Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009 |
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Ottmar Ette
Universität PotsdamUnterwegs zu einer Weltwissenschaft?
Alexander von Humboldts Weltbegriffe und die transarealen Studien3. Weltfragmente
Im Postscriptum zu dem bereits angeführten, auf den 27. Oktober 1834 datierten Brief Humboldts an Varnhagen von Ense entwickelte der mit seinem Kosmos-Projekt ringende Schriftsteller eine zugleich selbstkritische und selbstsichere Poetik des eigenen Schreibens, die auf Grund ihrer Bedeutung hier in voller Länge abgedruckt sei:
Die Hauptgebrechen meines Stils sind eine unglückliche Neigung zu allzu dichterischen Formen, eine lange Partizipal-Konstruktion und ein zu großes Konzentriren vielfacher Ansichten, Gefühle in Einen Periodenbau. Ich glaube, daß diese meiner Individualität anhangenden Radikal-Übel durch eine daneben bestehende ernste Einfachheit und Verallgemeinerung (ein Schweben über der Beobachtung, wenn ich eitel so sagen dürfte) gemindert werden. Ein Buch von der Natur muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen. Worauf ich aber besonders wie in meinen Ansichten der Natur geachtet, und worin meine Manier von Forster und Chateaubriand ganz verschieden ist, ich habe gesucht, immer wahr beschreibend, bezeichnend, selbst scientifisch wahr zu sein, ohne in die dürre Region des Wissens zu gelangen.[1]
Diese Passage mag - bis in die stilistische Gestaltung hinein - den hohen Grad an Selbstreflexion im Humboldtschen Schreiben belegen. Dieses zielt auf eine Simulation der Natur, gleichsam auf eine fraktale Geometrie der Schreibweise, der écriture. Die Verdichtung (allzu) vieler Aspekte in einer einzigen Satzperiode verwandelt Humboldts Sätze geradezu in Naturgemälde, die alles auf einen Blick, in einer einzigen Ausdrucksform, darbieten wollen. Zugleich macht dieses Zitat deutlich, daß eine doppelte Ausrichtung und Kritik nicht nur an einem deutschsprachigen und einem französischsprachigen Bezugsautor, sondern auch an literarischen und an wissenschaftlichen Schreibmodellen besteht. Wie Humboldt sein eigenes Schreiben perspektivisch gleich zu Beginn des zweiten Bandes seines Kosmos im Kapitel »Anregungsmittel zum Naturstudium« literarhistorisch und ästhetisch gerade auch im deutsch-französischen Zwischenraum zwischen Forster und Chateaubriand, Bernardin de Saint-Pierre und Goethe ansiedelte, so versuchte er auch stets, Ästhetik und Wissen, Sinnliches und Intellektuelles, Unmittelbarkeit des Erlebens und Distanz der Reflexion aufeinander zu beziehen[2]. Die Ästhetik einer Simulation der Natur im Buch von der Natur markiert folglich mit Blick auf den Kosmos ein Schreiben, das wohlkalkuliert auf seine Wirkungen beim Lesepublikum bedacht ist und die jeweils zu verwendenden Schreibformen an den behandelten Gegenständen ausrichtet.
Folgerichtig hat Alexander von Humboldt für seine zahlreichen Buchpublikationen, die sich von den erstmals 1790 erschienenen Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein - Mit vorangeschickten, zerstreuten Bemerkungen über den Basalt der ältern und neuern Schriftsteller bis hin zum letzten Band des Kosmos erstrecken, hinsichtlich Aufbau und Strukturierung, Präsentations- und Repräsentationsformen seines Schreibens ständig nach neuen Lösungsmöglichkeiten Ausschau gehalten. Kein Humboldtsches Buch gleicht dem anderen. Auch wenn sich die von Humboldt signalisierten "Radikal-Übel" des Periodenbaus in der Tat in allen seinen Werken nachweisen lassen, so zeigt sich doch, daß das von ihm angestrebte "Schweben über der Beobachtung" - das selbstverständlich nicht an die Stelle der Beobachtung tritt, sondern diese in größere Zusammenhänge einordnet - auf der Ebene der écriture sehr unterschiedliche Verfahren und Lösungen gefunden hat.
