Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
Originalfassung zugänglich unter http://www.hin-online.de

HiN - Humboldt im Netz

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Ulrike Leitner

Vielschichtigkeit und Komplexität
im Reisewerk Alexander von Humboldts - Bibliographischer Hintergrund

I. Dimension: Das Reisewerk - Naturkunde in disziplinärer Aufsplittung

Unter dem Gesamttitel “Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent” erschienen bald nach Humboldts Rückkehr ab 1804 über mehr als 20 Jahre hinweg die Lieferungen zu den verschiedenen Ergebnissen, die dann in 6 Partien 29 Bände (19 Folio- und 10 Quartbände) bildeten:

1. Partie: (Reiseschilderung mit Atlanten)

1. 1. Relation historique T. 1-3
1. 2. Vues des Cordillères
1. 3. Atlas géographique et physique (Text u. Tafeln)

Partie 2: Recueil d’observations de zoologie et d’anatomie comparée (T. 1-2)
Partie 3: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle-Espagne (T. 1-2 u. Atlas)
Partie 4: Recueil d'observations astronomiques, d'opérations trigonométriques et de mesures barométriques (T. 1-2)
Partie 5: Essai sur la géographie des plantes accompagné d'un tableau physique des régions équinoxiales
Partie 6. Botanique

6.1. Plantes équinoxiales (T. 1-2)
6.2. Monographie des Mélastomacées (T. 1-2)

6.3. Nova genera et species plantarum (T. 1-7)

6.4. Mimoses et autres plantes légumineuses

6.5. Révision des Graminées (T. 1-3)

Neben einer großen Folio/Quartausgabe gab es auch eine kleine Quart/Oktavausgabe, d. h. die Foliobände wurden nochmals in entsprechend mehr Oktavbänden gedruckt. So ist schon im Entstehungsprozeß dieses Mammutwerks eine erste Parallelität sichtbar, denn Humboldt schrieb gleichzeitig an verschiedenen Bänden.

Die erste Partie, die ”Relation historique”, sollte - begleitet von zwei Atlanten - die eigentliche Reiseschilderung enthalten. Der „pittoreske“ Atlas („Vues des Cordillères“) sollte diese als ein reines Illustrationswerk bildlich ergänzen und Natur und Kunst Amerikas darstellen. Da er jedoch früher als die Reiseschilderung zu erscheinen begann, erhielt er einen Begleittext, der sich im Laufe der Bearbeitung zu einem eigenen Werk auswuchs und der eigentlich immer parallel zur Reiseschilderung gelesen werden müßte. Ebenso verselbständigte sich die Arbeit am zweiten Atlas, dem geographisch-physikalischen, so daß hier ebenfalls ein umfangreicher neuer Text (”Examen critique”), eine Geschichte der Entdeckungsreisen, entstand. Bereits innerhalb der ersten Partie gab es also durch den komplizierten Publikationsprozeß neben der geplanten Parallelität eine zusätzliche Vernetzung zu weiteren Texten.

Die naturwissenschaftlichen Ergebnisse wurden den weiteren Partien zugeordnet: Partie 2 - Zoologie, Partie 4, die sog. Astronomie - geographische Ortsbestimmungen und Höhenmessungen, Partie 5: Pflanzengeographie, Partie 6: Botanik. Daneben wurde - eigentlich inkonsequenterweise - für das Land Neuspanien (Mexiko) eine eigene Partie (Partie 3) geschrieben. Diese 6 Partien erschienen wiederum nicht nur in mehreren Bänden bzw. Untersektionen, sondern wurden auch begleitet von eigenen Bildwerken bzw. Atlanten. Alle Partien gehören also auf bestimmte Weise zusammen, aber auch innerhalb der einzelnen Partien gibt es wiederum interne Zusammenhänge, beispielsweise zwischen Texten und Karten bzw. Abbildungen.

Man bemerkt hier bereits die Vernetzung, die typisch für Humboldts Sicht auf die Natur ist. Sie ist von Humboldt wegen der Komplexität der Natur bewußt gewählt, wie man folgenden Worten seiner Einleitung entnehmen kann: ”Da aber die Gegenstände unserer Forschungen sehr mannigfaltig gewesen waren, konnten wir die Resultate nicht in der gewöhnlichen Form eines Tagebuches mitteilen. Wir taten es daher in mehreren einzelnen Werken, die aber in einem Geiste bearbeitet und durch die Natur der behandelten Phänomene miteinander verbunden sind.”[1]

Wenn man sich also mit einem Teil der Reise (beispielsweise der Orinocoreise, LINK) oder einem bestimmten Thema beschäftigen möchte, so ist hier geraten, die verschiedenen Bände parallel oder gleichzeitig zu lesen. Die Chronologie des Reiseberichts (die ohnehin permanent bei Humboldt unterbrochen wird, s. u. Dim. II) wird ergänzt durch präzise Daten in der sogar unter Humboldt-Forschern kaum bekannten ”Astronomie”. Die Schilderung einer Pyramide in der ”Relation historique” erhält einen zusätzlichen Begleittext in den ”Vues des Cordillères”, hier erweitert durch Quellenmaterial aus historischen Werken, beispielsweise Klassikern wie Herodot, oder aus Berichten anderer Reisender, die vor oder nach Humboldt dieselbe Pyramide besuchten, oder durch Beschreibungen anderer Pyramiden, beispielsweise in Ägypten. Auch Pflanzen bzw. Tiere werden in der Reiseschilderung genannt und beschrieben, und hier wird in Fußnoten oft auf die entsprechenden Publikationen der entsprechenden Spezies in den botanischen oder zoologischen Bänden verwiesen. Überhaupt bilden die Fußnoten im Reisebericht das beste Beispiel für die typische Vernetzung der einzelnen Bände der ”Voyage...” untereinander. Sie sind gewissermaßen die Links, durch die auf das engere Netz des Reisewerks oder das weitere Netz (s. Dim. IV und Dim. VI) verwiesen wird.

