Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 18. August 2009 |
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Eva-Maria Siegel
Repräsentation und Augenschein.
Organisation des Wissens und Wahrnehmung des Fremden um 1800 am Beispiel der Reiseberichte und -tagebücher Alexander von Humboldts
3. Sinnenwelt und Sinnwelt
Dem Verhaftetsein an technisch vermittelte Umgebungsverhältnisse gegenüber scheinen kulturgeschichtliche Qualitäten in seinen Reiseberichten zunächst in den Hintergrund zu treten. Ich fühle wohl, schreibt er,
“wie sehr ein Amerikareisender gegenüber denen im Nachteil ist, die Griechenland, Ägypten, die Ufer des Euphrat oder die Südseeinseln beschreiben. In der alten Welt sind es die Völker und die Abstufungen ihrer Zivilisation, die dem Gemälde seinen Hauptcharakter geben; in der neuen hingegen verschwindet gleichsam der Mensch mit seinen Produkten inmitten einer wilden und gigantischen Natur. Die menschliche Gattung bietet hier nur einige Überbleibsel eingeborener, kulturell wenig fortgeschrittener Horden oder jene Einförmigkeit der Sitten und Institutionen, die von europäischen Kolonisten an diese ferne Gestade verpflanzt worden sind.”[1]
Gerade im Bezug auf die Darstellung der ‚menschlichen Gattung’ führt die neuere Forschung sein Werk als widersprüchlich vor.[2] Die Wahrnehmung des Fremden berührt sich um 1800 und insbesondere bei Humboldt mit der Organisation eines Feldes der Sichtbarkeit, das mehr am physikalischen als am individuellen Körper interessiert ist. Er gilt dennoch als das Greifbare, begreifbar eben aufgrund seiner “Augenscheinlichkeit”[3]. Gerade diese Form der Sichtbarkeit aber verführe zu einem Kolorit bei den Bildern von Völkern, das, so Humboldt an anderer Stelle, vielfach “glänzender” sei “als wahr.”[4] Den “Stempel des Fremdartigen”[5] drückt demnach eine Sinnwelt auf, die in erster Linie optische Zeichen - Merkmale des Körperwuchses, der Hautfarbe oder des Blickes - hervorhebt. Der performative Charakter von Ethnizität bleibt an stereotype visuelle Attribute gebunden. Typologien geben die Praktiken vor, die verschiedene Kulturen zueinander ins Verhältnis setzen. Morphologie, das heißt die Lehre von der Gestalt, schließt die Wahrnehmung der lebendigen wie der nicht lebendigen Natur in sich ein – und ihr Instrumentarium zur Erschließung der Sinne verfährt grundsätzlich typologisch. Erst Darwin wird um die Mitte des 19. Jahrhunderts entschieden geschichtliche Erkenntnismomente in die Naturbetrachtung einbringen, um phylogenetische Stammbäume als Genealogien zu erstellen. Die enge Relation von Wahrnehmung, Selbst- und Fremdbild, die den fremden Körper wie den eigenen zur Projektionsfläche macht, lässt sich an Humboldts überarbeiteten Reiseberichten besonders gut, deutlicher jedenfalls als in den Tagebuchpassagen beobachten. Diese enthalten an vielen Stellen eine explizite Kritik der Sklaverei, die sich so in den meisten gedruckten Fassungen nicht wiederfindet. Dennoch bleibt die Wahrnehmung des Anderen bei Humboldt durchaus an Abstufungen der ‚Zivilisation’ geknüpft, gerade weil sie um 1800 mit Prozessen der Landnahme korrespondiert. Nicht ‚Menschen, die auf Bäumen wachsen’ findet er wie Kolumbus im Eingangszitat, sondern Menschen, die dem “Geist des Monopols”[6] unterworfen sind. Auch Humboldt reist im Auftrag des Königs; sein Unternehmen ist am Vorabend des Unabhängigkeitskrieges in die Verfügung über das Land durch die spanische Regierungsmacht eingebunden.[7]
Jene Bewaffnung der Sinne, die es erlaubt, Kenntnisse über die Erdoberfläche “als einen vielseitigen Körper mit verschieden geneigten Flächen”[8] zusammenzutragen, enthebt dennoch nicht der Beschreibung der dazugehörigen Bewohner. Der Kulturbegriff im engeren Sinne wird dabei aber weitgehend der eigenen Kultur vorbehalten – dem “Gemisch unserer Laster und Vorurteile”[9], wie Humboldt betont. Der Nutzbarkeit “physikalische[r] Kenntnis der Gegenstände” bleibt er gleichwohl untergeordnet. Nicht, weil die kulturelle Differenz, die damit installiert wird, so Humboldt, weniger “gewaltig ergreift”; sondern weil sie, wie er ausführt, “einem anderen Kreis von Vorstellungen und Empfindungen”[10] entstammt. Zu ihnen zählt er ausdrücklich die Kindheitseindrücke. Die Suche nach dem “Menschen im Naturzustande”[11], nach einem für ursprünglich erachteten Typus der Gattung, wandelt sich auf diese Weise in eine Perspektive der “Familienähnlichkeit” aller “kosmogonischen Überlieferungen”[12] um. Das “gepriesene Glück des Menschen im Urzustand”[13], das Rousseau beschwor und das Forster auf Tahiti gefunden zu haben glaubte[14], erweist sich bei Humboldt als trügerisch in höchstem Maße. Die Welt der sinnlichen Wahrnehmung von Landschaften, Gütern und Menschen erscheint innerhalb der Sinnwelt der Repräsentation, wie sie in seinen Schriften vorgeführt wird, ganz und gar praktischer Natur. Sie gibt dem Leser die Gedanken und Taten eines Naturbetrachters zur Kenntnis, der mehr als jeder andere die Erscheinungen der Außenwelt in eine Richtung zu lenken suchte, in der sie den Sonden der Sinne zugänglich ist.
[1] Alexander von Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, [Anm. 30], S. 35.
[2] Vgl. Ottmar Ette u.a. (Hrsg.): Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne [Anm. 29]; Alexander Strack: Alexander von Humboldts amerikanisches Reisewerk. Ethnographie und Kritik um 1800, in: The German Quarterly 69 (1996) 3.
[3] Alexander von Humboldt: Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, [Anm. 6], S. 346.
[4] Ebd., S. 39.
[5] Ebd., S. 40.
[6] Ebd., S. 113.
[7] Vgl. ebd., S. 347.
[8] Ebd., S. 87.
[9] Ebd., S. 253.
[10] Ebd., S. 78.
[11] Ebd., S. 97.
[12] Ebd., S. 98.
[13] Ebd., S. 119.
[14] Vgl. hierzu Thomas Strack: Exotische Erfahrung und Intersubjektivität. Reiseberichte im 17. und 18. Jahrhundert. Genregeschichtliche Untersuchung zu Adam Olearius - Hans Egede - Georg Forster. Paderborn 1994 (Kasseler Studien zur deutschsprachigen Literaturgeschichte; Bd. 2) (Reihe Literatur- und Medienwissenschaft; 24), S. 215.
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