im politischen Diskurs westlicher Staatsmänner, aber auch in den Massenmedien beobachtbare semantische Einengung des Begriffs »Weltgemeinschaft« auf die Erste Welt (nebst einiger »Staaten guten Willens«) nachdenklich machen. Längst schon haben wir uns an die Tatsache gewöhnt, daß unter »Amerika« die USA und unter der philologischen »Amerikanistik« eine Vereinigte-Staaten-von-Amerikanistik (und gerade nicht die Beschäftigung mit den Kulturen, Sprachen und Literaturen eines ganzen Kontinents) zu verstehen sind. Müßten wir uns folglich nicht zuallererst einer Frage stellen, die keineswegs eine Allerweltsfrage ist: Wer bestimmt, was Welt ist?
Wir sollten uns folglich bewußt machen, von welcher Welt aus wir über die Welt sprechen. Vor diesem Hintergrund läßt sich Weltwissen - wie die Komposita anderer Weltbegriffe auch - semantisch unterschiedlich perspektivieren, je nachdem, ob wir es als genitivus obiectivus (als Wissen, das wir von der Welt haben), als genitivus subiectivus (als Wissen, das die Welt von sich selbst entwickelt), als genitivus possessivus (als Wissen, das sich im Besitz der Welt befindet), als genitivus partitivus (als ein Wissen, das Teil eines übergeordneten Ganzen ist), als genitivus qualitatis (als Wissen in seiner Weltgebundenheit) oder als genitivus explicativus (als Wissen, das in seinem Bezogensein auf die Welt erläutert wird) verstehen. Damit zeichnet sich implizit eine mehrfach gestaffelte Polysemie des Lexems »Welt« ab, innerhalb derer sich aus der hier gewählten Perspektive zunächst drei Isotopien voneinander unterscheiden lassen. Begriffsbildungen wie »Weltall« - das seit dem 17. Jahrhundert als Ersatzwort für lat. universum gebildet wurde - oder »Weltraum« besitzen einen galaktischen, kosmischen beziehungsweise universalen Sinn, wobei nicht vergessen werden sollte, daß in das Lexem »Welt« das germanische *wera- für »Mann«, »Mensch« eingegangen ist[8], so daß »Welt« zumindest etymologisch immer schon menschhaltig ist. Neben dieser über die Grenzen des Planeten Erde weit hinausgreifenden Isotopie läßt sich eine zweite Bedeutungsebene von globalem, planetarischem Zuschnitt ausmachen, die wir etwa anhand von Begriffen wie »Weltgesellschaft«, »Welthandel, »Weltverkehr«, aber auch »Weltgeschichte«, »Weltgemeinschaft« und »Weltliteratur« nachweisen können. Wie stark semantische Reduktionen im Sinne einer Einengung auf ganz bestimmte (okzidentale) geschichtliche Entwicklungen, staatliche Akteure oder (alphabetische Schrift-) Kulturen hier zum Tragen kommen können, läßt sich durch eine Vielzahl von Beispielen unschwer aufzeigen. Zugleich kann diese global definierte Bedeutung leicht mit einer qualitativen Einfärbung versehen werden, wie sich dies schon früh in der Goetheschen Prägung des Begriffs »Weltliteratur« und in dessen Verwendung bis heute zeigen läßt, eine Semantisierung, die sich in Begriffen wie »Weltklasse« oder »weltmeisterlich« zu einer eigenen, hier jedoch nicht weiter verfolgten Isotopie konstituiert. Neben der kosmischen und der planetarischen Isotopie existiert aber eine räumlich weit weniger konkretisierte Verwendung des Lexems »Welt«, wie wir sie beispielsweise im stark philosophisch geprägten Begriff der »Weltanschauung« vorfinden. Die Entfaltung eines galaktischen oder globalen Raumverständnisses ist in diesem Begriff nicht vorausgesetzt. Ein spatial reflektiertes Verständnis ist zwar auch in der Philosophie nicht schädlich, doch beruht eine »Weltanschauung« nicht notwendig auf einer empirisch fundierten »Welterfahrung« oder »Weltkenntnis«, sondern abstrahiert in der abendländischen Tradition nur allzu häufig von den konkreten raumzeitlichen - wie auch kulturellen, politischen oder sozialen - Voraussetzungen der eigenen Schau, des eigenen Entwurfs.
