Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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    HiN - Humboldt im Netz

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Kurt-R. Biermann

Aus der Vorgeschichte der Aufforderung Alexander von Humboldts von 1836 an den Präsidenten der Royal Society zur Errichtung geomagnetischer Stationen

(Dokumente zu den Beziehungen zwischen A. v. Humboldt und C. F. Gauß)

3. Wurde Gauß von Humboldt zur Beschäftigung mit dem Erdmagnetismus angeregt?

Als Gauß während der 7. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1828 in Berlin bei Humboldt wohnte, hatte dieser seine Aufmerksamkeit auf geomagnetische Beobachtungen und Messungen gelenkt. Humboldt hatte schon vor seiner Amerikareise begonnen, die Erscheinungen des Erdmagnetismus zu untersuchen, und diesem Forschungsgebiet seither ohne Unterbrechung seine besondere Aufmerksamkeit und aktive Tätigkeit geschenkt. Allein in den Jahren 1806 und 1807 hat er rd. 6000 Messungen angestellt[1]. Aber auch Gauß hat sich schon vor seinem Berlin-Besuch für den Geomagnetismus interessiert. Bereits am 1.3.1803 hatte er W. Olbers seine Überzeugung kundgetan, „dass über die magnetische Kraft der Erde noch viel zu entdecken sein möchte, und dass sich hier noch ein grösseres Feld für Anwendung der Mathematik finden wird, als man bisher davon kultiviert“[2]. „Declination und Inclination zugleich für eine beträchtliche Anzahl von Örtern auf sehr verschiednen Punkten der Erde ... würden für mich einen ungemein grossen Werth haben. ... Ich glaube, in diesem Felde werden sich noch höchst interessante Resultate ziehen lassen, die bisher noch ganz im Dunkeln liegen“, schrieb Gauß am 28.11.1806 an C. L. Harding, indem er zugleich Humboldts numerische Resultate erwähnt[3]. Intensiv wandte sich Gauß dann dem Erdmagnetismus ab 1832 zu. Als seine fundamentale Abhandlung Intensitas vis magneticae ad mensuram absolutam revocata Ende 1832 erschien[4], begrüßte Humboldt diese großartige Leistung und übersetzte Gaußens Autorenreferat[5] ins Französische. Als er dies Gauß am 17.2.1833 mitteilte, bemerkte er[6]:

„Ihr bereits mit so schönem Erfolg gekröntes Unternehmen befriedigt meine Eitelkeit auf eine sehr individuelle Weise. Ich träume, daß meine Bitten, die Versuche, die Sie in meinem Hause mit Auffindung der Incl[ination] durch 3 oder 6 Extra-Meridian-Beobachtungen machten, mitgewirkt haben zu dem Entschlusse, diesen verworrenen Theil der Physik aufzuklären.“

Bei aller Anerkennung der Humboldtschen Bemühungen, seine Abhandlung in Frankreich bekanntzumachen, glaubte Gauß, diese Annahme nicht unwidersprochen lassen zu dürfen. Er entgegnete am 13.6.1833[7]:

„Daß die unbedeutenden Versuche, die ich vor 5 Jahren bei Ihnen zu machen das Vergnügen hatte, mich der Beschäftigung mit dem Magnetismus zugewandt hätten, kann ich zwar nicht eigentlich sagen, denn in der That ist mein Verlangen danach so alt, wie meine Beschäftigung mit den exacten Wissenschaften überhaupt, also weit über 40 Jahr; allein ich habe den Fehler, daß ich erst dann recht eifrig mich mit einer Sache beschäftigen mag, wenn mir die Mittel zu einem rechten Eindringen zu Gebote stehen und daran fehlte es früher. Das freundschaftliche Verhältnis, in welchem ich zu unsrem trefflichen Weber[8] stehe, seine ungemein grosse Gefälligkeit, alle Hülfsmittel des Physik[alischen] Cabinets zu meiner Disposition zu stellen und mich mit seinem eignen Reichthum an praktischen Ideen zu unterstützen, machte mir die ersten Schritte erst möglich, und den ersten Impuls dazu haben doch wieder Sie gegeben, durch einen Brief an Weber, worin Sie (Ende 1831) der unter Ihren Auspicien errichteten Anstalten für Beobachtung der täglichen Variation erwähnten.“

