Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009 |
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Ottmar Ette
Universität PotsdamUnterwegs zu einer Weltwissenschaft?
Alexander von Humboldts Weltbegriffe und die transarealen Studien2. Weltwissenschaft
Die erhellende, aber mitunter einseitige Einbindung des Humboldtschen Kosmos in die - von seinem Autor oftmals selbst herausgestellten - abendländischen Traditionslinien seit der Antike hat nicht selten den Blick verstellt für die Zukunftsträchtigkeit einer Wissenschaftskonzeption, die hochgradig innovativ war und ein sehr spezifisches und bis heute unvollendetes Projekt der Moderne verfolgte. Auch ein Hans Blumenberg vermochte der Versuchung nicht zu widerstehen, von der Vergangenheitsorientierung der eigenen Deutungsperspektive des Humboldtschen Oeuvre im Kontext langfristiger Traditionen auf die Rückwärtsgewandtheit nicht nur des schon früh als Alterswerk bezeichneten Kosmos zu schließen, sondern die gesamte Wissenschaftskonzeption Humboldts in der Zeit nach Goethes Tod als "Anachronismus"[1] zu deuten. Blumenbergs Verständnis faßt in vielem die Ergebnisse der älteren Humboldt-Forschung zusammen, die den Weltbürger aus Tegel als den Endpunkt einer Entwicklung und bestenfalls als den »letzten Universalgelehrten« verstehen wollte:
[...] denn der Blick auf dieses große mit der Natur rivalisierende Lebenswerk wäre unaufrichtig, wollte er die Züge der Hilflosigkeit übersehen. Nach dem Tode Goethes: welche Einsamkeit unter der Last des Zeitgeistes, trotz der Allgegenwart des »Kosmos« in der Resonanz des Publikums.[2]
Die von Humboldt selbst sehr bewußt vorgenommene Einschreibung in die abendländischen Traditionslinien sollte uns heute aber nicht den Blick dafür verstellen, daß Alexander von Humboldt nicht der letzte Universalgelehrte war, der mit seinen fast neunzig Jahren wie ein erratischer Block weit in die Nach-Goethe-Zeit hinüberragte, sondern der erste Vertreter einer neuartigen Wissenschaftskonzeption, deren Potentiale bis heute noch nicht ausgeschöpft sind.
Wollte man die Humboldtsche Wissenschaftskonzeption in aller Kürze zusammenfassen, so ließe sich sagen, daß Humboldt im Verlauf eines mehr als sieben Jahrzehnte umfassenden wissenschaftlichen Forschens und Schreibens ein Wissenschaftsverständnis sowie Grundüberzeugungen zu Theorie und Praxis von Wissensrepräsentation entwickelte, die in epistemologischer, wissenschaftsgeschichtlicher, wissenssoziologischer und ästhetischer Hinsicht von einer unverkennbaren Zunahme an Komplexität und Dynamik gekennzeichnet sind. Aktualität und Zukunftsträchtigkeit seiner Auffassungen lassen sich insbesondere an den nachfolgend schematisierten Aspekten seines Denkens reflektieren:
Das von Humboldt entfaltete und praktizierte Wissenschaftsverständnis ist erstens von einer transdisziplinären Ausrichtung geprägt, die selbstverständlich auf die Ergebnisse einer zu seiner Zeit sich verstärkenden, aber bereits im 18. Jahrhundert unverkennbar einsetzenden disziplinären Ausdifferenzierung der Wissenschaften zurückgreift und diese wissenschaftsgeschichtlich fundamentalen Prozesse zugleich kritisch hinterfragt. Alexander von Humboldts Ansatz ist transdisziplinär und nicht interdisziplinär, weil er den Dialog mit anderen Disziplinen nicht vom Standpunkt einer bestimmten »eigenen« Disziplin (etwa der Botanik, der Mathematik oder der Geognosie) aus suchte - wie dies im interdisziplinären Dialog der Fall wäre -, sondern die unterschiedlichsten Bereiche der Wissenschaft unter Rückgriff auf und Mithilfe von Spezialisten zu queren und damit die verschiedenartigsten Wissensgebiete und fächerspezifischen Logiken miteinander zu verbinden trachtete. Man darf hier von einer dynamischen, nomadisierenden Wissenschaftskonzeption sprechen, die unterschiedliche spezifische Logiken relational miteinander verknüpft und in Bewegung setzt.
Zweitens läßt sich das global und komparatistisch ausgerichtete Wissenschaftsverständnis Humboldts als interkulturell charakterisieren. Der Verfasser der Vues des Cordillères dachte interkulturell und nicht transkulturell, weil er sehr bewußt - und diese eigene Verortung seiner Wissenschaft auch markierend - von einer europäisch-abendländischen Wissenstradition als Grundlage ausging, von der aus Beziehungen zu anderen Kulturen und Wissenstraditionen hergestellt werden sollten. Dies bedeutet, daß kulturelle Differenzen nicht eskamotiert, sondern demonstriert und gewiß auch inszeniert, zugleich aber vom Standpunkt einer globalisierten und globalisierenden Wissenschaft aus in gewissem Maße auch hierarchisiert werden. Der eigene Standpunkt ist in jedem Falle aber selbstreflexiv gedacht und daher gegenüber Dialogen mit anderen (nicht-europäischen) Kulturen im Sinne einer Optimierung wechselseitiger Verstehensprozesse offen. Humboldt signalisierte stets, von welcher Welt aus er über die Welt sprach.
