Gespiegelte Fassung der elektronischen Zeitschrift auf dem Publikationsserver der Universität Potsdam, Stand: 5. Juli 2011 |
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HiN XII, 22 (2011)
Über den Autor
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Reinhard Andress
Alexander von Humboldt und Carlos Montúfar als Reisegefährten:
ein Vergleich ihrer Tagebücher zum Chimborazo-AufstiegZusammenfassung
Als Alexander von Humboldt im Juni 1802 von Quito aus zum Rest seiner lateinamerikanischen Forschungsreise aufbrach, begleitete ihn, abgesehen von Aimé Bonpland, Carlos Montúfar bis nach Europa zurück begleitet, u.a. auch auf beim Versuch, den Chimborazo zu ersteigen. Bis kurz vor der Stadt Cajamarca im heutigen Peru schrieb Montúfar ein relativ unbekanntes Tagebuch zur Reise. Nach einem kurzen Ausflug in das Leben von Humboldts Begleiter steht im Zentrum der weiteren Ausführungen die Frage, ob sein Tagebuch ein anderes Licht auf Humboldt und speziell auf den Aufstiegsversuch wirft. Das läuft auf einen Vergleich der Tagebücher der beiden Reisegefährten hinaus und auf den Versuch, die scheinbaren Widersprüche aufzulösen.
Abstract
When Alexander von Humboldt left Quito in June 1802 in order to undertake the rest of his Latin-American trip of exploration, he was accompanied, aside from Aimé Bonpland, by Carlos Montúfar all the way back to Europe, including the attempt to scale the Chimborazo. Up to shortly before the city of Cajamarca in today’s Peru, Montúfar wrote an relatively unknown diary account of their travels. After a brief excursion into the life of Humboldt’s companion, the question is considered whether his diary sheds a different light on Humboldt and specifically on the mountain climb. That amounts to a comparison of the diaries of the two travel companions and to an attempt to explain the apparent contradictions.
Resumen
Cuando Alexander von Humboldt salió de Quito en junio de 1802 para continuar con el resto de su viaje de exploración por la América Latina, fue acompañado por Carlos Montúfar además de Aimé Bonpland hasta que volvieron a Europa. Este trayecto incluía la tentativa de llegar a la cima del Chimborazo. Hasta un poco antes de la cuidad de Cajamarca que está en el Perú de hoy día, Montúfar mantenía un diario relativamente no conocido del viaje. Después de una breve excursión por la vida del compañero de Humboldt, el artículo actual trata la pregunta de si su diario presenta a Humboldt bajo un aspecto diferente. Termina con una comparación de los diarios de estos dos compañeros de viaje y con explicar las aparentes contradicciones.
In seinem Aufsatz „Wo ist Carlos Montúfar?“ ging Daniel Kehlmann darauf ein, warum er in seinem Bestseller Die Vermessung der Welt (2005) die historische Figur des Montúfar in seinem immerhin historischen Humboldt-Roman unterschlagen hatte. Schließlich war dieser ab Juni 1802 neben dem französischen Botaniker Aimé Bonpland (1773-1858) das dritte ständige Mitglied der lateinamerikanischen Forschungsreise Humboldts, die insgesamt von 1799 bis 1804 dauerte. Die Frage des Aufsatztitels führte zu ästhetischen Überlegungen: Als Erzähler habe Kehlmann Bonpland zum „aufmüpfigen Widerpart“ (Kehlmann: 15) Humboldts aufbauen wollen:
Viele Dutzend Menschen mochten mit Humboldt den Kontinent durchstreift haben, aber meine Dramaturgie verlangte, daß er und Bonpland, umgeben bloß von den Randfiguren wechselnder Führer, miteinander allein blieben (Kehlmann: 16).
Kurz und gut: “Also mußte ich auf Carlos Montúfar verzichten” (Kehlmann: 15).
Kehlmanns Dramaturgie zeigt sich auch sehr deutlich im Kapitel zum Chimborazo-Aufstieg, das schlicht mit „Der Berg“ überschrieben ist und aus dem der Autor eine „Episode der Verwirrung und taumelnden Ziellosigkeit“ (Kehlmann: 20) gemacht hat, bedingt durch die Halluzinationen, die sich bei der Höhenkrankheit einstellen. Dabei wünscht Bonpland Humboldt den Tod; die Reise, die er inzwischen mit großer Ironie sieht, ist ihm zu viel geworden. Humboldt fühlt sich indessen schuldig wegen eines Hundes, der am Orinoco wilden Tieren vermutlich zum Opfer gefallen war und der ihm in der Höhe erscheint. Die objektivierende Spärlichkeit von Humboldts Tagebuchangaben zur eigenen Person beim Chimborazo-Aufstieg und die Tatsache, dass es ebenfalls von Bonpland keine überlieferten Aussagen gibt, laden einen Schriftsteller wie Kehlmann gerade dazu ein, den Aufstieg künstlerisch auszugestalten. Dabei eröffnet er uns im Chimborazo-Kapitel und überhaupt im ganzen Roman Perspektiven, die uns seine Figuren als Menschen mit Widersprüchen erscheinen lassen. Er bietet uns eine mögliche Wahrheit der subjektiven Seite des Aufstiegs an.
