Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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Petra Werner
Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Himmelsblau.
Bemerkungen zum Thema „Farben“ in Humboldts Alterswerk Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung

2. Die Verknüpfung von Farbeindrücken mit naturwissenschaftlichem Interesse

Die Farbe „Blau“ hat – dies zeigen u. a. Theologie und Kunstgeschichte –  einen hohen Symbolwert. Besonders eindrucksvoll dokumentiert dies die Wahrnehmung des Himmels durch den Menschen. Wie sich die Krise des Glaubens um 1800 in eine Suche nach einer neuen Glaubensgewissheit umwandelte, die sich „abkehrt von den traditionellen Dogmen und Institutionen und (versucht, d. V.) Religion zu einer Sache des Gemüts, der inneren Gesundheit zu machen“, hat Engelhard Weigl (Weigl, 2005)[1] erwähnt. Als Beispiele für das im Vergleich zu früheren Zeiten veränderte Verhältnis des Menschen zu Himmel und Landschaft wurden von ihm u. a. die Landschaftsschilderungen Jean Pauls und die der Theologie Schleiermachers verpflichteten Bilder Caspar David Friedrichs genannt. Verwiesen sei aber auch auf die neue „Faszination der Aussicht“, die sich zur „Faszination der Höhe“ gesellte und nicht nur in der Malerei, sondern auch in wissenschaftlichen Darstellungen ihren Niederschlag fand. Optische Beispiele dafür sind so genannte „Höhenbilder“ – darunter das von Alexander von Humboldt zur Illustration der Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, nebst einem Naturgemälde der Tropenländer geschaffene Tableau, aber auch jene Höhenkarten Johann Wolfgang von Goethes und Christian von Mechels (Wyder 2004).[2] Alle Autoren widmeten bei der Darstellung des Himmels der Abstufung der Blautöne besondere Liebe und Aufmerksamkeit – neben wissenschaftlicher Exaktheit sollte ästhetisches Vergnügen locken – „so schwebt der Ballon von Gay-Lussac (bei Mechel, d. V.) als kleine Kugel in einem großflächigen illuminierten Wolkenhimmel […]“ (Ebenda, 144). Auch der Schweizer Naturforscher Horace Bénédict Saussure war von der Höhe der Schweizer Berge fasziniert, verwies auf den Zusammenhang zwischen Höhe und der Farbe des Himmels und bekannte, dass ihn die Beobachtung, „dass auf hohen Bergen der Himmel von einem weit dunklern Blau erscheint als in der Ebene“ (Saussure 1792, 93-94) immer beschäftigt habe. Während in Literatur und bildender Kunst nicht nur die Farbe Blau als Farbe des Himmels eine besonders große Rolle spielte,[3] betrachtete Saussure den blauen Himmel bereits mit den Augen eines Naturwissenschaftlers. Seine Darstellungen muten sehr modern an. Er betonte, dass es

  „kein Gegenstand der blossen Neugier (sei), mit Genauigkeit die Farbe des Himmels an diesem oder jenem Orte, unter diesem oder jenem Umstande zu bestimmen. Diese Bestimmung hat Einfluß auf die gesamte Meteorologie, indem die Farbe des Himmels als der Maaßstab der Menge undurchsichtiger Dünste oder Ausdünstungen, welche in der Luft schweben, angesehen werden kann. […] Je reiner die Luft, je tiefer die Masse dieser reinen Luft ist, desto dunkeler erscheint ihre Farbe; die Dünste aber, die damit vermischt sind, wenigstens die, welche sich in keinem Zustande der Auflösung befinden, reflectieren verschiedene Farben, und diese Farben mit dem natürlichen Blau der Luft vermischt bringen alle Nuancen zwischen dem dunkelsten Blau und dem Grau, dem Weiß oder jeder andern Farbe hervor, die in den Dünsten herrschend ist, womit die Luft beladen ist. “ (Saussure 1792, 98-99) 

