Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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Ottmar Ette
Universität Potsdam

Unterwegs zu einer Weltwissenschaft?
Alexander von Humboldts Weltbegriffe und die transarealen Studien

4. Transareale Studien

In Humboldts Vues des Cordillères et Monumens des Peuples Indigènes de l'Amérique finden sich im Unterschied zu vielen seiner deutschsprachigen Schriften keine neologismenfreudigen Weltbegriffe. Sie werden jedoch strukturiert vom Gegensatz zwischen »Alter Welt« (ancien monde) und »Neuer Welt« (nouveau monde). Dieses Gegensatzpaar prägt die europäische Wahrnehmung Amerikas noch nicht bei Columbus - der bis zu seinem Tode bekanntlich davon überzeugt war, auf dem Westwege Indien, China und das Cipango Marco Polos erreicht zu haben -, wohl aber seit jenem Zeitpunkt, als der Florentiner Amerigo Vespucci von einem Mundus Novus zu sprechen begann. So schrieb er in seinem berühmten Brief an Lorenzo di Pier Francesco de' Medici:

In den letzten Tagen habe ich Euch ausführlich von meiner Rückreise aus jenen neuen Regionen [ab novis illis regionibus] berichtet, die wir mit der Flotte, auf Kosten und im Auftrag des durchlauchtigsten Königs von Portugal (woher ich Euch nun schreibe) erkundeten und entdeckten, und die man als eine neue Welt bezeichnen könnte [novum mundum appellare licet], wo doch die Alten von diesen Gebieten keine Kenntnis besaßen und deren Existenz allen, die davon hören, völlig neu [novissima res] ist. Denn in der Tat übersteigt dies die Vorstellungen der Menschen unserer Antike [opinionem nostrorum antiquorum excedit] bei weitem, insofern der Großteil von ihnen meinte, es gäbe überhaupt kein Festland südlich des Äquators sondern nur noch das Meer, welches sie Atlantik nannten; und selbst wenn einige wenige behaupteten, daß dort Festland läge, so erklärten sie doch mit vielen Argumenten, daß dieses Land nicht bewohnbar wäre. Daß aber diese ihre Vorstellung falsch ist und der Wahrheit in keiner Weise entspricht, hat diese meine letzte Seefahrt bewiesen, da ich in jenen südlichen Breiten einen Kontinent fand, der mit Völkern und Tieren dichter besiedelt ist als unser Europa oder Asien und Afrika, und darüberhinaus ein Klima, das gemäßigter und angenehmer ist als in irgendeiner anderen uns bekannten Weltgegend, wie Ihr weiter unten noch hören werdet. Dort werde ich in aller Kürze die Hauptpunkte der Ereignisse und alle berichtenswerten Dinge, die ich in dieser neuen Welt [in hoc novo mundo] gesehen oder gehört habe, zu Papier bringen.[1]

Es ist bekannt, auf Grund welcher Irrtümer und Mißverständnisse der junge Geograph Martin Waldseemüller 1507 in seiner Cosmographiae universalis introductio den Vornamen des italienischen Reisenden als Benennung für den von diesem nicht gefundenen, aber gleichsam erfundenen »neuen« Kontinent vorschlug und in seine Weltkarte eintrug. Fast viereinhalb Jahrhunderte später, im Jahre 1940, hat Stefan Zweig, dem diese »Neue Welt« in Abgrenzung von (s)einer »Welt von gestern« zum Schicksal werden sollte, feinsinnig darauf hingewiesen, auf welche Weise die Einheit Amerikas, dieses Mundus Novus, erst durch die Namensgebung allmählich ins europäische Bewußtsein drang. So schrieb er in seinem Amerigo gewidmeten Essay, in dessen Verlauf Begriffe wie »Menschheit« und »Welt« auf sehr bezeichnende Weise ständig zwischen einer planetarischen Dimension und ihrer Reduktion auf eine abendländische Welt und Menschheit schwanken:

Aber endlich begreift die Wissenschaft, daß dieser Kontinent eine Einheit ist von Eismeer zu Eismeer, daß ein einziger Name ihn zusammenfassen muß. Und da erhebt es sich mächtig, das stolze, unbesiegbare Wort, dieser Bastard eines Irrtums und einer Wahrheit, um die unsterbliche Beute an sich zu reißen. [...] Und 1538 zeichnet Mercator, der König der Kartographen, in unserem Sinne den ganzen Kontinent als eine Einheit in seine Weltkarte ein und schreibt den Namen Amerika über beide Teile, A M E über den Norden und R I C A über den Süden.[2]