Wie und mit Hilfe welcher Verfahren wird uns im Abendland von der Welt erzählt? Im ersten, der »Narbe des Odysseus« gewidmeten Kapitel seines zwischen Mai 1942 und April 1945 im Istanbuler Exil verfaßten Bandes Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur hat Erich Auerbach versucht, der Welt Homers kontrastiv und vergleichend die Welt der Bibel gegenüberzustellen. Der "biblische Erzählungstext", so Auerbach, wolle uns
ja nicht nur für einige Stunden unsere eigene Wirklichkeit vergessen lassen wie Homer, sondern er will sie sich unterwerfen; wir sollen unser eigenes Leben in seine Welt einfügen, uns als Glieder seines weltgeschichtlichen Aufbaus fühlen. Dies wird immer schwerer, je weiter sich unsere Lebenswelt von der der biblischen Schriften entfernt [...]. Wird dies aber durch allzustarke Veränderung der Lebenswelt und durch Erwachen des kritischen Bewußtseins untunlich, so gerät der Herrschaftsanspruch in Gefahr [...]. Die homerischen Gedichte geben einen bestimmten, örtlich und zeitlich begrenzten Ereigniszusammenhang; vor, neben und nach demselben sind andere, von ihm unabhängige Ereigniszusammenhänge ohne Konflikt und Schwierigkeit denkbar. Das Alte Testament hingegen gibt Weltgeschichte; sie beginnt mit dem Beginn der Zeit, mit der Weltschöpfung, und will enden mit der Endzeit, der Erfüllung der Verheißung, mit der die Welt ihr Ende finden soll. Alles andere, was noch in der Welt geschieht, kann nur vorgestellt werden als Glied dieses Zusammenhangs [...].[9]
Die Tatsache, daß Erich Auerbach, der einer »Philologie der Weltliteratur«[10] auf der Spur war, die homerische und die alttestamentarisch-biblische Welt als die beiden fundamentalen Ausgangs- und Bezugspunkte begriff, deren Kräftefelder die dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur bis in die Gegenwart prägen, führt den Philologen zur Einsicht in eine auf den ersten Blick paradoxe Struktur:
Das Alte Testament ist in seiner Komposition unvergleichlich weniger einheitlich als die homerischen Gedichte, es ist viel auffälliger zusammengestückt - aber die einzelnen Stücke gehören alle in einen weltgeschichtlichen und weltgeschichtsdeutenden Zusammenhang.[11]
Folglich entspreche der raumzeitlich eng begrenzten Fragmenthaftigkeit von Ilias und Odyssee eine große erzählerische Geschlossenheit, während umgekehrt die einheitliche "religiös-weltgeschichtliche Perspektive"[12] des Alten Testaments sich auf der Textebene in einer gleichsam zusammengestückelten Fragmentarität niederschlage. Die häufig untersuchte Dialektik von Fragment und Totalität[13] wird in diesen Eingangspassagen von Auerbachs Mimesis von einer nicht minder wirkungsmächtigen Wechselbeziehung zwischen - wie sich formulieren ließe - raumzeitlicher Begrenztheit und raumzeitlicher Entgrenzung sowie von lebensweltlich fundierter Geschichtenwelt und religiös fundierter Weltgeschichte komplettiert. Für unsere Fragestellung ist die Tatsache aufschlußreich, daß sich die weltgeschichtliche Dimension nicht nur mit einem Herrschaftsanspruch verbindet, der selbst die räumlich und zeitlich entferntesten Phänomene auf die eigene (Heils-) Geschichte zu beziehen sucht, sondern sich aus einer Abstraktion von konkreten raumzeitlichen Bedingungen entfaltet.