So sollte der Leser, der sich für den Zitteraal interessiert, nicht nur den entsprechenden Text in der Zoologie (T. 1, S. 49-92) mit der entsprechenden Tafel X, sondern auch einen gesonderten Abschnitt in der “Relation historique” (Humboldt 1997, II, 141-160) lesen.[2]

Eine besondere Parallelität findet man in den botanischen Bänden. Der Autorenwechsel (von Bonpland und Willdenow in den „Plantes équinoxiales“ zu Kunth in den „Nova genera“) widerspiegelt auch einen Paradigmenwechsel in der botanischen Taxonomie, der sich bei ein und derselben Pflanze in unterschiedlicher Namensgebung bzw. Zuordnung zu unterschiedlichen genera in den verschiedenen Sektionen der Partie zeigt, zum Beispiel die Hermesia casteinofolia LINK.[3]

Zwar spiegelt die disziplinäre Aufsplittung der Ergebnisse seiner Forschungsreise den in dieser Zeit (im ersten Drittel des 19. Jh.) stattfindenden Prozeß der Genese der naturkundlichen Einzeldisziplinen aus der allgemeinen Naturkunde (oder Naturgeschichte) wieder, aber das Besondere bei Humboldt ist gerade neben dieser Aufsplittung die Wiederzusammenführung durch die vielen Querverweise. Denn erst in der Gesamtschau der Einzelsichten ist die Natur für ihn darstellbar. Auch mit anderen Mitteln hat Humboldt versucht, die Mehrschichtigkeit in seinem Werk zu realisieren. Dazu gehören Tableaus, Profilkarten und Tabellen. Ein oft behandeltes Beispiel und Prototyp des Humboldtian writing ist das pflanzengeographische Profil, in dem Humboldt eine schematisierte Ansicht der Anden durch zusätzliche Details so ergänzt hat, daß eine Vielschichtigkeit oder Relationalität sichtbar wird: in bestimmten Höhen werden Pflanzennamen in die Berge eingetragen, am Rande findet der Leser Vergleichsdaten aus den unterschiedlichsten Gebieten in tabellarischer Anordnung in Abhängigkeit von der Höhe. In anderen Karten hat Humboldt derartige Mittel ebenfalls, wenn auch sparsamer, angewandt: an bestimmten Stellen sind beschreibende Texte direkt in die Karten eingetragen LINK, die nun wiederum eine innere Verbindung zum die Karte beschreibenden Text und zum Text der ”Relation historique” haben.[4]

„Carte générale du royaume de la Nouvelle Espagne depuis le Parallele de 16o jusqu’au Parallele de 38o (Latitude Nord)[…]“ (Ausschnitt aus Karte I des Mexiko-Atlasses)

Abb. 1    

„Carte générale du royaume de la Nouvelle Espagne depuis le Parallèle de 16o jusqu’au Parallèle de 38o (Latitude Nord)[…]“ (Ausschnitt aus Karte I des Mexiko-Atlasses)

Oder er ergänzt eine Profilkarte durch geologische Tatsachen, wie Gesteinsvorkommen. All diese Mittel sollten dem Ziel dienen, dem Betrachter eine möglichst umfassende Vorstellung der Landschaft zu geben: neben Angaben zur Ausdehnung solche zur Höhe sowie zusätzliche Details aus anderen naturhistorischen Disziplinen (Geologie, Botanik, Pflanzengeographie, Klimatologie usw.) - also wiederum die Darstellung der Vielschichtigkeit der Natur.

Text und Karte ergänzen einander ebenso wie sich die verschiedenen Texte ergänzen: ”Kartographie und Text, Bild und Schrift erzeugen in seiner Wissenschaftskonzeption kein simples Verhältnis von Illustration und Erläuterung, sondern ein wechselseitiges Verweisungsverhältnis, innerhalb dessen unterschiedlichen Medien jeweils andersartige Aufgaben zugewiesen werden.”[5]

Eine vollständige Übersicht und damit auch ein völlig neuartiger, nichtlinearer Zugang zum Material ist jedoch heute durch den Mangel an entsprechenden Registern kaum möglich. Sie wäre wohl erst durch eine Darstellung der ”vernetzten Struktur” (Ette) realisierbar. Das würde auch inhaltliche Vergleiche derartiger Passagen untereinander erleichtern, die ebenfalls bisher ausstehen.



[1] Humboldt 1997, I, 5

[2] Weitere Beispiele dieser disziplinären Vernetzung innerhalb des Reisewerks findet man in der Realisierung des Prototyps, s. LINK.

[3] Eine unter Botanikern oft vermißte Konkordanz ließe sich auf der Grundlage einer digitalen Edition leicht erstellen. Außerdem wäre eine Anordnung der Pflanzen nach ihren Fundorten dann ebenfalls möglich, was von Interesse für die Biodiversitätsforschung sein könnte.

[4] Ette nennt diese Methode transmedial (Ette 2002, 209).

[5] Ette 2002, 137. Im Kapitel “Kartennetz und Textgewebe” in Ette 2002 ist dieser Zusammenhang für das Beispiel des Mexikowerks (Partie 3) überzeugend dargestellt.

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