Drittens ist die Humboldtsche Wissenschaftskonzeption in kritischer Fortführung der Ideen der französischen Aufklärung und der philosophischen Konzeptualisierung von Weltgeschichte und Weltbürgertum in der Tradition Immanuel Kants eine kosmopolitische Wissenschaft, insofern sie sich in einem nicht nur auf ihre Gegenstände bezogenen Sinne, sondern auch in ihrer ethischen Fundierung und politischen Verantwortlichkeit als eine Wissenschaft begreift, die an den Interessen der gesamten Menschheit und der Entfaltung einer multipolaren Moderne ausgerichtet ist. Die aus den abendländischen Denk- und Handlungstraditionen (gerade auch in cosmopolitisme und »Weltbürgertum« des 18. Jahrhunderts) erwachsenden Phänomene von unreflektiertem Eurozentrismus und philosophischem Logozentrismus können auf diese Weise zumindest potentiell einer fundamentalen Selbstkritik unterzogen und tendenziell überwunden werden.
Viertens setzt all dies voraus, daß Humboldt ein weltweites Korrespondentennetz aufbauen mußte, das ihm ebenso die von ihm benötigten regionalen Wissensbestände zur Verfügung stellen oder überprüfen konnte als auch in der Lage sein sollte, disziplinär spezialisiertes Wissen einzubringen und mit den Fragehorizonten seiner Forschungsfelder zu verknüpfen. Humboldts Korrespondenz bildete folglich ein weltweit gespanntes Gewebe des Wissens- und Informationsaustauschs aus, das mit insgesamt 30.000 bis 35.000 Briefen einen interkontinentalen und disziplinenübergreifenden Wissenstransfer in Gang brachte, so daß man getrost von einem weltweiten Netzwerk sprechen darf. Darüber hinaus aber bemühte sich Humboldt auch um den Aufbau ebenso nationalstaatlicher wie grenzüberschreitender wissenschaftlicher Institutionen und Kooperationsformen, die ihn zu einem der sicherlich einflußreichsten Wissenschaftsorganisatoren des 19. Jahrhunderts in Europa werden ließen. Dabei versuchte er - im übrigen auch in wiederholter Wahrnehmung wichtiger diplomatischer Funktionen - zugleich, die relative Autonomie des wissenschaftlichen Feldes gegenüber der Politik und nationalistisch ausgerichteten pressure groups zu sichern und auszuweiten.
Fünftens beschränkte sich die hochgradig kommunikative Struktur von Wissen und Wissenschaft im Humboldtschen Sinne nicht auf Gewinnung und Produktion von Wissen, sondern bezog sich auch auf dessen gesellschaftliche Distribution und Rezeption. Durch den Aufbau geeigneter Präsentations- und Repräsentationsformen von Wissen zielte Humboldt auf eine Popularisierung und Demokratisierung der Wissenschaft und damit letztlich darauf ab, Wissen für möglichst breite Bereiche der Bevölkerung (einschließlich der vom Universitätsleben noch ausgeschlossenen Frauen) zugänglich und gesellschaftsfähig zu machen und darüber hinaus in durchaus gesellschaftsverändernder Absicht zugunsten der Entfaltung einer bürgerlichen Informations- und Wissensgesellschaft einzusetzen. Wissen und Wissenschaft waren für Humboldt ohne entsprechend implementierte Kommunikationsstrukturen undenkbar und folglich untrennbar mit gesellschaftlicher beziehungsweise politischer Öffentlichkeit verbunden. Sein Wissenschaftsverständnis impliziert kommunikative wie performative Kompetenz und möglichst ungehinderte Wissenszirkulation nicht nur innerhalb von Europa, sondern im planetarischen Maßstab, also weltweit.
Sechstens verknüpfen die Humboldtschen Präsentations- und Repräsentationsformen von Wissen Intermedialität, Transmedialität und Ästhetik auf beeindruckende Weise und beinhalten spezifische Verfahren und Techniken der Visualisierung von Wissen, des Ineinandergreifens von Bild-Text und Schrift-Bild, zielen auf eine möglichst simultane Wahrnehmung komplexer Wissensbestände (etwa in der Konzeption des »Naturgemäldes«, das in gewisser Hinsicht eine Weiterentwicklung der Pasigraphie-Vorstellungen der Spätaufklärung darstellt) ab und fördern eine sinnliche, am Erleben und Nacherleben ausgerichtete Aneignung von Wissen unter kollektiven wie individuellen Rezeptionsbedingungen. Gerade in diesem Bereich ist der hohe Grad an Selbstreflexivität im Schaffen Humboldts nicht weniger markant als die Entwicklung jeweils sehr unterschiedlicher und nicht selten experimenteller Darstellungsformen in seinen verschiedenen Buchprojekten.
