Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009
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    HiN - Humboldt im Netz

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Christian Suckow

Humboldt und Rußland
Thesen zu Biographie und Werk

8. Rezeptionsgeschichte als Forschungsgeschichte

Bibliographie und Publikationsstatistik geben noch nicht ohne weiteres Auskunft über die eigentliche, wissenschaftliche Rezeption der Werke und Arbeiten. Es handelt sich hier um Forschungsgeschichte, und es müssen hier die einschlägigen nachfolgenden Forschungen anderer auf das Weiterwirken Humboldtscher Forschungsresultate hin untersucht werden.

Humboldt stand bekanntlich in intensiven Wechselbeziehungen zu seinen wissenschaftlichen Zeitgenossen, die auf den uns hier interessierenden Gebieten tätig waren. Bei ihnen allen stand er stets in hohem Ansehen. Das schloß nicht aus, daß in diesen Beziehungen das Verhältnis von Geben und Nehmen sehr unterschiedliche akzentuiert war. Die zeitgenössischen Reisenden trieben eigene Feldforschungen, die entscheidend über Humboldt hinausgingen und über weite Strecken kaum noch an seinen Ergebnissen orientiert waren.

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wird diese Konstellation immer ausgeprägter. Ernst Hiekischs erste, alle bisherigen Einzelforschungen zusammenfassende Monographie über den Ural von 1882 Das System des Urals[1] bezieht sich auf Humboldt noch als historischen Vorläufer nachfolgender Reisender. Bernhard von Cotta - als Herausgeber der Briefe über Alexander von Humboldts Kosmos[2] als Verehrer Humboldts bekannt - führt diesen in seiner ersten die Geologie des Altai zusammenfassenden Monographie von 1871[3] überhaupt nur noch in einer chronologischen Literaturliste auf. Humboldts, auf Klapprothschen Quellen beruhende These von einem nord-südlich verlaufenden Hauptgebirgsstrang in Zentralasien erwies sich wie auch andere seiner Annahmen sehr bald als irrig. In seinem epochemachenden Werk Das Antlitz der Erde, seit 1885 erscheinend, erwähnt Eduard Suess im Zusammenhang der geotektonischen Struktur Zentralasiens Humboldt nur mit einem einleitenden Satz neben Carl Ritter als Vorläufer der wissenschaftlichen Geographie Inner-Asiens.[4]

Die Brüder Schlagintweit, von Humboldt maßgeblich gefördert und ihm zeitlebens in achtungsvoller Dankbarkeit verbunden, hatten ebenso wie später der gleichfalls noch von Humboldt geförderte Petr Petrovič Semenov-Tjan-Šanskij oder auch Ferdinand von Richthofen originäre, die Geographie Zentralasiens erst eigentlich begründende Feldforschungen betrieben, für die Humboldt gerade noch die Anregung gegeben hatte.

Um so interessanter ist das Urteil dieser zu den bedeutendsten Asienforschern und Vertretern ihres Fachs im 19. Jahrhunderts zählenden Geographen. Ich möchte ausnahmsweise zitieren.

Semenov-Tjan-Šanskij nennt Humboldt in einem Brief an Carl Ritter den Vater der Erdkunde von Asien.[5] Und Richthofen unterlegt diese zunächst recht pauschale Feststellung seinerseits mit einer differenzierenden Argumentation, wenn er 1877 schreibt: [Humboldts] Reise, an sich weder durch ihren Umfang noch durch die Neuheit der berührten Gegenden ausgezeichnet, [...] wurde doch ein bedeutsames Ereignis in der Geschichte der Geographie durch die Methode, in welcher Humboldt die Resultate verarbeitete. [... er] ließ sich den Blick durch die Grenzen des selbst Gesehenen und Erlebten nicht einengen, sondern zog, in dem bewundernswerten Werk l’Asie Centrale, den ganzen Kontinent in den Kreis seiner Betrachtung. Er [...] war der erste, welcher, indem er das mühsam von anderen zusammengetragene Material vergleichend betrachtete, ein Gemälde von dem ‘Gezimmer des Kontinents’ entwarf, welches zwar [...] mehrfacher Modifikation bedarf, aber doch hinsichtlich mancher Grundzüge in bewundernswerter Weise das Richtige traf.[6]