Die kartographische Verschmelzung der zunächst durch keinen Isthmus miteinander verbundenen Teile Amerikas durch die Wirkkraft eines Namens, der auf höchst bedeutsame Weise den Kontinent zusammenhält, eröffnet die Möglichkeit eines hemisphärischen Denkens, das vom 16. Jahrhundert bis heute die sogenannte »Neue Welt« auf sehr unterschiedliche Weise perspektivierte. Auf epistemologischer und diskursiver Ebene regelte die Unterscheidung zwischen »Alter Welt« und »Neuer Welt« den asymmetrischen Austausch von Wissen und materiellen Gütern wie die Implementierung von Biopolitiken, die - wie die Verdrängung der indigenen Bevölkerung in Rückzugsgebiete, die Einführung schwarzer Sklaven oder eine kolonialistisch gesteuerte Einwanderungspolitik - ganz selbstverständlich an den Interessen der »Alten Welt« und insbesondere der iberischen Mächte ausgerichtet waren. Die kategoriale Unterscheidung zwischen »Alter« und »Neuer Welt« erfaßte dabei alle Aspekte und Felder des Wissens, von der Konzeption eines von Europa aus zu missionierenden Kontinents und dessen Integration in einen einzigen heilsgeschichtlichen Zusammenhang bis hin zu Geognosie und Geologie, wo die Vorstellung, es handle sich bei Amerika um eine »neuere«, in ihrer Entwicklung noch nicht weit fortgeschrittene und - wie Orinoco und Amazonas zeigten - dem Wasser später entstiegene Welt, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fortbestand.

In ein derartiges Verständnis der »Neuen Welt« griff Alexander von Humboldt im Rahmen des im Grunde bereits seit dem 16. Jahrhundert schwelenden, aber im 18. Jahrhundert stärker denn je entbrannten »Disputs um die Neue Welt«[3] ein. Mit guten Gründen machte er sich ein ums andere Mal stark gegen jegliche Isolierung und damit verbundene Inferiorisierung Amerikas - gleichviel, ob sie der Feder eines Buffon oder de Pauw, eines Raynal oder Hegel (und damit Philosophen, die den amerikanischen Kontinent nicht aus eigener Weltanschauung kannten) entstammte. Die »Neue Welt« repräsentierte für ihn nicht das radikal Andere; es galt vielmehr, sie auf wissenschaftlicher wie auf wirtschaftlicher, auf sozialer wie auf symbolischer Ebene in weltumspannende Zusammenhänge zu integrieren und in die aufzubauenden wissenschaftlichen Beobachtungsnetze einzubeziehen. Was aber schied die »Neue« von der »Alten Welt«, was machte die Spezifika der beiden »Gegen-Welten« aus?

Der sich über Jahrhunderte erstreckende »Disput um die Neue Welt« belegt die Wirkmächtigkeit, aber auch die Brisanz einer diskursiven Scheidung, deren strukturierende Kraft nicht nur im »alten Europa« heute noch keineswegs vollständig gebrochen ist. Dabei kann es im Kontext der hier vorgestellten Überlegungen nicht darum gehen, den hemisphärischen Gedanken einer Abgrenzung von der Einflußsphäre Europas im integrativen Panamerikanismusgedanken eines Simón Bolívar oder im hegemonial, an Einfluß- und Machtsphären orientierten Entwürfen der Monroe-Doktrin, der manifest destiny und des Panamericanism US-amerikanischer Prägung weiterzuverfolgen. Weitaus wichtiger als die Verknüpfung der Rede von einer »Neuen Welt« mit einer Aufteilung der Welt in Machtsphären, wie sie bereits 1494 im Vertrag von Tordesillas zwischen Spanien und Portugal zum Ausdruck kam, war für das von Humboldt entwickelte hemisphärische Verständnis Amerikas die Frage, wie der Mundus Novus in seinen Bezügen zur Entwicklung der gesamten Menschheit aus weltbürgerlicher Perspektive gedacht werden konnte.