Wollte man Alexander von Humboldts Kosmos, dessen ersten Band der preußische Gelehrte 1845 im Alter von fünfundsiebzig Jahren veröffentlichte, und dessen fünfter und letzter Band 1862 - nach Humboldts Tod im Jahre 1859 - erschien, als eine »große Erzählung« im Sinne von Jean-François Lyotard verstehen, so ließe sich die These vertreten, daß diese Summa des Humboldtschen Weltwissens an eben jenen beiden Kräftefeldern und Erzählsträngen partizipiert, die laut Auerbach die Darstellung von Wirklichkeit und die Repräsentation von Welt in der abendländischen Literatur prägen. Dem "tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt"[14], lag nicht erst seit der Niederschrift dieser auf den 27. Oktober 1834 datierten Zeilen an Varnhagen von Ense die Vorstellung von einem weltgeschichtlichen Expansionsprozeß zu Grunde, dem sich noch Humboldts eigene Reise nach Amerika zuordnen läßt. So heißt es im zweiten, 1847 erschienenen Band seines Kosmos:
Was aber, wie schon oft bemerkt worden, die geographische Lage des Mittelmeers vor allem wohlthätig in ihrem Einfluß auf den Völkerverkehr und die fortschreitende Erweiterung des Weltbewußtseins gemacht hat, ist die Nähe des in der kleinasiatischen Halbinsel vortretenden östlichen Continents; die Fülle der Inseln des ägäischen Meeres, welche eine Brücke für die übergehende Cultur gewesen sind; die Furche zwischen Arabien, Aegypten und Abyssinien, durch die der große indische Ocean unter der Benennung des arabischen Meerbusens oder des rothen Meeres eindringt, getrennt durch eine schmale Erdenge von dem Nil-Delta und der südöstlichen Küste des inneren Meeres. Durch alle diese räumlichen Verhältnisse offenbarte sich in der anwachsenden Macht der Phönicier und später in der der Hellenen, in der schnellen Erweiterung des Ideenkreises der Völker der Einfluß des Meeres, als des verbindenden Elementes.[15]
Die weltgeschichtliche Entwicklung, die für Humboldt vom Mittelmeer ihren Ausgang nimmt, ist gewiß in einem sehr weitreichenden Maße desakralisiert, enthält aber noch immer manche Spuren jener Transzendenz, die sich in der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes just aus dem hier umrissenen geokulturellen Raum des östlichen Mittelmeeres entfaltete. Nicht umsonst konnte Humboldt in seinen Schriften immer wieder auf die göttliche Commedia verweisen und Verse Dantes zitieren, sollten in Humboldts Kosmos doch nicht weniger als bei dem großen Dichter und Demiurgen "Himmel und Erde, alles Geschaffene"[16], die ganze Weltschöpfung in ihrer Vielfalt, jede "große und wichtige Idee, die irgendwo aufgeglimmt", neben einer unendlichen Vielzahl unterschiedlichster "Thatsachen hier verzeichnet" und zugleich "eine Epoche der geistigen Entwicklung der Menschheit (in ihrem Wissen von der Natur)" dargestellt sein[17]. Im selben Brief von 1834 machte Humboldt auf seine eigenen, zunächst in französischer Sprache verfaßten Anläufe zum Kosmos sowie auf jene ins Mittelalter zurückreichenden Traditionen aufmerksam, die in seinem Werk auf erstaunliche Weise lebendig blieben:
Ich hatte vor 15 Jahren angefangen, es französisch zu schreiben, und nannte es Essai sur la Physique du Monde. In Deutschland wollte ich es anfangs das Buch von der Natur nennen, wie man dergleichen im Mittelalter von Albertus Magnus hat. Das ist alles aber unbestimmt. Jetzt ist mein Titel: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung von A.v.H.[...]. Ich wünschte das Wort Kosmos hinzuzufügen, ja die Menschheit zu zwingen das Buch so zu nennen, um zu verhindern, daß man nicht H.'s physische Erdbeschreibung sage, was denn das Ding in die Klasse der Mittersacher'schen Schriften werfen würde. Weltbeschreibung (nach Weltgeschichte geformt) würde man als ungebräuchliches Wort immer mit Erdbeschreibung verwechseln.[18]