Diese, wenn auch höfliche, so doch unmißverständliche Richtigstellung nahm Humboldt nicht sehr freundlich auf; er äußerte sich nämlich nach Empfang des Gaußschen Briefes zu Encke wie folgt[9]:

„Gauß’ Brief ist sonderbar: zuerst etwas Empfindlichkeit, daß ich ihm geschrieben, ,es würde mich ewig freuen, wenn ich mir schmeicheln dürfe, der Aufenthalt in meinem Hause habe etwas dazu beigetragen, ihn zu so tiefsinnigen Untersuchungen  über Magnet[ismus] zu leiten'. Solche atmosphärischen Einflüsse darf man sich nicht erlauben anzunehmen. Ex post wird es ihm leid, und dann geht es in ein kleines Compliment für mich über. So viel ist indeß gewiß, daß der große Mann, als ich zum ersten Male durch Göttingen durchkam[10], sich mit einem Inclinat[orium] benahm, als sei ihm das Ding barbarisch fremd; er benahm sich fast wie die Leipz[iger] Astronomen, die im Gothaischen Congreß in die Refactoren durch das Objektiv sahen.“

Auch ein Schreiben vom 14.7.1833 an den von Humboldt besonders geschätzten Fr. W. Bessel in Königsberg steht unter dem Eindruck der Gaußschen Feststellung, heißt es doch darin u.a.:[11]

„Sie kennen meine Ehrfurcht für Gauß, aber ich gestehe Ihnen, theurer Freund, daß, was wir bisher über seine ihn ganz beschäftigenden magnet[ischen] Bestrebungen sehen, meinen großen Erwartungen nicht ganz entspricht. Es ist ihm nicht geglückt, für Intensität (denn diese allein giebt er uns, und genaue Incl[inations]bestimmung ist mir dringenderes Bedürfnis) so mit einem Schlage einzudringen, wie es Lagrangesche Arbeiten darbieten. Die Poissonsche Idee bleibt doch die Hauptsache[12]: Gauß macht sie nur, durch eine Nadel mehr, anwendbarer, und der Beweis dieser Anwendbarkeit genügt mir numerisch auch eben nicht, da die stündlichen Veränderungen der Inclination und der Einfluß der Wärme dabei vorläufig nicht beachtet werden. Von der mir in Briefen angekündigten Methode, Incl[ination] bis Secunden zu bestimmen, errathe ich nichts; ja nach einem langen Briefe, den ich von Gauß vor kurzem erhalten, sehe ich ihn auf vielen sonderbaren Nebenwegen[13], [...] Nun, da ich Ihnen alles mittheilen darf, ohne Mißdeutung zu besorgen, eine kleine Anekdote, welche zeigt, wie reizbar die Heinberg-Atmosphäre[14] auch einen der größten Geister unserer Zeit macht, wie auch ein feines Lob unter gewissen Umständen keine Gnade findet. Als ich G[auß] schrieb, ich habe troz meiner vielen Beschäftigungen doch selbst seinen 5-6 Seiten langen Auszug der magnet[ischen] Beobachtungen für das Institut ins Französ[ische] übersetzt, ja, um der Gefahr zu entgehen, den mathemat[ischen] Ausdruck nicht immer technisch genau übertragen zu haben, wäre meine Übersetzung Encke vorgelegt worden, hatte ich die unglückliche Idee, hinzuzufügen, ‚es schmeichle meiner Eitelkeit, glauben zu dürfen, daß der 3wöchentl[iche] Aufenthalt in meinem Hause vielleicht dazu beigetragen habe, bei den vielen Versuchen, die er ganze Tage lang einsam auf seinem Zimmer mit dem Gambeyschen Instrum[ent] in verschiedenen Azimuten gemacht, ihn zu einer so wichtigen Bearbeitung und zu so glänzenden davon abhängenden Resultaten zu beleben’. Antwort: ‚Sie müssen nicht glauben, daß mein Aufenthalt in Berlin irgendein Antrieb gewesen ist ... seit 30 Jahren stand der Entschluß in mir fest ...’ Welche wundersame Besorgnis, daß ihm etwas geraubt werden könne, und doch kann ich versichern, daß, als vor 12 bis 15 Jahren[15] G[auß] mich an den Heinberg begleitete und mich mit dem Incl[inatorium] operiren sah, man deutlich bemerkte, er habe nie ein ähnliches Instrument seines Interesses werth gehalten.“[16]