Humboldt wußte sich hier im Einklang mit Bestrebungen, wie sie bereits 1784 in Immanuel Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht zum Ausdruck kamen, einer Schrift, in der - im Verbund mit anderen aus der Feder Kants - die Idee eines Völkerbundes vorgestellt wurde, der gerade auch den schwächeren Staaten und ihren Staatsangehörigen eine weltbürgerrechtliche Sicherheit geben sollte. Zugleich aber wird hier eine entsakralisierte heilsgeschichtliche Erwartung deutlich, die Menschheit könnte durch diesen Bund der Völker eine Welt der - sich wechselseitig bekämpfenden - Welten hinter sich lassen, könnte doch

eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet werden, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllet werden. Eine solche Rechtfertigung der Natur - oder besser der Vorsehung - ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilft's, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen: wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesen den Zweck enthält, - die Geschichte des menschlichen Geschlechts - ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden, und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen?[4]

Auf keine andere, sondern auf eine andersgestaltete Welt hoffte Alexander von Humboldt, dessen Denken sich als eine vielschichtige Antwort auf jene seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beobachtbare Entwicklung begreifen läßt, die wir mit Verweis auf die Reisen eines Cook, eines Bougainville oder Lapérouse als wesentlich von England und Frankreich gestaltete zweite Phase beschleunigter Globalisierung verstehen dürfen. Alexander von Humboldt hat durch seine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem europäischen Expansionsprozeß zu Recht das sich auf den unterschiedlichsten historischen, kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Ebenen nachweisbare Spannungsverhältnis zwischen »Alter« und »Neuer Welt« ins Zentrum seines einflußreichen Amerika-Diskurses gestellt und dabei immer wieder prozesse reflektiert, die man als Phänomene einer einsetzenden "Verweltgesellschaftung"[5] beschreiben kann. Gleichwohl zeigt sich bei genauerer Betrachtung, daß diese asymmetrische Beziehung zwischen beiden Weltteilen keineswegs den Humboldtschen Ansatz erschöpft. Denn ihm ging es nicht um einzelne Weltfragmente, ihm ging es ums Ganze. Dem Ganzen aber war weder aus der Perspektive einer weltumspannenden Einheit noch auf jener einer ins Lokale zerfallenden Vielheit näherzukommen. Die Konzipierung einer quer dazu verlaufenden mobilen Forschungsperspektive war unumgänglich, wollte Humboldt nicht von der Fülle des Materials begraben werden oder die empirische Grundlage seiner Überlegungen verlieren.

Daß die Einsicht in die Existenz einer den Europäern zuvor noch unbekannten Welt eine doppelte diskursive Bewegung erzeugt, die zum einen die völlige Neuartigkeit und Andersartigkeit des »Entdeckten«, zum anderen aber zugleich die Notwendigkeit des Vergleichs mit dem den Europäern bereits Bekannten betont, haben schon die oben angeführten Zeilen des Amerigo Vespucci belegt. In seinen Ansichten der Kordilleren wird Alexander von Humboldt sich keineswegs darauf beschränken, in der amerikanischen Hemisphäre beobachtete Phänomene entweder nur auf dem jeweiligen kulturellen Kontext entstammende Entwicklungen oder aber auf »weltgeschichtliche« Prozesse zurückzuführen, die von Europa aus ihren Ausgang nahmen.