Humboldt hatte sich zwar von Saussure und auch französischen und englischen Wissenschaftlern beeinflussen lassen – dort waren die Naturwissenschaften, insbesondere Chemie und Physik, besonders weit entwickelt –  aber er ließ sich wie andere seiner deutschen Zeitgenossen von Farbeindrücken tragen, schwelgte in Beschreibungen. In seinem 1808 publizierten Werk Ansichten der Natur verbarg er beispielsweise bei der wissenschaftlichen Erläuterung jenes Phänomens, das als  „Meeresleuchten“ bezeichnet wird, nicht seine Begeisterung. Humboldt hatte sich dem „Meeresleuchten“ in mindestens einer Veröffentlichung (Humboldt 1829) auch naturwissenschaftlich-analytisch zugewandt. Nicht von ungefähr verknüpfte er den Eindruck, den die Leuchterscheinung auf ihn gemacht hatte, mit Farbeffekten im Himmel:  „In dem Ozean erscheinen gallertartige Seegewürme, bald lebendig, bald abgestorben, als leuchtende Sterne. Ihr Phosphorlicht wandelt die grünliche Fläche des unermesslichen Oceans in ein Feuermeer um. Unauslöschlich wird mir der Eindruck jener stillen Tropennächte der Südsee bleiben, wenn aus der duftigen Himmelsbläue das hohe Sternbild des Schiffes und das gesenkt untergehende Kreuz ihr mildes planetarisches Licht ausgossen, und wenn zugleich in der schäumenden Meeresfluth die Delphine ihre leuchtenden Furchen zogen.“ (Humboldt 1849, 7-8) In seiner Beschreibung der Besteigung des Pics de Teneriffe pries Humboldt die Transparenz der Luft, hinter der seiner Meinung nach sogar „der klare Himmel Quitos und Perus“ zurückstehen. Interessant ist, dass er eine Beziehung zwischen der Transparenz der Luft, der Klarheit der Farben und sogar der Lebensweise der Bewohner der Region herstellt – nicht unbeeinflusst durch die für die Zeit typische Sehnsucht nach Italien und Griechenland:

„Auf dieser Durchsichtigkeit beruht vornehmlich die Pracht der Landschaft in der trockenheißen Zone: sie hebt den Glanz der Farben der Gewächse und steigert die magische Wirkung ihrer Harmonien und ihrer Gegensätze. Wenn eine große, um die Gegenstände verbreitete Lichtmasse in gewissen Stunden des Tages die äußeren Sinne ermüdet, so wird der Bewohner südlicher Klimate durch moralische Genüsse dafür entschädigt. Schwung und Klarheit der Gedanken, innerliche Heiterkeit entsprechen der Transparenz der umgebenden Luft. Man erhält diese Eindrücke, ohne die Grenzen von Europa zu überschreiten; ich berufe mich auf die Reisenden, welche jene durch die Wunder der Vorstellungskraft und der Kunst verherrlichten Länder gesehen haben, die glücklichen Himmelsstriche Griechenlands und Italiens.“ (Humboldt 1991, Bd.1, 153-154)