Bemerkenswert ist der Widerspruch in diesen Ausführungen. Einerseits spricht Humboldt davon, daß Gauß' magnetische Bestrebungen nicht ganz seinen Erwartungen entsprächen, andererseits nennt er die Resultate eben dieser Bestrebungen glänzende. Solche Unlogik entsteht aus einer Kränkung.

Diese Vorbemerkungen sind notwendig, weil sie zum Verständnis der bei der Drucklegung des Briefes an den Herzog von Sussex zutage tretenden Mißstimmung Humboldts beitragen: Humboldt war, unbeschadet seiner Anerkennung der jüngsten Verdienste von Gauß um die theoretische Erforschung des Geomagnetismus der Meinung, daß er selbst doch eigentlich die längere praktische Erfahrung habe.



[1] Brief Humboldts vom 2.3.1836 an H. C. Schumacher. Deutsche Staatsbibliothek Berlin (DSB) [jetzt: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung ]. Nachlaß Schumacher (SN). Brief Nr. 15. [Humboldt-Schumacher 1979, S. S. 52-53.]

[2] Wilhelm Olbers. Sein Leben und seine Werke. Hrsg. v. C. Schilling. Bd. II/1. Berlin 1900. S. 128.

[3] GW, Bd. XII (1929), S. 145. – Zu Einzelheiten der Beschäftigung von Humboldt und Gauß mit dem Erdmagnetismus s. G. Wiedemann. [H.s Wirksamkeit auf dem Gebiet des ] Erdmagnetismus. In: A. v. Humboldt. Eine wiss. Biographie, a.a.O., Bd. 3 (1872), S. 55 bis 84. – Körber, a.a.O., S. 1 bis 8.

[4] GW, Bd. V (1867), S. 79 bis 118.

[5] Ebd. S. 293 bis 304. – Humboldt sandte diese Übersetzung an seinen Freund Arago. Am 9.3.1833 erkundigte er sich bei diesem, ob er die Übersetzung erhalten habe, und fügte hinzu: «M. Gauss met un intérêt peut-être trop grand à ce travail qui l’occupe depuis un an et demi, ...tu me ferois surtout plaisir si le Tems (L’Oracle des Séances lu dans toute l'Allemagne) pouvoit donner l’heureuse nouvelle que l’Institut a eu connoissance de ce que mon ami, susceptible comme un géomètre, croit avoir découvert.» (Correspondance d’Alexandre de Humboldt avec François Arago (1809-1853). Hrsg. v. E.-T. Hamy. Paris 1907, S. 117-118.) Bemerkenswert ist diese Briefstelle deshalb, weil schon hier sich eine Stimmung Humboldts äußert, die später, wie gezeigt werden wird, noch viel stärker und unverhüllter zum Ausdruck kam. – Die Humboldtsche Übersetzung des Autorenreferats von Gauß scheint nicht gedruckt worden zu sein; hingegen findet sich im „Temps“ vom 17.4.1833 in einem Bericht über die Sitzung der Académie des Sciences vom 15.4.1833 folgender Passus, den ich der Liebenswürdigkeit von Mlle M. Th. Laureilhe-Arago, Paris, verdanke: «Nouvelles scientifiques diverses. M. Arago communique diverses nouvelles scientifiques qui lui ont été transmises par M. de Humboldt et dont voici la substance: M. Gauss continue les expériences qu’il a entreprises et dont il a déjà été rendu compte à l’Académie pour la détermination de l’intensité absolue du magnétisme terrestre.»

[6] Briefe zwischen A. v. Humboldt und Gauß. Hrsg. v. K. Bruhns. Leipzig 1877. S. 25. – Auch bei Körber, a.a.O., S. 4, wiederholt. [Humboldt-Gauß 1977, S. 44.]

