Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009 |
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Christian Suckow
Humboldt und Rußland
Thesen zu Biographie und Werk3. Wissenschaftliche Reisen und Landeserforschung - die Situation im Rußland des frühen 19. Jahrhunderts
Die Humboldtschen Reisen waren wissenschaftliche Reisen, und dies benennt eine wissenschaftshistorische Dimension, die durch allgemein-historische Reflexion nur eben eine erste, grobe Bestimmung erfahren kann. Es gilt, die reise- und forschungsgeschichtliche Ausgangslage, bezogen auf ein konkretes Territorium, also Rußland, zu erfassen.
Im Zuge der europäischen Aufklärung war Mitte des 18. Jahrhunderts nach rund drei Jahrhunderten Entdeckungs- und Kolonialgeschichte eine neue Ära wissenschaftlichen Reisens aufgebrochen. Humboldt war deren Repräsentant in einer fortgeschrittenen Phase, und zwar an einer Wende, in der sich die wissenschaftliche Moderne mit ihrer Ausdifferenzierung der Naturkunde in Einzeldisziplinen bereits nachdrücklich ankündigte. Seine amerikanische Reise brachte jenen aufklärerischen Typ der Forschungsreise zu beispielhafter Vollendung.
Die russische Reise hatte in der fortgeschrittenen Situation um 1830 eine derart epochale Bedeutung nicht mehr. Sie konnte objektiv nicht in ähnlicher Weise Dreh- und Angelpunkt, nicht mehr gleichsam Scharnier einer sich zu neuen Bereichen öffnenden Tür sein. Die inzwischen in ihrem Instrumentarium und ihren Methoden ausdifferenzierte Reiseforschung war zu dieser Zeit bereits breite wissenschaftliche Praxis, der Typ des wissenschaftlichen Reisenden auf gut vorbereiteten Expeditionen nahezu alltäglich geworden. Von allen durch Humboldt besuchten russisch-sibirischen Regionen hatte man hinreichend Kenntnis, große, über lange Zeiträume Schritt für Schritt in die Kolonisation einbezogene Territorien waren inzwischen wirtschaftlich erschlossen und besaßen eine funktionierende Verwaltung. Landeserforschung und -erschließung waren seit Peter dem Großen bis weit nach Sibirien hinein signifikant fortgeschritten.
Neuerdings hatten eine Reihe zwischen 1768 und 1774 von der Russischen Akademie der Wissenschaften systematisch vorbereitete und ausgerüstete Expeditionen, die in den Ural und den Süden des Reiches führten, die Landeserforschung nachhaltig gefördert. Im Verein mit ebenso systematischer bergbaulicher Erkundung des Ural und Altai war so gegen Ende des Jahrhunderts ein Kenntnisstand erreicht, der die solide Grundlage bot für weitere Einzelforschung im Übergang zur wissenschaftlichen Moderne auch in Rußland.
Nach einer Atempause im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts brach Ende des zweiten, vor allem im Zusammenhang mit der weiteren montanwirtschaftlichen Erschließung bestimmter Landesteile, ein erneutes Explorationsinteresse auf, in dem die Humboldtschen Forschungen ihren Platz fanden.
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