Zahlreich sind seine Verweise auf die Farbe des Meeres (Ebenda, Bd. 1, 203), die größte „geheime Anziehungskraft“ aber, wie es Humboldt selbst ausdrückte, übte der Himmel mit seinen Sternen auf ihn aus (Ebenda, 197). Der Eindruck des tropischen blauen Himmels gehört zu den stärksten Farbeindrücken, die Humboldt in seinen Werken immer wieder beschreibend aufnahm – zuletzt im Kosmos. Dennoch wird hier eine Entwicklung sichtbar: so wirken die Farbbeschreibungen im ersten Band des Kosmos und erst recht in den wissenschaftlichen Ergänzungsbänden im Vergleich zu früheren Publikationen ungewöhnlich kühl, die Emphase bleibt dem zweiten Band vorbehalten, dort, wo der Autor nach eigener Angabe aus dem „Kreise der Objecte in den Kreis der Empfindungen“ tritt und sich beispielsweise der Malerei zuwendet. Humboldts im Kosmos umgesetztes gestalterisches Prinzip, die Trennung des Faktischen von dem, was er „Einbildungskraft“ oder „Phantasie“ nannte, stand für ihn am Ende einer langen persönlichen Entwicklung, die in Paris begonnen hatte. In dieser Stadt, die damals als das Zentrum der modernen Naturwissenschaften galt, hatte er nach der Rückkehr von seiner südamerikanischen Reise bedeutende Wissenschaftler getroffen. Durch ihren Einfluss lernte er nach eigener Einschätzung Strenge und Logik naturwissenschaftlicher Forschung kennen. 1850 äußerte er sich rückblickend, er sei bis zu seiner Begegnung mit Gay-Lussac bzw. mit Arago gleich Priestley [4] und Spallanzani [5] von der „Einbildungskraft“ zu sehr beherrscht gewesen, habe viel, aber rhapsodisch gearbeitet und sei erst dann auf „strengere Bahnen“ gelenkt worden.[6] Gegen eine „Beherrschung durch die Einbildungskraft“ kämpfte Humboldt an. Mit der strikten Trennung zwischen Fakten und subjektiver Wahrnehmung hoffte er, dem Zustand einer Zerrissenheit zu entkommen, die durch den Gegensatz zwischen „Realität“ und „wilder Imagination“ bedingt war. Dem Ideal der Aufklärung hatte es noch entsprochen, Kunst und Wissenschaft in dem Ziel zu vereinen, nicht nur der Natur treu zu sein, sondern auch dem gemeinsamen Kodex der ästhetischen, epistemologischen und moralischen Werte verpflichtet zu bleiben. Für lange Zeit war die Einbildungskraft vereinbar mit der Wissenschaft und wohl auch robuster als die Fakten. Literatur und zeitgenössische Naturwissenschaften gingen zusammen und wurden in Personalunion von Wissenschaftlern wie Albrecht von Haller, Abraham Gotthelf Kästner, Georg Christoph Lichtenberg und Johann Wolfgang von Goethe verkörpert. Dies waren Wissenschaftler, denen Humboldt nahe stand. Erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts änderte sich die Betrachtungsweise, die ursprüngliche Einheit von Kunst und Wissenschaft wurde gelockert – die Fakten erhärteten sich, die Einbildungskraft lief aus dem Ruder, Kunst und Wissenschaft wichen in ihren Zielen und dem kollektiven Persönlichkeitsprofil voneinander ab (Daston 2001, 109).[7] Imagination geriet mehr und mehr in Verruf. Männer wie Johann Wolfgang von Goethe, Johann Ritter und Sir Humphrey Davy hatten warnend ihre Stimme erhoben, Johann Ritter bemerkte mit einer Mischung aus Spott und Traurigkeit, dass die schönsten Ideen oft nicht mehr als Seifenblasen seien. Künstler, Philosophen und Wissenschaftler wie der Experimentalphysiker René Antoine Réaumur warnten davor, dass „Fiktionen“ als „Realität“ ausgegeben würden (Daston 1998, 77). Georges Cuvier behauptete, Lamarck sei nur deshalb „vom Wege abgekommen“, weil er phantastische Konzepte und wahre Entdeckungen unzulässig vermischt habe (vgl. Daston 1998, 78). Verschiedene Autoren haben die Beziehung von Kunst und Wissenschaft in der Geschichte untersucht und auch ihre Einheit[8], die sich mehr und mehr auflöste. 

Alexander von Humboldt war – wie der bereits erwähnte Saussure – ein Repräsentant dieses Trennungsprozesses. Am Anfang stand seine Begeisterung für das Phänomen, die das wissenschaftliche Interesse an der Erklärung weckte, die Farbe diente ihm als „Schlüsselloch“ zu den Naturwissenschaften. Dass diese Vermutung typisch ist für seine Wahrnehmung und sein Herangehen an den Gegenstand, wird nicht nur klar, wenn man sich seine Bekenntnisse in Erinnerung ruft, sondern auch die Gegenstände seiner Interessen aufzählt, die sein Gesamtwerk durchziehen: Farbige (Humboldt sagt „bunte“) und grüne Pflanzen, phosphoreszierende Beläge auf Kartoffeln, das bläuliche Leuchten des Meeres, gefärbte Kristalle, blauer Himmel, blaue und rote Sterne, roter Schnee, roter Hagel – Färbungen haben Alexander von Humboldt seit seiner frühen Jugend interessiert. Beschreibungen von Farbphänomenen und Diskussionen darüber mit Kollegen finden sich bereits in den Jugendbriefen, also seiner vor der Amerika-Reise geführten Korrespondenz. Auf Humboldt, so scheint es, trifft nicht zu, was Thomas Mann über den Jüngling als solchen, vor allem aber wohl über sich selbst, sagte:

„Der Sinn des Auges, das optische Vergnügen, die Fähigkeit, die äußere Welt mit einer gewissen unschuldigen Hingabe und Offenheit zu genießen, ist etwas Spätes. Der Jüngling ist ein nach innen gekehrter, spröder, eher asketischer Mensch. Die Empfänglichkeit des Auges kommt erst später…“ (Mann 1931, 7)

In seinem 1807 veröffentlichten Werk Ideen zu einer Geographie der Pflanzen widmete Humboldt der Himmelsbläue einen ganzen Abschnitt.[9] Diese Arbeit ist  reich an Farbbeschreibungen – wir finden wortreiche Farbschilderungen von Kryptogamen (Humboldt 1807, 48-49) genaue Beobachtungen über die Farbunterschiede bei Chinarinde in Abhängigkeit vom geographischen Vorkommen der speziellen Unterart (ebenda, 85) u. ä. Humboldt spricht sogar vom „malerischen Vorzug“ der Tropenvegetation gegenüber jener der nordischen Länder. Eine Ambivalenz zwischen dem Romantiker einerseits und dem analytischen Aufklärer und dem Entzauberer andererseits bleibt sichtbar. Humboldt selbst sprach von der Verschiedenheit des Genusses, den „der Anblick von Fluren und Waldung […] gewährt […] welcher wesentlich verschieden ist von dem […] welchen die Zergliederung eines organischen Körpers und das Studium seiner bewunderungswürdigsten Struktur erzeugt.“ (Humboldt 1814-1817, 253, 255, 259, 248ff.) Dieser Konflikt bewegte Humboldt ein Leben lang, wie an anderer Stelle (Werner 2004) schon gezeigt wurde. Bereits in seiner Jugend waren ästhetische mit naturwissenschaftlichen Interessen verknüpft. Dies geht aus seinen zwischen 1787-1799 geschriebenen Briefen hervor. In dieser als „Jugendbriefe“ bezeichneten Korrespondenz griff er bei seinen Überlegungen zu wissenschaftlichen Erklärungen von Farbphänomenen in der Natur nicht nur auf aktuelle naturwissenschaftliche, sondern auch auf antike Quellen zurück. So bekannte er, ihn habe das zu den Opera omnia gehörende Buch von Aristoteles Über die Farben, und zwar ausgerechnet jener Abschnitt über die Farben von Blüten und Blättern, zu seinen Arbeiten zur Beziehung zwischen Farbe und Sonnenlicht angeregt. In Über die Farben (Aristoteles 1999, 17-18) hatte Aristoteles den Zusammenhang zwischen Farbänderungen und Reifungsprozess bei Pflanzen behandelt und sich auch mit der Frage beschäftigt, wann und unter welchen Umständen Pflanzen bzw. Pflanzenteile grün werden bzw. bleiben. Aristoteles sah einen Zusammenhang zwischen Farbe, Sonne und Feuchtigkeit. Humboldt führte in einem Brief aus dem Jahre 1791 an Lorenz von Crell aus, wie er diese Ausführungen verstanden hatte: 

„Die ganze Farben-Theorie des Griechen ist ungefähr diese: es giebt nur drey Farben, weiß, schwarz und gelb. Sie rühren von den Elementen her; die weiße Farbe von Luft, Wasser und Erde; die gelbe vom Feuer (dem Brennbaren). Schwarz entsteht durch Mangel am Lichte. Durch die Verbindung der Elemente entstehen mannichfaltige Farben. Wo Wasser und Sonnenstrahlen zusammenwirken, erhalten die Pflanzentheile eine grüne Farbe, wo Wasser und Erde ohne Sonnenstrahlen wirken, eine weiße Farbe. Daher sind die unterirdischen Wurzeln weiß und die Pflanzen über der Erde grün. Also ahndete der Grieche schon, was Ingenhouß und Senebier in unsern Tagen durch ihre geistreichen Versuche zum Range physischer Wahrheiten erhoben haben! – Die unterirdische Vegetation, die ich hier fast täglich zu beobachten Gelegenheit habe, zeigt mir indeß, dass einige Pflanzen auch ohne Sonnenlicht grün und hauptsächlich bunt gefärbt sind.“ (Brief Alexander von Humboldt an Lorenz Crell  ohne Datum, August bis Dezember 1791. In: Jahn/Lange 1973, 149-151). [10]