[7] GW, Bd. XII (1929), S. 312 bis 313. – Die zitierte Stelle gleichfalls bei Körber,  a.a.O., S. 4, wiederholt. [Humboldt-Gauß 1977, S. 46-47.]

[8] Wilh. Weber wirkte seit dem 15.9.1831 in Göttingen, wo er bald eine innige Freundschaft mit Gauß schloß. Gauß hatte Weber bei seinem Berliner Aufenthalt 1828 kennengelernt.

[9] Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (AAW) [jetzt: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften]. Nachlaß Encke (EN). Brief Nr. I/124. – Die Rechtschreibung Humboldts wurde beim Abdruck seiner Briefe unverändert beibehalten; nur die Interpunktion wurde dann geändert, wenn dies dem leichteren Verständnis dienlich schien.

[10] s. Anm. 19.

[11] AAW, Nachlaß Bessel (BN). Brief Nr. 16. [Humboldt-Bessel 1994, S. 83-84.]

[12] Gauß bestritt keineswegs, daß Poisson sein Vorläufer in der absoluten Bestimmung der magnetischen Intensität gewesen ist mit der Arbeit: Solution d’un Problème relatif au Magnétisme terrestre (Connaissance des tems ... pour l’an 1828. Paris 1825, S. 322 bis 330); vgl. die Erwähnung Poissons durch Gauß GW, Bd. V (1867), S. 84 bzw. S. 297.

[13] Gauß hatte in seinem Brief vom 13.6.1833 u. a. von seinen telegraphischen Versuchen mit Weber berichtet. Über diese „Liebhabereien“ mokierte sich Humboldt sowohl in dem oben auszugsweise zitierten Brief an Encke wie auch hier Bessel gegenüber. Er hat dann aber später einem Brief an Gauß vom 4.12.1854 (Briefe zwischen A. v. Humboldt u. Gauß, a.a.O., S. 74 [Humboldt-Gauß 1977, S. 120.]) die Erfindung der elektrischen Telegraphie in poetischer Form gefeiert.

[14] Der Göttinger Hainberg wird von Humboldt als „Heinberg“ häufig scherzhaft als Synonym für Göttingen oder Gauß in Briefen benutzt.

[15] Humboldt glaubte wohl, im Januar 1823, als er nach 15jähriger Abwesenheit zum ersten Male für kurze Zeit von Paris aus Berlin besuchte, auf der Hin- oder Rückreise Göttingen berührt zu haben. Diese Erinnerung beruht aber auf einem Irrtum. Gauß berichtete nämlich am 14.1.1827 an Olbers, er habe die „große Freude vor mehreren Monaten gehabt, Humboldt hier persönlich kennen zu lernen“, und es sei ihm „doppelt angenehm, daß er künftig seinen bleibenden Aufenthalt in Berlin nehmen wird“ (Wilh. Olbers, a.a.O., S. 467 bis 468). Humboldt ist also im September 1826, als er nach Berlin fuhr, um seine Übersiedlung dorthin vorzubereiten, bei Gauß in Göttingen gewesen.

[16] Hiermit im Zusammenhang ist folgende Darstellung Quételets sehr interessant: «Ces expériences [magnétiques] furent reprises ensuite et continuées sur une échelle plus grande, avec le concours du célèbre Gauss. Cette reprise n’eut cependant lieu qu'en 1837; je pense même que lorsque je passai par Göttingue, en 1829, et que j’eus l’occasion d’observer l’intensité magnétique avec l’illustre directeur de l’observatoire, il ne s’était jamais occupé de ces sortes de mesures; il ne cacha pas même son étonnement sur la précision à laquelle on pouvait atteindre. Quoi qu’il en soit, Gauss traita bientôt cette partie avec toute la supériorité de talent qu'il avait apportée dans les différentes branches des mathématiques et de leurs applications.» (Ad. Quételet. Notice sur le Baron ... de Humboldt. In: Annuaire Ac. Roy. Sc. de Belgique. Bruxelles. 26 (1860), S. 103.)

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