Siebtens entwickelte Humboldt in diesem Zusammenhang fraktale[3], auf Selbstähnlichkeit gerichtete Konstruktions- und Repräsentationsformen von Wissen in dem Sinne, daß er zum einen in seinen Formen wissenschaftlichen Schreibens literarische Techniken der mise en abyme (und damit Schreibverfahren, in denen die Gesamtheit eines Textes als Modell in nuce beziehungsweise als modèle réduit in verdichteter Form im Text selbst präsent ist) verwandte. Zum anderen erprobte er - nicht nur in seinen Vues des Cordillères, auf die in der Folge noch ausführlicher zurückzukommen sein wird - Anordnungstechniken von Bildern und Grafiken, in denen gleichsam teleskopartig ineinandergeschobene Illustrationen die Beziehung zwischen vermeintlichem Chaos und Fragmenthaftigkeit einerseits und zu Grunde liegender Ordnung im Sinne des Humboldtschen Kosmos andererseits buchstäblich vor Augen führen sollten. In diesem Sinne könnte man auch von einer fraktalen Konstruktion seines Gesamtwerkes sprechen, dessen Einheit nicht durch zentrierende oder totalisierende Strukturen, sondern durch die Relationalität sich wiederholender Muster und Verfahren hergestellt wird.
Angesichts der hier nur kurz skizzierten Aspekte stellt die Humboldtsche Wissenschaft keineswegs das Auslaufmodell einer Wissenschaftskonzeption dar, innerhalb derer man Humboldt lange Zeit als den »letzten Universalgelehrten« verabschieden zu können glaubte. Es handelt sich bei der von Alexander von Humboldt über Jahrzehnte entwickelten und entfalteten Konzeption vielmehr um ein auf relationalen Logiken und weltweitem Vergleich beruhendes Wissenschaftsmodell, das - ebenso in seiner Betonung geoökologischer Aspekte wie in seiner Frage nach Verträglichkeit und Nachhaltigkeit weltweiter Entwicklungen und Produktionsformen, in seiner Projektierung einer Überwindung kolonialer Abhängigkeitsstrukturen wie bezüglich seiner Ausrichtung an einer entschieden multipolaren Entwicklung - einen für das 21. Jahrhundert wegweisenden Charakter besitzt.
Dabei sollen die internen Widersprüche der Humboldtschen Wissenschaftskonzeption wie des Humboldtschen Moderneprojekts keineswegs ausgeblendet werden. Sie ergeben sich ganz so, wie dies bereits der von Humboldt geschaffene Neologismus »Weltbewußtsein« belegt, aus der historisch wie geokulturell bedingten Fundierung seiner Vorstellungen innerhalb der abendländischen Traditionslinien. Denn selbstverständlich läßt sich ein wirklich planetarisches Weltbewußtsein weder allein aus einem vom östlichen Mittelmeerraum ausgehenden Expansions-, Kommunikations- und Bewußtwerdungsprozeß ableiten noch böte eine derartige Geschichtsauffassung eine ausreichende Identifikations- und Anschlußmöglichkeit für nicht-europäische Kulturen und Gemeinschaften. Zugleich aber ist die Humboldtsche Wissenschaftskonzeption auf Grund einer Vielzahl selbstreflexiver Prozesse sehr wohl in der Lage, ihre eigene Herkunft selbst zu problematisieren und dialogisch auf andere kulturelle Traditionen hin zu öffnen.
So ließe sich die Humboldtsche »Weltbeschreibung« sehr wohl als ein Versuch verstehen, in einer Mensch und Natur zusammendenkenden Konzeption die Grundlagen für eine sich im Kosmos abzeichnende Weltwissenschaft zu erarbeiten. Inwieweit sich diese weltwissenschaftliche Perspektivierung gerade auch dort zu erkennen gibt, wo eine im heutigen Sinne regionalwissenschaftliche Blickrichtung zu erwarten gewesen wäre, soll die nachfolgende Analyse von Humboldts Vues des Cordillères erweisen.
[1] Ebda., S. 296.
[2] Ebda.
[3] Ich beziehe mich hier auf Überlegungen und Bestimmungen biowissenschaftlicher Provenienz; vgl. hierzu Cramer, Friedrich: Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen. Mit zahlreichen Abbildungen. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1993, S. 172: "Der Begriff der fraktalen Dimension und der Selbstähnlichkeit ist zunächst ein mathematischer. Bei realen physikalischen und chemischen Objekten, Diffusionskurven, Oberflächen von Kristallen oder von Proteinen wird die Selbstähnlichkeit über alle Längenskalen niemals ideal erfüllt sein. [...] Eine Oberfläche kann man immer weiter in selbstähnliche Fragmente zerlegen." Vgl. Mandelbrot, Benoît B.: Die fraktale Geometrie der Natur. Basel - Boston: Birkhäuser Verlag 1987.
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