Humboldt interessierte der Zusammenhang zwischen Färbung und Sonnenlicht[11] – er veröffentlichte dazu 1792 mehrere Arbeiten in chemischen Zeitschriften (Humboldt 1792 a, b) bzw. im Journal de Physique. Das Thema faszinierte ihn so sehr, dass er sich auch in seiner 1793 erschienenen Monographie Florae Fribergensis specimen damit befasste. In dem ersten Abschnitt „Plantae cryptogamicae“ beschrieb er unterirdische Formen oberirdisch vorkommender Pilze und Flechten und widmete sich dem Zusammenhang zwischen Farbe und Lebensform.

Humboldts Anliegen war es, Messergebnisse zu quantifizieren. Dieses Anliegen teilte er mit Saussure, der vom Bestehen einer mathematischen Beziehung im Sinne einer Funktion zwischen „Quantitäten der Dünste am Horizonte und am Zenith des Beobachters“ überzeugt war. Hierbei griff er auf das von Saussure entworfene Cyanometer (= Kyanometer, Cyanometrum, Cyanomètre) (Gehler 1787, 538-539; Gehler 1825-1845, 1367-1372)[12] zurück. Saussure hatte das Gerät auf seinen Reisen durch die Alpen angewendet. Das Cyanometer bestand aus einer runden weißen Pappscheibe, die radial mit farbigen Papierstreifen beklebt war, die von Weiß bis zu sehr dunklem Blau reichten. Den Farbschattierungen, die Saussure durch Zerreiben eines speziellen Pigments, des „Berlinerblaus“, und der Herstellung verschiedener Verdünnungen erreichte, waren Zahlen zugeordnet. Mit Hilfe dieser Scheibe unternahm Saussure den Versuch, die Farbe des Himmels zu messen. Saussure hatte das Gerät  immer weiter entwickelt – von zunächst 16 hatte er es bis auf 40 Farbschattierungen (Saussure 1788-1789 a, b) erweitert. Die Messung des Himmelsblaus mit Hilfe dieses einfachen Instruments hatte viele Wissenschaftler jener Zeit interessiert, die über Farbtheorie nachdachten   allen voran Johann W. v. Goethe (Goethe 1895, u. a. 43, 69).[13] Es ist wahrscheinlich, dass das große Interesse am Himmelblau auch eingebettet war in das mit dem Erscheinen von Newtons Werken zur Optik[14] weltweit ansteigende wissenschaftliche Interesse an Farbphänomenen, ihrer Entstehung usw.[15] Goethe korrespondierte mit zahlreichen Wissenschaftlern über seine Farbtheorie, u. a. auch mit Arthur Schopenhauer und  C. H. Helbig über „Himmelblau“.[16] In der Nachfolge Saussurescher Geräte entstanden Geräte, die auf großen Expeditionen, so der Antarktisreise des Kapitäns John Ross im Jahre 1829, mitgeführt (aber nicht benutzt!) wurden. Mehrere Firmen bzw. Hersteller widmeten sich dem Anliegen, Cyanometer herzustellen – so ist ein von T. M. Paul entwickeltes Cyanometer in Humboldts Instrumentenliste aufgeführt worden – M. Pictet[17] hatte es nach dem Cyanometer von Saussure, das jener auf dem Mont Blanc verwendet hatte, kolorieren lassen.