Um eine (in heutiger Terminologie als geographisch zu bezeichnende) Erdbeschreibung war es Alexander von Humboldt gerade nicht zu tun. Es sind gerade die Neologismen bei diesem an Wortneuschöpfungen eher zurückhaltenden Schriftsteller und Gelehrten, die auf die bewußte Polysemie der Weltbegriffe in seinem Denken und Schreiben aufmerksam machen. Die Humboldtschen Begriffe von »Weltbeschreibung« und »Weltbewußtsein« schließen eine planetarische Dimension mit ein, bleiben aber nicht auf diese beschränkt. Die kosmische Isotopie ist in seinen Weltbegriffen ebenso präsent wie ein abstraktes Verständnis von Welt bei ihm stets gegenwärtig ist. Die Kopräsenz der drei hier unterschiedenen Isotopien weist zugleich auf die Spezifik seiner Begrifflichkeit hin, insofern auch Begriffe wie »Weltanschauung« bei Alexander von Humboldt stets empirisch fundiert sind, ohne jedoch auf die empirische Er-Fahrung des Weltreisenden beschränkt zu bleiben[19]. Dies zeigt sich bereits bei der von ihm in der vierzehnten seiner Vorlesungen an der Singakademie verwendeten Wortschöpfung »Weltansicht«, die gleichsam als Vorläuferbegriff für das später von ihm in seinem Kosmos bevorzugte »Weltbewußtsein« fungierte:
Die Weltansicht, als Product der menschlichen Intelligenz, hat nicht in allen Perioden gleich schnelle Fortschritte gemacht, indem wir bald eine Tendenz zur speculativen Philosophie, bald zum dichterischen Schaffen vorherrschend finden. Die Hauptentwickelung derselben gehört ganz unstreitig der neuesten Zeit an. Bei den Alten fand die Entwickelung der Kultur fast nur um das Mittelmeer herum statt, wogegen später die Civilisation sich räumlich weiter ausgebreitet hat.[20]
Die »Weltansicht« wird in dieser Passage - ähnlich wie später »Weltbewußtsein« - räumlich und zeitlich präzisiert und an konkrete Räume und Perioden in einer Geschichte der Menschheit gebunden, die sich als eine Geschichte der Expansion und des - wie Humboldt im unmittelbaren Anschluß betont - keineswegs kontinuierlich verlaufenden, sondern eher schubartigen und mit manchen Rückschritten verbundenen Fortschritts lesen läßt. Die raumzeitliche Konkretisierung eröffnet dem Begriff zugleich durch die Verknüpfung mit einer - hier vor allem kollektiv verstandenen - Intelligenz über das von Humboldt auch in der Folge mehrfach untersuchte Konkrete hinaus eine philosophisch-abstrakte Dimension, deren Anbindung an die hier vorgetragene Unterscheidung zwischen »Kultur« und »Civilisation« eine interessante Perspektive auf das Denken des zum damaligen Zeitpunkt erst wenige Monate zuvor aus Paris nach Berlin übergesiedelten Gelehrten freigibt. Hier ließe sich die von Humboldt angedeutete Differenz zwischen beiden Begriffen sehr wohl mit Norbert Elias' Überlegungen »Zur Soziogenese des Gegensatzes von »Kultur« und »Zivilisation« in Deutschland« - so der Titel des ersten Teils im ersten Kapitel seines Buches Über den Prozeß der Zivilisation - verbinden. Leicht ließe sich zeigen, auf welch verblüffend direkte Weise der Humboldtsche Begriff der »Weltansicht« über jenen der »Zivilisation« mit dem Begriff der »Weltanschauung« verbunden ist[21]. Humboldts Weltbegriffe sind ebenso vielschichtig wie untereinander vernetzt.
Zugleich zeigt sich die bereits angedeutete Spezifik der zwar empirisch fundierten, aber nicht aufs Empirische beschränkten Humboldtschen Weltbegriffe, die in einem durchaus etymologischen Sinne menschhaltig sind, mithin stets - ebenso in der planetarischen wie in der kosmischen Isotopie - den Menschen mitdenken. Natur und Mensch sind in der Humboldtschen Wissenschaft nicht nur thematisch, sondern auch epistemologisch untrennbar miteinander verbunden[22]. Dies schlägt sich nicht zuletzt in einer für Humboldt charakteristischen Semantisierung der Lexeme »Welt« und »Natur« nieder.