Die Vues des Cordillères et Monumens des Peuples Indigènes de l'Amérique sind auf dieser Ebene Humboldts vielleicht radikalstes Buch. Damit mag zusammenhängen, warum dieses hochkomplexe, auf den ersten Blick chaotisch wirkende Buch bis zum heutigen Tag nur auszugsweise und bruchstückhaft ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht wurde[3]: Es blieb zumindest im deutschsprachigen Raum ganz einfach unterschätzt. Das in zwei Bänden im Folio-Format ursprünglich in Paris zwischen 1810 und 1813 erschienene Werk läßt sich nach der rhizomatisch angelegten, freilich auf Abbildungen verzichtenden Strukturierung seiner erstmals 1808 veröffentlichten Ansichten der Natur[4] als ein Versuch verstehen, nun in die Szenerien und Bedingungen der amerikanischen Natur eingebettete Ansichten der Kultur vorzulegen. Diese sollten in ihrer immanenten Poetik der von Humboldt beobachteten und analysierten Vielfalt und Heterogenität der kulturellen Phänomene Amerikas entsprechen und adäquate literarisch-wissenschaftliche Darstellungsformen entwickeln. Humboldt variierend ließe sich sagen, daß ein Buch von der Kultur den Eindruck wie die Kultur selbst hervorbringen müsse. Daß hierbei Natur und Kultur aus Humboldts Sicht nicht voneinander zu trennen sind, wurde bereits mehrfach betont; im übrigen macht schon die Titelgebung des Werkes auf diesen Umstand aufmerksam.
Ohne an dieser Stelle eine ausführliche Analyse von Aufbau und Strukturierung dieser Ansichten der Kordilleren vorlegen zu können[5], sei doch betont, daß wohl kein anderes Humboldtsches Buchprojekt je eine vergleichbare Komplexität der intratextuellen, intertextuellen und intermedialen Beziehungen zwischen den einzelnen Textbausteinen, zwischen Texten und Bildern, Bildtexten und Textbildern erreicht hat. Die wechselseitigen Bezüge zwischen Einleitung, Vorwort und zahlreichen weiteren Paratexten, zwischen den 69 Bildtafeln und den 62 Texten (die sich nicht wechselseitig »illustrieren«, sondern zum Teil gänzlich anderen Thematiken folgen), zwischen Fußnoten und Endnoten, Zitaten und (zum Teil gegenüber Humboldts Haupttext abweichende Meinungen vertretenden) Einschüben und Beiträgen anderer Autoren lassen verschiedenartigste Ansichten entstehen, die zunächst völlig ungeordnet über das Lesepublikum hereinzubrechen scheinen. Das Ineinandergreifen von wissenschaftlicher Eindeutigkeit und literarischer Polysemie, einer kulturellen Polyphonie - in der die unterschiedlichen Kulturen Amerikas in vielen Dokumenten selbst zu Wort kommen sollen - und dem immer wieder beobachtbaren Versuch, mit Hilfe begrifflicher und diskursiver Leitlinien übergreifende weltgeschichtliche und weltkulturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten, erzeugt ein hochgradig fragmentiertes und hybrides Bild-Text-Mobile, das zu keinem Zeitpunkt - und schon gar nicht am Ende des Buches - zur Ruhe kommt. Die den Ansichten der Kordilleren zu Grunde liegende Logik ist relational und dynamisch: kein Buch für Leser, die vom Autor an der Hand genommen werden wollen.
Auch wenn sich Humboldt Jahrzehnte später im Kosmos um eine wesentlich andere, eher linearen Darstellungsmustern verpflichtete Schreibweise bemühte, kommt seinem Brief vom 28. April 1841 erneut an Varnhagen von Ense doch eine große Bedeutung für die Poetik des Fragments nicht nur in seinem Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, sondern auch in den Vues des Cordillères zu:
Der eigentliche Zweck ist das Schweben über den Dingen, die wir 1841 wissen. [...] Daß ein solches Werk nicht vollendet wird von Einem aus dem Kometen-Jahr 1769 ist sonnenklar. Die einzelnen Fragmente sollen so erscheinen, in Massen von zwölf bis fünfzehn Bogen, daß die, welche mich begraben sehen, in jedem Fragmente etwas Abgeschlossenes haben. [...] Die Geschichte der Weltanschauung, die ich ganz fertig habe, soll das ganze zweite Heft füllen.[6]
Weder dem sich erst aus der Vielfalt des Beobachteten ergebenden Schweben über den Dingen noch der stets historisch und empirisch gesicherten Weltanschauung im Humboldtschen Sinne soll hier unser Hauptaugenmerk gelten. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine Poetik des Fragments, die der damals Einundsiebzigjährige konsequent durchdachte. Die einzelnen Stücke, die Humboldt den unterschiedlichsten Themen widmete, sind keine Einzelstücke; sie sind vielmehr in komplexer Weise auf die entsprechenden Tafeln sowie auf die anderen Texte bezogen. Dabei könnte man von der Fragmentartigkeit der Ansichten der Kordilleren wohl sagen, was Erich Auerbach zu Recht vom Alten Testament behauptete: "die einzelnen Stücke gehören alle in einen weltgeschichtlichen und weltgeschichtsdeutenden Zusammenhang."[7] Allerdings ist die Position Humboldts keine gottgleiche statische Position, kein Über-den-Dingen-Stehen, sondern ein von ihm mehrfach betontes dynamisches Schweben über den Dingen aus einer mobilen Beobachterperspektive, die sich stets dem jeweiligen Wissens- und Forschungsstand der Zeit anpaßt und die Vorläufigkeit menschlichen Wissens und »menschhaltiger« Wissenschaft betont.