Humboldt unternahm hier vielmehr den spannenden Versuch, eine interne Relationalität zwischen unterschiedlichen Regionen des amerikanischen Kontinents - folglich interamerikanisch zwischen den verschiedenen Amerikas - mit einer externen Relationalität zu verbinden, die nicht in historisch aufgehäufte Abhängigkeiten und Hierarchien zurückfällt oder gar aus unreflektiert europäischer (Außen-) Sicht Amerika immer nur von Europa her zu denken vermag. Dabei rücken auch Beziehungen ins Blickfeld, die nicht über Europa vermittelt sind, sondern kulturelle, architektonische, geologische oder politische Phänomene weltweit miteinander in Beziehung setzen. So stellte Alexander von Humboldt in seiner ausführlichen Untersuchung des mexikanischen Kalendersteins nicht nur gleichsam interamerikanische Beziehungen zu den Kalendersystemen anderer indigener Völker des Kontinents her, sondern band Forschungen über ägyptische und japanische, tartarische, tibetanische oder der abendländischen Antike zugehörige Zeitvorstellungen und Zeitzyklen mit ein. Sein Ziel war es, von einem beständig aktualisierten Forschungsstand (und zugleich gewiß auch mit europäischer Perspektivik) aus, nicht nur die abendländischen mit den nicht-abendländischen, sondern auch letztere untereinander in eine weltweite Relationalität einzubeziehen. Der an Amerika ausgerichtete Blick zielt folglich nicht auf eine Territorialisierung der dort beobachteten Phänomene, sondern auf deren weltweite Vernetzung, in der es gerade um eine Dynamisierung von Raumkonzepten geht, die es erlauben soll, Bewegungen zwischen den unterschiedlichsten Räumen schärfer in den Blick zu bekommen. Ohne die Antagonismen zwischen »Alter« und »Neuer Welt« zu überspielen, beraubt Humboldt sie doch ihrer Statik, um neue Bezüge herstellen und die Komplexität seiner Ansichten der Kultur entlang neuer weltweiter Dynamiken vorantreiben zu können.

Daraus ergeben sich Widersprüche, wie sie für Humboldts Projekt einer anderen, multipolaren Moderne konstitutiv und sicherlich auch fruchtbar geworden sind. Einerseits beharrte Humboldt auf einer vom Abendland ausgehenden weltgeschichtlichen Entwicklung, wie wir sie etwa anhand der Ursprünge der Rede vom »Weltbewußtsein« leicht nachweisen können; andererseits machten beispielsweise seine Untersuchungen zu den Kalendersteinen auf die Relativität von Zeitvorstellungen in den verschiedenen Kulturen der Welt aufmerksam. Von dieser Spannung zwischen Konzeptionen weltgeschichtlichen Zuschnitts, die - wie seine Kritischen Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt - an den europäischen Geschichtskonzeptionen und den Formen der Geschichtsschreibung seiner Zeit orientiert blieben, und einer unilinear verlaufende Prozesse immer wieder unterspülenden Auseinandersetzung mit den vielfältigsten Formen des Kulturtransfers sowie einer kulturellen Heterogenisierung lebt das Humboldtsche Oeuvre. So wies er etwa unter Bezugnahme auf Francisco Javier Clavijeros Historia antigua de México auf die Entwicklung der Azteken zum Menschenopfer hin, wobei er sich sehr wohl der Tatsache bewußt war, daß eine derartige Entwicklung konträr zu der aus der abendländischen Kulturgeschichte bekannten Abfolge vom Menschenopfer über das Tieropfer zum Brand- oder Ernteopfer verlief:

Überall, wo wir auf dem alten Kontinent noch Spuren von Menschenopfern finden, verliert sich ihr Ursprung in grauer Vorzeit. Die Geschichte der Mexikaner hingegen hat uns die Erzählung jener Ereignisse überliefert, die dem Kult eines Volkes, das der Gottheit ursprünglich nur Tiere oder die Erstlinge der Früchte opferte, einen grausamen und blutigen Charakter verliehen haben. Ich habe es für meine Pflicht gehalten, diese Überlieferungen wiederzugeben, die gewiß einen wahren historischen Kern haben; sie hängen eng mit der Erforschung der Sitten und der moralischen Entwickung unserer Gattung zusammen und erscheinen insofern mir interessanter als die kindlichen Märchen der Hindus über die zahlreichen Verkörperungen ihrer Gottheiten.[6]

An dieser Stelle wird deutlich, daß Humboldt die Tatsache nicht entgangen ist, in welchem Maße die Einführung der Praxis des Menschenopfers bei den Azteken dem »zivilisatorischen Prozeß« abendländischer Provenienz diametral entgegengesetzt ist. Er blendet diese Gegenläufigkeit aber nicht aus seiner Geschichte aus, sondern läßt sie auf der Ebene einer Kultur- und Sittengeschichte des Menschengeschlechts (de notre espèce) zugunsten einer späteren Klärung fortbestehen. Sein Hinweis auf die "kindlichen Märchen" (contes puérils) der Hindus macht zugleich deutlich, daß damit keine Aufgabe einer Wertung aus abendländischer Sicht verbunden war. Denn der kulturelle Meridian der Humboldtschen mappings lief für Humboldt noch immer - wie dies auch das Ende seiner Einführung in die Ansichten der Kordilleren verdeutlich - durch die abendländische Antike. Mochten die "majestätischen Landschaften"[7] Amerikas jenen Europas unvergleichbar überlegen sein, so blieb doch die mit einem starken Freiheitsbegriff verbundene Kultur der griechischen Antike allen Entwicklungen indigener Bergvölker weit überlegen:

Die peruanische Theokratie war wohl weniger drückend als die Herrschaft der mexikanischen Könige; doch die eine wie die andere haben dazu beigetragen, den Monumenten, dem Kult und der Mythologie zweier Bergvölker jenen düsteren, dunklen Charakter zu verleihen, der im Gegensatz zu den Künsten und den süßen Fiktionen der Völker Griechenlands steht.[8]

Gerade an dieser Stelle sei jedoch nicht vergessen, daß Humboldt wenige Seiten, nachdem er die Hinwendung der Azteken zum Menschenopfer konstatiert und kritisiert hatte, eine gegen Kolonialismus und Sklaverei der christlich-abendländischen Kolonialmächte gerichtete Pointe anschloß. Sie führte zugleich auch sein Verfahren vor, die europäische Leserschaft mit Hilfe einer überraschenden Wendung aus einer distanzierten oder scheinbar unbeteiligten Beobachterposition aufzuschrecken. So fragte er:

Sehen wir nicht auch in weniger entfernten Zeiten die barbarischen Auswirkungen religiöser Intoleranz, inmitten einer der großen Zivilisationen der Menschheit, in einer Zeit, da Charakter und Sitten allgemein sanfter werden? Wie verschieden die Völker im Fortschritt ihrer Kultur auch sein mögen, Fanatismus und Eigennutz behalten stets ihre unheilvolle Macht. Die Nachwelt wird Mühe haben zu begreifen, daß es im zivilisierten Europa, unter dem Einfluß einer Religion, die dem Wesen ihrer Prinzipien nach die Freiheit begünstigt und die heiligen Rechte der Menschheit proklamiert, Gesetze gibt, welche die Sklaverei der Schwarzen billigen, welche es den Kolonisten erlauben, Kinder aus den Armen ihrer Mütter zu reißen, um sie in einem fernen Land zu verkaufen. Diese Betrachtungen beweisen uns, und dies ist kein tröstliches Ergebnis, daß ganze Nationen schnell fortschreiten können auf dem Weg zur Zivilisation, ohne daß die politischen Institutionen und die Formen ihres Kults ihre alte Barbarei gänzlich verlieren.[9]

Einmal mehr ist es die Idee einer notwendigerweise allen Menschen zuteil werdenden Freiheit, die Humboldts kritischen Reflexionen zu Grunde liegt. Daß dieser einer abendländischen Tradition entstammende Freiheitsbegriff keineswegs zur Bewertung unterschiedlichster Kulturen taugt, braucht an dieser Stelle nicht betont zu werden. Doch kann gerade die universalistische Ausweitung einer abendländischen Begrifflichkeit selbst wiederum dazu dienen, eine kritische Beleuchtung bestimmter Traditionen des Okzidents ins Werk zu setzen. Die von Humboldt eingeführte interne und externe Relationalität, mithin der Versuch, kulturelle Phänomene zum einen mit den verschiedenen Kulturen Amerikas und zum anderen mit Kulturen im weltweiten Vergleich in Beziehung zu setzen, hat der Humboldtschen Wissenschaft fraglos neue Horizonte eröffnet - und dabei auch manch kritischen Ausblick auf die sich mit Vorliebe als Weltgeschichte gerierende abendländische Expansionsgeschichte ermöglicht.

Es wäre ein Leichtes, eine Vielzahl von Beispielen für Humboldts scharfe Kritik an der Barbarei der (abendländischen) Zivilisation anzuführen. In diesem Kontext wichtiger erscheint mir jedoch die Beantwortung der Frage, von welchem epistemologischen und methodologischen Standpunkt aus Humboldt seine Sichtweise weltweiter Prozesse entwickelte. Dabei ist entscheidend, daß Humboldt in seinen Vues des Cordillères weder die Position einer vorrangig territorial denkenden Regionalwissenschaft noch jene einer dekontextualisierenden Menschheitsgeschichte vertrat. Vielmehr könnten wir seine Vorgehensweise als eine Entwicklung hin zu transarealen Studien verstehen, denen es - jenseits der klassischen Area Studies - um die Bewegungen zwischen unterschiedlichen kulturellen, politischen oder ökonomischen Regionen geht. Humboldts Untersuchungen basierten weder auf einer territorialen Ausgrenzung noch auf einer von den jeweiligen konkreten Kontexten abstrahierenden Entgrenzung. Es ging ihm bereits in den Ansichten der Kordilleren weniger um Räume als um Wege, weniger um Grenzziehungen als um Grenzverschiebungen.