Nun ist es aber so, dass es vom erwähnten Montúfar ein wenig bekanntes Tagebuch gibt, das dieser ab Quito bis kurz vor Cajamarca im heutigen Peru (9. Juni bis 10. September 1802) führte und das somit auch den Chimborazo-Aufstieg am 23. Juni einschließt. Im Folgenden lassen wir die künstlerisch-subjektive Wahrheit in der Vermessung der Welt bei Seite und kehren zur Geschichte zurück, schließen Montúfar bewusst in unsere Betrachtung ein und fragen uns, ob sein Tagebuch ein anderes Licht auf Humboldt und speziell auf den Aufstieg wirft. Das läuft auf einen Vergleich der Tagebücher der beiden Reisegefährten hinaus. Während Kehlmann fragte, wo Montúfar sei, wenden wir uns zunächst der Frage zu, wer er überhaupt war.
Carlos Montúfar y Larrea entstammte einer aristokratischen Familie; sein Großvater, Don Juan Pío Montúfar y Fraso, der erste Marqués de Selva-Alegre, war vom spanischen Hof als Präsident der Real Audiencia von Quito entsandt worden, eine Funktion, die er von 1753 bis zu seinem Tode 1761 innehatte.[1] Sein ältester Sohn, Don Juan Pío Montúfar y Larrea, der zweite Marqués de Selva-Alegre, war politisch-progressiv in Quito engagiert; am 10. August 1809 beim ersten Unabhängigkeitsversuch Ecuadors spielte er eine führende Rolle, was ihn letztendlich zu einem Flüchtling machte. Dessen zweiter Sohn Carlos, 1780 geboren, konnte noch eine geschützte Jugend und eine Bildung in Philosophie und den Geisteswissenschaften an der Universidad de Santo Tomás de Aquino genießen, wo er 1800 das Studium mit einem „maestro de artes“ abschloss.
Der zweiundzwanzigjährige Montúfar lernte den zehn Jahre älteren Humboldt im Januar 1802 kennen, als dessen Forschungsreise den Weg nach Quito nahm und bei Montúfars Vater freundliche Aufnahme fand, sowohl in dessen Residenz in der Stadt als auch auf der Finca der Familie im Chillo-Tal. So sehr muss der junge Sohn Humboldt beeindruckt haben, dass er sich entschloss, ihn zum dritten ständigen Mitglied der Expedition zu machen, wobei er einen anderen Anwärter, den Botaniker, Astronomen und Geographen Franciso José de Caldas y Tenorio (1768-1816), zu dessen großer Eifersucht zurückstellte. In einem Brief vom 21. Juni 1802 an den berühmten botanischen Kollegen José Celestino Mutis (1732-1808) in Bogotá beschrieb Caldas Montúfar als Humboldts „Adonis“ (Caldas: 182),[2] was sicher der Diskussion um Humboldts mögliche Homosexualität Nahrung gab. Im Chillo-Tal auf dem väterlichen Besitz brachte er jedenfalls Montúfar das Skizzieren von Landkarten bei, gemeinsam bestiegen sie in der Nähe Quitos den Antisana, den Pichincha und den Cotopaxi, bevor der Chimoborazo in Angriff genommen wurde. Was persönliche Angelegenheiten betrifft, gibt es in Humboldts Tagebüchern, wie erwähnt, nur sehr spärliche Angaben, doch lesen wir im Zusammenhang mit dem Aufstieg auf den Antisana am 15. und 16. März 1802 bezüglich einer in der Höhe verbrachten Nacht folgende Sätze, die Humboldts ausführlichste Aussage zu Montúfar darstellen:
J’étais couché dans le même lit avec Charles Montúfar, second fils du M[ar]quis de Selvalegre, avec lequel nous avons vécu [!] depuis notre arrivée à Quito dans la plus grande intimité, jeune officier plein d’amabilité et avec cette facilité de tout apprendre qui distingue le vrai talent ... Le pauvre garçon eut des maux de ventre, de poitrine, de la colique ... Nous nous couchâmes manque de lumière à 7h du soir. Que cette nuit nous parut longue ... et cruelle. Je m’offris plusieurs fois de me lever pour faire chauffer de l’eau pour mon ami pour y mettre les pieds. Il résistait sans cesse, car le vent soufflait et hurlait comme en pleine mer. (Humboldt 1986, Teil I: 179-80) [3]
Diese Sätze eindeutig im Sinne einer homosexuellen Beziehung angesichts romantischer Männerfreundschaften im 19. Jahrhundert auszulegen, ginge wohl zu weit. Ohnehin meint der Historiker Teodoro Hampe Martínez lakonisch, „[m]ucha tinta han gastado“ (712) in der Frage, was hinter Caldas’ Adonis-Äußerung steckt, einer Frage, die letztendlich nicht eindeutig zu klären ist. Klar ist nur, dass Humboldt eine große Sympathie für Montúfar besaß. Er wurde in die Expedition aufgenommen und begleitete Humboldt und Bonpland ab Juni 1802 von Quito auf dem Landweg durch die Cordilleras bis Lima, auf dem Seeweg über Guayaquil bis Acapulco, von dort über Mexico-Stadt bis Veracruz, wieder auf dem Seeweg über Havanna nach Philadelphia und zum Besuch bei Thomas Jefferson in Washington und schließlich bis nach Paris, wo die Forschungsreise im August 1804 zu Ende ging.