Damit erstaunlich übereinstimmend klingt das Urteil eines nicht weniger namhaften russischen Geographen nun des 20. Jahrhunderts, Vladimir Afanasievič Obručev. Obručev hat zu der 1915 in russischer Übersetzung erschienenen Ausgabe von Humbolds Asie centrale[7] eine forschungsgeschichtliche Einführung beigesteuert, in der es heißt: [...] das [...] System [der Gebirgsketten Zentralasien, wie es Humboldt aufstellte] ersetzte die bedeutend weniger vollkommenen Auffassungen der Vorgänger Humboldts und war ein großer Schritt vorwärts [...] Es bildet gewissermaßen die Grenze zwischen zwei Perioden der Erforschung dieser Region - mit ihm endet die Periode der am Schreibtisch entstandenen Thesen, die auf einem dürftigen Tatsachenmaterial beruhten. Dank dem Talent und dem Wissen Humboldts war in seinem System vieles der Wirklichkeit nahe; es machten sich zwar beträchtliche Abänderungen erforderlich, aber einige Grundlinien haben ihre Bedeutung bis in die heutige Zeit bewahrt, und eben dadurch bildet dieses System den Beginn der modernen Periode der Erforschung des Reliefs Zentralasiens.[8]

In diesen kompetenten Urteilen findet sich eine Bewertung Humboldtscher geographischer Forschungen am Beispiel Zentralasiens, der nichts hinzuzufügen ist. Sie benennt zeitbedingte Irrtümer Humboldts, zugleich aber auch kühn vorweggenommene, im wesentlichen richtige Komponenten seiner Aussagen. Und sie benennt das historische Verdienst der Humboldtschen Gesamtschau und seines methodischen Vorgehens, womit er der Forschung grundlegend wichtige Anregungen gegeben hat.

In den erwähnten Urteilen gar nicht in Betracht gezogen ist die nicht weniger bemerkenswerte Tatsache, daß Humboldts Asie centrale sowie Carl Ritters Erdkunde von Asien bis auf Eduard Suess und noch darüber hinaus, also mehr als ein halbes Jahrhundert, die einzigen Gesamtdarstellungen zur Geographie Zentralasiens waren, wie auch immer die mannigfaltigen Feldforschungen des Jahrhunderts verlaufen sein mochten. Man hat hier ein Beispiel für die hartnäckige Resistenz, die eine mit dem Mut zur Hypothese verfaßte Gesamtschau der punktuellen Einzelforschung jederzeit entgegenzusetzen vermag.



[1] Hiekisch, Ernst: Das System des Urals. Eine orographische Darstellung des europäisch-asiatischen Grenzgebirges. Dorpat 1882.

[2] Cotta, Bernhard von: Briefe über Alexander von Humboldt’s Kosmos. Ein Commentar zu diesem Werk für gebildete Laien. 4 Bde. Leipzig 1848-1860.

[3] Cotta, Bernhard von: Der Altai. Sein geologischer Bau und seine Erzlagerstätten. Leipzig 1871.

[4] Suess, Eduard: Das Antlitz der Erde. 3 Bde. Wien/Prag/Leipzig 1885-1909. Zit. Bd. 1, S. 544. und S. 601.

[5] Zit. nach Kick, Wilhelm: Alexander von Humboldts Wirken für die Hochgebirgsforschung in Asien, besonders über die Brüder Schlagintweit. In: Petermann geographische Mitteilungen 113.1969, H. 2, S. 89-99. Zit. S. 91.

[6] Richthofen, Ferdinand von: China. 4 Bde. Berlin 1877-1912. Zit. Bd. 1, S. 724.

[7] Gumbol’dt, A. f.: Central’naja Azija. Issledovanija o cepjach gor i po sravitel’noj klimatologii. Pod red. D[mitrij] N[ikolaevič] Anučina. Moskva 1915.

[8] Obručev, V[ladimir] A[fanasievič]: Izmenenie vzgljadov na rel’ef i stroenie Central’noj Azii ot A. Gumbol’dta do Ed. Zjussa. In: A. f. Gumbol’dt. Central’naja Azija. Pod red. D. N. Anučina. Moskva 1915, S. CCXXXIV - CCLXII. Zit. (russ.) S. CCXXXIX. 

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