Diese Aspekte seien in der gebotenen Kürze am zentralen und zugleich längsten, dem »mexikanischen Kalenderstein« (Tafel XXIII) gewidmeten Text erörtert. In diesem im Original insgesamt 70 Seiten umfassenden Abschnitt diskutiert Humboldt gleich zu Beginn die Tatsache, daß kulturelle Entwicklungen nicht notwendigerweise gleichmäßig im Sinne einer Fortschrittsgeschichte zu verlaufen pflegen. So seien die ausdifferenzierte Sprache und die profunden astronomischen Kenntnisse mancher indigener Völker "vielleicht nur die Überreste eines Erbes, das ihnen von einst zivilisierten, doch seither zurück in die Barbarei verfallenen Völkern hinterlassen worden ist."[10] Und nach einer ausführlichen Erörterung der Bezüge, "die zwischen den Zeichen der verschiedenen Tierkreise Indiens, Tibets und der Tartarei und den Hieroglyphen der Tage und Jahre des mexikanischen Kalenders bestehen"[11], verweist Humboldt auf die Wichtigkeit einer (offensichtlich gegen eingeschränkt nationale oder gar nationalistische Betrachtungsweisen gerichteten) "Geschichte der früheren Verbindungen zwischen den Völkern"[12], gebe es doch starke Hinweise, daß das "System der asiatischen Astrologie" und die "mexikanische Astrologie einen gemeinsamen Ursprung zu haben" scheinen[13]. Am Ende seiner an Exkursen reichen Ausführungen kommt Humboldt nicht umhin, ein weiteres Mal in den »Disput um die Neue Welt« einzugreifen:

Ein Volk, das seine Feste nach der Bewegung der Gestirne richtete und seinen Kalender in ein öffentliches Monument gravierte, hatte wahrscheinlich eine höhere Zivilisationsstufe erreicht als die, welche Pauw, Raynal und selbst Robertson, der klügste der Geschichtsschreiber Amerikas, ihm zuwiesen. Diese Autoren sahen jeden Zustand des Menschen als barbarisch an, der sich von dem Typus von Kultur entfernt, den sie sich nach ihren systematischen Ideen gebildet haben. Diese scharfen Unterscheidungen zwischen barbarischen und zivilisierten Nationen können wir nicht gelten lassen.[14]

Diese unmißverständliche Kritik an einer reduktionistischen, durch Ausschlußmechanismen gekennzeichneten »systematischen« Vision der Weltgeschichte und der kulturellen Entwicklung der Menschheit setzt Humboldt ein Bewegungsbild entgegen, das sich weder in der Untersuchung des Lokalen und Regionalen verliert noch in die Dimensionen des Weltgeists verflüchtigt. Humboldts Vernetzungswissenschaft generiert ein Wissen, dessen Ertrag mehr als die Summe seiner Einzelteile ist, insofern es aus transdisziplinärer und transarealer Sicht an den Wechselwirkungen, den Austauschbeziehungen und Wissenstransfers interessiert ist, die einen bestimmten Raum charakterisieren. Eine Region ist für den Verfasser der Relation historique vor allem die Gesamtheit bisheriger Bewegungen und Relationen, die diesen Raum gebildet haben, sowie das Potential an Bewegungen, die ihn künftig charakterisieren werden. So entsteht aus transarealer Perspektive nicht nur ein Bewegungsbild der Vergangenheit; vielmehr zeichnen sich im Bild der von Humboldt bereisten und portraitierten Länder stets deren künftige Entwicklungsmöglichkeiten ab. Humboldts relationale Logik ist kein statisches »System« fester Verbindungen; sie ist dynamisch und bewegungsorientiert.