Setzt man Humboldts Vues des Cordillères in einen Bezug zu den zeitgenössischen Darstellungen Amerikas in der europäischen Reiseliteratur, so wird rasch deutlich, in welch starkem Maße dieses ab 1810 im Kontext seines großen, zwischen 1805 und 1838 publizierten dreißigbändigen Amerika-Werks des Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent die Repräsentationsmuster und Darstellungsmodi des amerikanischen Kontinents revolutionierte. Dieses neue Bild von der »Neuen Welt« beruht auf der Tatsache, daß Humboldt Amerika als voyageur und als philosophe zugleich bereiste, das Schreiben im Angesicht der Dinge mit der Archivarbeit vor Ort sowie jahrelangen Recherchen nach der Rückkehr in die »Alte Welt« verknüpfte. Die empirische Fundierung und literarästhetische Profilierung des Humboldtschen Amerika-Diskurses trugen zur folgenreichen Umgestaltung der Sichtweise Amerikas nicht weniger bei als die Entwicklung einer dynamischen Relationalität, in die alle Fragmente in Humboldts Schreiben und Denken stets eingebunden sind. Die Fragmente sind insoweit »abgeschlossen«, als sie separat gelesen werden können und alle den Humboldtschen Code zur Generierung von Wissen enthalten; sie sind zugleich aber »offen«, insofern diese Codierung - die nicht im Sinne einer eigentlichen Weltformel zu verstehen ist - auf ein Bild von Natur und Kultur abzielt, dem die Interdependenz und Relationalität heterogenster Phänomene zu Grunde liegt. Die von Humboldt so oft beschworene Wechselwirkung zwischen allen Faktoren läßt jedes einzelne Fragment potentiell zu einem modèle réduit, zu einem verkleinerten Strukturmodell weltweiter Zusammenhänge und damit - in der Humboldtschen Semantik des Lexems »Welt« - zu einem Weltfragment werden. Um welche Achsen aber dreht sich dieses Mobile der Weltfragmente?
[1] Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense, a.a.O., S. 23.
[2] Humboldt, Alexander von: Kosmos, a.a.O., Bd. 2, S. 74: "Das Dichterische muß aus dem geahndeten Zusammenhange des Sinnlichen mit dem Intellectuellen, aus dem Gefühl der Allverbreitung, der gegenseitigen Begrenzung und der Einheit des Naturlebens hervorgehen."
[3] Eine vollständige und bibliophile deutschsprachige Ausgabe erschien 2004: Humboldt, Alexander von: Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Ediert und mit einem Nachwort versehen von Oliver Lubrich und Ottmar Ette. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag - Die Andere Bibliothek. Die in der Folge angeführten deutschsprachigen Zitate entstammen dieser Ausgabe.
[4] Vgl. hierzu u.a. Ette, Ottmar: Eine »Gemütsverfassung moralischer Unruhe« - »Humboldtian Writing«: Alexander von Humboldt und das Schreiben in der Moderne. In: Ette, Ottmar / Hermanns, Ute / Scherer, Bernd M. / Suckow, Christian (Hg.): Alexander von Humboldt - Aufbruch in die Moderne. Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 33-55.
[5] Vgl. hierzu die Erläuterungen der Herausgeber in der deutschsprachigen Ausgabe (siehe Fußnote 33) sowie Ette, Ottmar: Weltbewußtsein, a.a.O., S. 213-224.
[6] Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense, a.a.O., S. 92.
[7] Auerbach, Erich: Mimesis, a.a.O., S. 19.
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