@misc{WilkensSuetterlinWelleretal.2014, author = {Wilkens, Martin and S{\"u}tterlin, Sabine and Weller, Nina and Horn-Conrad, Antje and Kampe, Heike and Eckardt, Barbara and G{\"o}rlich, Petra and J{\"a}ger, Sophie and Zimmermann, Matthias and Mitsch, Wolfgang}, title = {Portal Wissen = Zeit}, number = {02/2014}, organization = {Universit{\"a}t Potsdam, Referat f{\"u}r Presse- und {\"O}ffentlichkeitsarbeit}, issn = {2194-4237}, doi = {10.25932/publishup-44084}, url = {http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:517-opus4-440842}, pages = {99}, year = {2014}, abstract = {„Was ist also 'Zeit'?" seufzt Augustinus von Hippo im 11. Buch seiner „Confessiones" melancholisch, und f{\"a}hrt fort „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erkl{\"a}ren, weiß ich es nicht." Auch heute, 1584 Jahre nach Augustinus, erscheint 'Zeit' immer noch r{\"a}tselhaft. Abhandlungen {\"u}ber das Wesen der Zeit f{\"u}llen Bibliotheken. Oder eben dieses Heft. Wesensfragen sind den modernen Wissenschaften allerdings fremd. Zeit ist - zumindest in der Physik - unproblematisch. „Time is defined so that Motion looks simple" erk{\"a}rt man kurz und trocken, und verabschiedet sich damit vom Augustinischen R{\"a}tsel oder der Newtonschen Vorstellung einer absoluten Zeit, deren mathematischen Fluss man durch irdische Instrumente eh immer nur n{\"a}herungsweise erfassen kann. In der Alltagssprache, selbst in den Wissenschaften, reden wir zwar weiterhin vom Fluss der Zeit, aber Zeit ist schon lange keine nat{\"u}rliche Gegebenheit mehr. Zeit ist vielmehr ein konventioneller Ordnungsparameter f{\"u}r {\"A}nderung und Bewegung. Geordnet werden Prozesse, indem eine Klasse von Prozessen als Z{\"a}hlsystem dient, um andere Prozesse mit ihnen zu vergleichen und anhand der tempor{\"a}ren Kategorien „vorher", „w{\"a}hrend" und „nachher" anzuordnen. Zu Galileis Zeiten galt der eigene Pulsschlag als Zeitstandard f{\"u}r den Flug von Kanonenkugeln. Mit zunehmender Verfeinerung der Untersuchungsmethoden erschien das zu unpraktisch: Die Weg-Zeit-Diagramme frei fliegender Kanonenkugeln erweisen sich in diesem Standard ziemlich verwackelt, schlecht reproduzierbar, und keineswegs „simpel". Heutzutage greift man zu C{\"a}sium-Atomen. Demnach dauert ein Prozess eine Sekunde, wenn ein 133Cs-Atom genau 9 192 631 770 Schwingungen zwischen zwei sogenannten Hyperfeinzust{\"a}nden des Grundzustands vollf{\"u}hrt hat. Und ein Meter ist die Entfernung, die Licht im Vakuum in exakt 1/299 792 458 Sekunden zur{\"u}cklegt. Gl{\"u}cklicherweise sind diese Daten im General Positioning System GPS hart kodiert, so dass der Nutzer sie nicht jedes Mal aufs Neue eingeben muss, wenn er wissen will, wo er ist. Aber schon morgen muss er sich vielleicht ein Applet runterladen, weil der Zeitstandard durch raffinierte {\"U}berg{\"a}nge in Ytterbium ersetzt wurde. Der konventionelle Charakter des Zeitbegriffs sollte nicht dazu verf{\"u}hren zu glauben, alles sei irgendwie relativ und daher willk{\"u}rlich. Die Beziehung eines Pulsschlags zu einer Atomuhr ist absolut, und genauso real, wie die Beziehung einer Sanduhr zum Lauf der Sonne. Die exakten Wissenschaften sind Beziehungswissenschaften. Sie handeln nicht vom Ding an sich, was Newton und Kant noch getr{\"a}umt haben, sondern von Beziehungen - worauf schon Leibniz und sp{\"a}ter Mach hingewiesen haben. Kein Wunder, dass sich f{\"u}r andere Wissenschaften der physikalische Zeit-Standard als ziemlich unpraktisch erweist. Der Psychologie der Zeitwahrnehmung entnehmen wir - und jeder wird das best{\"a}tigen k{\"o}nnen - dass das gef{\"u}hlte Alter durchaus verschieden ist vom physikalischen Alter. Je {\"a}lter man ist, desto k{\"u}rzer erscheinen einem die Jahre. Unter der einfachen Annahme, dass die gef{\"u}hlte Dauer umgekehrt proportional zum physikalischen Alter ist, und man als Zwanzigj{\"a}hriger ein physikalisches Jahr auch psychologisch als ein Jahr empfindet, ergibt sich der erstaunliche Befund, dass man mit 90 Jahren 90 Jahre ist. Und - bei einer angenommenen Lebenserwartung von 90 Jahren - mit 20 (bzw. 40) physikalischen Jahren bereits 67 (bzw. 82) Prozent seiner gef{\"u}hlten Lebenszeit hinter sich hat. Bevor man angesichts der „Relativit{\"a}t von Zeit" selbst in Melancholie versinkt, vielleicht die Fortsetzung des Eingangszitats von Augustinus: „Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht g{\"a}be, wenn nichts verginge, und nicht k{\"u}nftige Zeit, wenn nichts herank{\"a}me, und nicht gegenw{\"a}rtige Zeit wenn nichts seiend w{\"a}re." Tja - oder mit Bob Dylan „The times they're a changing". Ich w{\"u}nsche Ihnen eine spannende Zeit bei der Lekt{\"u}re dieser Ausgabe. Prof. Dr. Martin Wilkens Professor f{\"u}r Quantenoptik}, language = {de} }