Saussure war davon überzeugt, „die Farbe des Himmels, durch ein Kyanometer ausgedrückt, als das Maaß der Menge concreter Dünste, die in der Luft schwebend sind, ansehen zu können“ (Saussure 1792, 101). Er hatte schon 1792 die Hoffnung ausgedrückt, „dass diese Beobachtungen in unterschiedlichen Ländern und unter verschiedenen Climaten wiederholt würden.“ (Ebenda, 108)

Er zweifelte nicht daran, so Saussure, dass man daraus interessante Resultate für die Meteorologie ziehen würde (Ebenda). Humboldt hatte den Wissenschaftler schon vor seiner Amerika-Reise konsultiert und war von ihm ermuntert worden, Beobachtungen zur „Himmelsbläue außerhalb Europas zu machen, um Vergleichswerte zu seinen eigenen in den Alpen ermittelten Messergebnissen zu schaffen.“ (Brand 2002, 76) Von Interesse war es, den Einfluss des atmosphärischen Sauerstoffs nach dem Grade dieser Intensität zu überprüfen (vgl. Beck 1959,  Bd. I, 280). Sicher ist, dass Humboldt der Zusammenhang zwischen der Farbintensität und der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre interessierte. Dies belegen auch Humboldts Notizen zum Zusammenhang zwischen dem Sauerstoffgehalt der Luft und dem Phänomen der „Verfärbungen“ sowie zu meteorologischen Erscheinungen wie Sturm, Regen und der Farbe des Himmels.[18] An verschiedenen Stellen äußerte sich Humboldt kritisch über das Saussuresche Cyanometer, spricht von ziemlich ungenauen Instrumenten.[19] Allerdings kam er aus inhaltlichen Gründen noch im Kosmos auf seine in Südamerika gemachten Messungen der Himmelsbläue zurück. Er hatte diese Meßergebnisse bereits in der Relation historique, T. 1[20] veröffentlicht. Im 3. Band des Kosmos, der modernen Ergebnissen der Astronomie gewidmet war, bekannte er:

„[…] nie habe ich oder später mein Freund Boussingault Sterne am Tage erkennen können: obgleich die Himmelsbläue so tief und dunkel war, daß sie an demselben Cyanometer von Paul in Genf, an welchem Saussure auf dem Montblanc 390 ablas, von mir unter den Tropen (zwischen 16000 und 18 000 Fuß Höhe) im Zenith auf 460 geschätzt wurde. “ (Humboldt 1858, 72) 

Humboldt interessierte sich im Zusammenhang mit der Farbe des Himmels bzw. der Zusammensetzung der Atmosphäre auch für ein anderes Phänomen – so genannte „gefärbte Erscheinungen“. Im Kosmos widmete er gefärbten Stäuben[21], die weltweit wandern und z. T. den Himmel verdunkeln, zahlreiche Verweise.[22]



[1] Weigl (2005). Die Idee, die Geschichte der naturwissenschaftlichen Erforschung des „Himmelsblaus“ mit der kulturhistorischen Betrachtung (ausgehend von Horace Benedict de Saussure und Alexander von Humboldt) zu verbinden, stammt von Petra Werner, ebenso der Aufsatz von H. B. Saussure über das Cyanometer und die in E. Weigls Vortrag gezeigte Abbildung.  

[2] Die Darstellung Goethes, angeregt durch Humboldts Tableau, stammt aus dem Jahre 1807.

[3] Erinnert sei auch an die Sehnsucht nach der blauen Blume, von der Heinrich von Ofterdingen in dem Roman des Novalis am Anfang träumt und nach der er auszieht, um sie im Leben zu finden und zu pflücken; sie ist nicht nur das Sinnbild der romantischen Poesie, sondern Lebensideal „[…] ein Lebensideal, das Ideal eines Lebens freilich, das von den gleichen Mächten gelenkt wird, die auch die Dichtung, das Märchen und den Traum lenken: von den irrationalen Mächten der Phantasie und des Gefühls, des Glaubens und der Liebe und der im Unterbewußtsein noch blumenhaft schlafenden Natur.“ (Stich 1966) 

[4] Auf Joseph Priestley wird im Kosmos zweimal verwiesen, allerdings im Band II, der der Reflexion bzw. „Einbildungskraft“ gewidmet war. Humboldt erwähnte den Chemiker zusammen mit jenen Gelehrten, für die Sauerstoff ein ideeller Gegenstand war und sprach von einer Fiktion der Gedankenwelt (vgl. Humboldt 1847, 387 und 519).

[5] Lazzaro Spallanzani wird von Humboldt im Kosmos dreimal genannt, wobei der Autor ihn in seiner Abhandlung über vulkanische Tätigkeit besonders dafür lobte, die Geognosten auf bestimmte Phänomene aufmerksam gemacht zu haben (vgl. u. a. Humboldt 1858, 267).