Humboldts Schreiben an einem »menschhaltigen« Buch der Welt als Buch der Natur gliedert sich zweifellos ein in die Traditionslinie des Weltbuches und des Weltschöpfungsbuches, wobei die entsakralisierte Weltschöpfungsgeschichte jüdisch-christlichen Ursprungs bei ihm zugleich - und ganz im Auerbachschen Sinne - verwoben ist mit einer an Plinius' Historia naturalis und ihrem Geist einer »Weltbeschreibung« geschulten Konzeption[23]. Im Kosmos wie in vielen anderen Schriften Humboldts sind diese abendländischen Traditionslinien eines stets weltgeschichtsdeutenden Schreibens im doppelten Wortsinne allgegenwärtig. Die von Hans Blumenberg herausgearbeitete Beziehung zwischen Humboldts Arbeit am Buch der Natur und der die abendländische Geschichte querenden Metapher von der Lesbarkeit der Welt erhält mit Blick auf die Humboldtschen Weltbegriffe ihre eigentliche Pointe in der Einsicht, "daß sein Verfahren der Naturansichtigkeit gerade darin besteht, das Erlebnis auf das Wissen - am Exempel: den einsamen Berggipfel auf das Kontinentalprofil - zu beziehen; nicht um die Subjektivität des Augenblicks zu zerstören, sondern um sie zu integrieren."[24] Lebenswissen[25] geht gerade in der Form des Erlebenswissens in Humboldts Verständnis von Weltwissen ein.
Mit Blick auf Humboldts auch in diesem Sinne menschhaltige Weltbegriffe darf man folgern, daß die Humboldtsche Wissenschaft wie das Humboldtsche Schreiben auf die Integration und Fruchtbarmachung eines Wissens abzielen, das man als ein (Er)Lebenswissen - ebenso auf der Ebene konkreter empirischer Erfahrung wie auf jener von Lektüre und Rezeption des Weltbuches - bezeichnen könnte. Humboldts Weltbewußtsein ist auf der Konzeption eines Weltwissens fundiert, das über das Erlebnis Wissen auf eine Erweiterung des Wissens der Welt von sich selbst - in allen eingangs genannten Perspektivierungen - abzielt. Daher rührt die enorme Bedeutung, die Alexander von Humboldt - wie sein Bruder Wilhelm - dem Bereich der Bildung auf allen Stufen stets beimaß. Die Humboldtsche Weltbeschreibung versteht sich selbst immer als Teil eines konkreten historischen Expansionsprozesses, der als Prozeß einer sich auch räumlich ausbreitenden "Civilisation"[26] vom Abendland ausging und letztlich auf ein ständig zu steigerndes Bewußtsein der Welt von sich selbst abzielt. Dabei überlagern sich im Verlauf der Entwicklung des Humboldtschen Denkens und Schreibens ebenso wie in seiner Begrifflichkeit in zunehmendem Maße die Isotopien des Kosmischen, des Planetarischen und des Philosophisch-Abstrakten. Stets bleiben sie jedoch an die sinnliche Erfahrung individueller wie kollektiver Subjekte rückgebunden. Humboldts Weltbegriffe sind perspektivierte Begriffe, die sich zumindest tendenziell ihrer raumzeitlichen Bedingtheit und der Vorläufigkeit allen (Welt-) Wissens bewußt sind.
[1] Schulz-Buschhaus, Ulrich: Anleitungen zum tadellosen Sprachgebrauch. In: Wertheimer, Jürgen / Zima, Peter V. (Hg.): Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft. München: Verlag C.H. Beck 42002, S. 155.
[2] Ebda., S. 156.
[3] Ebda.
[4] Ebda., S. 158.
[5] Ebda., S. 155.
[6] Ebda., S. 156.
[7] Ebda., S. 158.
[8] Vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23., erweiterte Auflage. bearbeitet von Elmar Seebild. Berlin - New York: Walter de Gruyter 1999, S. 885.