Diese im Humboldtschen Sinne weltbewußte Forschungsperspektive scheint mir aus heutiger Sicht das Potential zu besitzen, zur Entwicklung einer transregional und transareal ausgerichteten Weltwissenschaft - quer zu den Disziplinen und quer zu traditionellen regionalwissenschaftlichen Ausrichtungen - eine transdisziplinär agierende Verbundforschung zu befruchten, die im 21. Jahrhundert sicherlich nicht mehr das Werk eines Einzelnen (und verfügte er über ein noch so weit gespanntes Korrespondentennetz) sein kann. Die Entfaltung mobiler relationaler Logiken, die gerade den Zwischenbereichen ihre Aufmerksamkeit schenken, sollte dabei im Vordergrund stehen.

Alexander von Humboldt hat seine Leserschaft nicht selten mit gewagten und verschiedenste Phönomene weltweit zusammendenkenden Vergleichen überrascht. Dieses Humboldtsche Verfahren des kühnen Vergleichs, das im Kontext einer globalisierenden Wissenschaft nicht davor zurückschreckt, auf bisweilen provozierende Weise die Bevölkerungsentwicklung in indianischen und preußischen Dörfern oder die damals anhaltende Sklavenwirtschaft in Amerika mit der Leibeigenschaft in Teilen des damaligen Europa zu vergleichen[15], macht auf einen Denkstil und Wissenschaftsstil aufmerksam, der die Dinge nicht nur auseinandersetzt, sondern sogleich wieder auf neue Weise zusammenzudenken sucht. Mit guten Gründen könnte man hierin zugleich ein Grundprinzip wissenschaftlicher Kreativität erkennen, wie es der Hirnforscher Wolf Singer formulierte: "Im wissenschaftlichen Bereich ist Kreativität in der Regel die Fähigkeit, etwas zusammenzusehen, was bisher noch nicht zusammengesehen worden ist."[16]



[1] Vespucci, Amerigo: Eine Neue Welt. Brief des Amerigo Vespucci an Lorenzo di Pier Francesco de' Medici. In: Wallisch, Robert: Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci (Text, Übersetzung und Kommentar). Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002, S. 13 (dort auch die lateinischen Zitate). Es sei freilich darauf hingewiesen, daß Humboldt selbst im Schlußteil seines umfangreichen Werkes über die erste Phase beschleunigter Globalisierung zur Überzeugung gelangte, daß Vespucci ebenso wenig wie Columbus - den Humboldt weitaus höher bewertete - zur Einsicht in die Existenz eines neuen Weltteils gelangt sei: "Beide waren gleichmäßig bis zu ihrem Tode der festen Ueberzeugung, verschiedene Punkte des Festlandes von Asien berührt" zu haben; vgl. Humboldt, Alexander von: Kritische Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nautischen Astronomie in dem 15ten und 16ten Jahrhundert. Aus dem Französischen übersetzt von Jul. Ludw. Ideler. Berlin: Verlag der Nicolai'schen Buchhandlung 1852, Bd. 3, S. 130 f.

[2] Zweig, Stefan: Amerigo. Die Geschichte eines historischen Irrtums. In (ders.): Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902 - 1942. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1990, S. 423.

[3] Vgl. hierzu Gerbi, Antonello: La disputa del nuovo mondo. Storia di una polemica: 1750 - 1900. Nuova edizione a cura di Sandro Gerbi. Con un profilo dell'autore di Piero Treves. Milano - Napoli: Riccardo Ricciardi editore 1983, S. 560-582.

[4] Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In (ders.): Werkausgabe. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Bd. XI. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 49.

[5] Vgl. zu diesem Begriff Albert, Matthias: Zur Politik der Weltgesellschaft. Identität und Recht im Kontext internationaler Vergesellschaftung. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 330-340.

[6] Humboldt, Alexander von: Vues des Cordillères et Monuments des Peuples Indigènes de l'Amérique. Nanterre: Editions Erasme 1989, S. 96.

[7] Ebda., S. 4.

[8] Ebda., S. xvi.

[9] Ebda., S. 99.

[10] Ebda., S. 125.

[11] Ebda., S. 165.

[12] Ebda.

[13] Ebda.

[14] Ebda., S. 194.

[16] Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 108.

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Letzte Aktualisierung: 09 Januar 2007 | Kraft

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