[6] Vgl. Brief Alexander von Humboldt an Johannes Schulze vom 15. 5. 1850. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Hist. Abteilung, Rep. 92, Nr. 16, V, 56. 

[7] Habermas hat in ähnlichem Zusammenhang von der Ablösung der Erkenntnistheorie durch Wissenschaftstheorie gesprochen, die sich darin zeige, dass das erkennende Subjekt nicht länger das Bezugssystem darstelle (vgl. Habermas 1973, 89).

[8] Vgl. Daston für die Renaissance, u. a. Böhme für die Romantik. 

[9] Dasselbe gilt für Humboldts Werk Relation historique Bd. I.

[10] Brief Alexander von Humboldt an Lorenz Crell ohne Datum, August bis Dezember 1791. In: Jahn/Lange 1973, 149-151)

[11] Eine Frage, die erst Anfang des 20. Jahrhunderts gelöst werden konnte.

[12] Gehler erläutert nicht nur den etymologischen Ursprung, sondern auch die Funktionsweise.

[13]Schon im Juli 1791 bekannte Goethe Johann Voigt gegenüber, dass ihn verschiedene Veröffentlichungen, so über die „blauen Schatten“ und die Beschreibung des Blaumessers von „Herrn de Saussure“ gelesen habe, inspiriert hätten. Goethe gab als Quelle an Journal de Physique vom März 1791, S. 199. Er schrieb: „[…] (ich, d. V.) erinnerte […] mich aller Beobachtungen, welche ich über die blaue Farbe zu machen Gelegenheit gehabt und überdachte aufs neue die Theorie, die ich mir darüber gebildet. Ich würde dieselbe noch länger zurückgehalten und weiter durchdacht haben, um so mehr, da sie den Erklärungen gedachter Naturforscher wiederspricht, wenn mich nicht der Beyfall, den Ew. Wohlgeb. Meinen Gedanken gegeben, sie zusammen zu fassen und sie Ihnen schriftlich zu einem gefälligen Gebrauche mitzutheilen. (Vgl. Goethe 1895, 43)

[14] Das ursprünglich auf Englisch erschienene Werk war später in mehrfach überarbeiteten Auflagen erschienen und erreichte so große Verbreitung.

[15] Dies belegt die Vielzahl von Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften. Genauere Angaben sollen späteren Untersuchungen vorbehalten sein.

[16] Für Helbig ließ Goethe, wie aus einem Brief vom 5. Januar 1821 hervorgeht, zwei „Kyanometer“ anfertigen, ebenso wie schon 1821 für J. H. Meyer. Ebenda, Bd. 34, S. 68, 56.

[17] Pictet machte ebenfalls Untersuchungen zur Strahlenbrechung. Humboldt tauschte sich darüber mit Carl Friedrich Gauß aus. Vgl. Brief Alexander von Humboldt an Carl Friedrich Gauss vom 16. 2. 1827. In: Biermann 1977, 30-31.  

[18] Zu diesem Thema wird eine ausführliche Veröffentlichung vorbereitet. Vgl. u. a. Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Bd. 1, .Bd. 1, S. 58, 108.

[19] So spricht  A. v. Humboldt im 1850 erschienen Band II seines Kosmos  von den „freilich noch bis jetzt so unvollkommenen Instrumenten“, mit welchen  er selbst “das tiefe Dunkel des blauen Himmel“ auf den Kordilleren gemessen habe. In: Humboldt (1858), 390.

[20] Nach Humboldts eigenen Angaben S. 103 bzw. Teil I, S. 143 und 248.

[21] Hierbei stützte sich Humboldt vor allem auf die Arbeiten von Christian Gottfried Ehrenberg. Der untersuchte u. a. die Zusammensetzung der roten Stäube und identifizierte Fossilien. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts konnte die Vielfalt der Ursachen „gefärbter Erscheinungen“ aufgeklärt werden – u. a. Algen.

[22] Zu diesem Thema wird eine Monographie vorbereitet.  

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Letzte Aktualisierung: 28 April 2006 | Kraft

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