[9] Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern - München: Francke Verlag 71982, S. 18.
[10] Vgl. Erich Auerbach, Philologie der Weltliteratur. In: Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich. Bern 1952, S. 39-50; wieder aufgenommen in Auerbach, Erich: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Herausgegeben von Fritz Schalk und Gustav Konrad. Bern - München: Francke Verlag 1967, S. 301-310. Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar: Erich Auerbach oder Die Aufgabe der Philologie. In: Estelmann, Frank / Krügel, Pierre / Müller, Olaf (Hg.): Traditionen der Entgrenzung. Beiträge zur romanistischen Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt am Main - Berlin - New York: Peter Lang 2003, S. 21-42.
[11] Auerbach, Erich: Mimesis, a.a.O., S. 19.
[12] Ebda.
[13] Vgl. u.a. Dällenbach, Lucien / Nibbrig, Christiaan L. Hart (Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.
[14] Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagen's Tagebüchern und Briefen von Varnhagen und Andern an Humboldt. [Hg. von Ludmilla Assing.] Leipzig: F.A. Brockhaus 1860, S. 20.
[15] Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. 5 Bde. Stuttgart - Tübingen: Cotta 1845-1862, hier Bd. 2, S. 154.
[16] Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense, a.a.O., S. 22.
[17] Ebda., S. 20.
[18] Ebda., S. 22.
[19] Die sinnliche, materielle und technologische Dimension dieser Art von Weltanschauung erläutert Humboldt eindrucksvoll zu Beginn seiner Überlegungen zum natürlichen und teleskopischen Sehen im dritten Band seines Kosmos, wobei die Weltanschauung über das Teleskop an die Erkundung der Welträume angekoppelt wird: "Dem Auge, Organ der Weltanschauung, ist erst seit drittehalb Jahrhunderten, durch künstliche, teleskopische Steigerung seiner Sehkraft, das großartigste Hülfsmittel zur Kenntniß des Inhalts der Welträume, zur Erforschung der Gestaltung, physischen Beschaffenheit und Massen der Planeten sammt ihren Monden geworden." Humboldt, Alexander von: Kosmos, a.a.O., Bd. 3, S. 60.
[20] Humboldt, Alexander von: Über das Universum. Die Kosmosvorträge 1827/28 in der Berliner Singakademie. Herausgegeben von Jürgen Hamel und Klaus-Harro Tiemann in Zusammenarbeit mit Martin Pape. Frankfurt am Main - Leipzig: Insel Verlag 1993, S. 175.
[21] Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 151990, S. 2: "Durch ihn [den Begriff der Zivilisation, O.E.] sucht die abendländische Gesellschaft zu charakterisieren, was ihre Eigenart ausmacht, und worauf sie stolz ist: den Stand ihrer Technik, die Art ihrer Manieren, die Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis oder ihrer Weltanschauung und vieles andere mehr." Und weiter zur komplexen, gegenläufigen Semantik der Begriffe im interkulturellen Vergleich zwischen England, Frankreich und Deutschland: "Eigentümliches Phänomen: Worte, wie das französische und englische »Zivilisation« oder das deutsche »Kultur« erscheinen völlig klar im inneren Gebrauch der zugehörigen Gesellschaft. Aber die Art, wie ein Stück Welt in ihnen zusammengefaßt ist, die Selbstverständlichkeit, mit der sie bestimmte Bereiche umgrenzen und andern entgegensetzen, die geheimen Wertungen, die sie unausgesprochen mit sich tragen, alles das macht sie schwer erklärbar für jeden Nicht-Zugehörigen." (ebda)
[22] Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 32, 106 und passim.
[23] Vgl. hierzu Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 284. Vgl. auch
Knobloch, Eberhard: Naturgenuss und Weltgemälde. Gedanken zu Humboldts Kosmos. In: HiN V, 9 (2004), Kap. 2.
[24] Ebda., S. 293.
[25] Vgl. zu diesem Begriff Ette, Ottmar: Über Lebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004.
[26] Humboldt, Alexander von: Über das Universum, a.a.O., S. 175.
______________________________________________________
![]() |
© hin-online.de.
postmaster@hin-online.de |
![]() |