Vermutlich Anfang 1805 zog Montúfar nach Madrid weiter, wo er eine militärische Ausbildung an der Real Academia de Nobles erhielt. Dort ging es ihm finanziell nicht besonders gut, wie ein Brief vom Mai 1806 an Humboldt bezeugt, in dem er den alten Freund um weitere Unterstützung bittet (vgl. Montúfar 2002: 719-20). Nach der erwähnten Ausbildung diente er in der spanischen Armee und kämpfte gegen die Invasion Napoleons in der Schlacht von Bailén, wo er sich wahrscheinlich auszeichnete, weil er zum Oberstleutnant („teniente coronel“) ernannt wurde. Im März 1810 kehrte er von Cádiz aus nach Lateinamerika zurück, und zwar mit dem Auftrag des inzwischen in Spanien regierenden Consejo de la Regencia, sich in Bogotá und Quito die rebellischen Beschwerden anzuhören, Abhilfe zu schaffen und letztendlich der Regencia untergeordnete Provinzregierungen zu bilden. Nach Quito zurückgekehrt, wandte er sich aber den revolutionären Kräften zu und ernannte seinen eigenen Vater zum Präsidenten der Provinzregierung Quitos, die sich im Dezember 1811 von Spanien unabhängig erklärte. Davor und danach gab es Unabhängigkeitskämpfe, an denen sich Montúfar in Guaranda und Cuenca im heutigen Ecuador beteiligte; schließlich aber fiel er in die Hände Spanien loyaler Truppen. Er wurde 1814 nach Panamá ins Gefängnis geschickt, konnte jedoch entfliehen, schlug sich nach dem Cauca-Tal in heutigen Kolumbien durch, wo er Kontakt mit Simón de Bolívar (1783-1830) aufnahm, sich seinen Truppeneinheiten einfügte und im Dezember 1814 zusammen mit dem späteren „Libertador“ von Venezuela, Kolumbien, Ecuador und Peru in Bogotá siegreich einziehen konnte. Danach beteiligte sich Montúfar an weiteren Kämpfen in Palo und in Cuchilla de Tambo, wobei letztere Schlacht sehr schlecht für ihn und seine Truppen ausging. Er musste wieder fliehen, geriet erneut in Gefangenschaft, wurde nach Buga im heutigen Kolumbien gebracht, zum Tode verurteilt und am 31. Juli 1816 standrechtlich erschossen. Im Juni 1922 wurden seine sterblichen Überreste von Buga nach Quito überführt, wo sie feierlich in der Kathedrale ihre letzte Ruhestätte fanden.
Was für Gespräche Humboldt und Montúfar bezüglich der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen miteinander geführt haben mögen, wissen wir nicht. Doch wird der von den Idealen der französischen Revolution getragene Humboldt, der somit auch den kolonialen Zuständen in Lateinamerika kritisch gegenüberstand, vermutlich nicht wenig Einfluss auf den jungen Mann ausgeübt haben. Dass Montúfar durch Humboldt und die Reise sein Land erst richtig kennen lernte und Stolz darauf entwickelte, ist naheliegend. Später erwähnt Humboldt den jungen Begleiter nie, ohne auf seinen tragischen Tod hinzuweisen, möglicherweise aus einem Schuldgefühl, indirekt dazu beigetragen zu haben (vgl. Humboldt 2006: 138 u. 160).[4]
Entdeckt wurde das Tagebuch Montúfars am Ende des 19. Jahrhunderts von Marcos Jiménez de la Espada: „No recuerdo en este momento dónde lo copié; creo que en alguno de los archivos ó bibliotecas de Madrid […]“ (Montúfar 2008: 327, Anm. 1).[5] Angesichts der merkwürdigen Rechtschreibung, Federstriche, Korrekturen und Hinzufügungen sei er überzeugt gewesen, es sei echt (vgl. Montúfar 2008: 327, Anm. 1). Wie das Manuskript nach Madrid gelangt ist, bleibt unklar; man muss vermuten, dass Montúfar es selbst dorthin gebracht und es einer unbekannten Person zur Aufbewahrung gegeben hatte, die es dann einer Bibliothek überließ, an die sich aber Jiménez de la Espada, wie oben zitiert, nicht mehr erinnern konnte. Jedenfalls gelangte das Tagebuch etwa 1967-68 über die New Yorker Buchhandlung Lathrop C. Harper in die Lilly Library der Indiana University, wo es sich noch heute befindet.[6]
Man kann sich vorstellen, dass der junge Montúfar von seinem Mentor dazu animiert wurde, ein Tagebuch zu führen. Humboldt ging ihm schließlich mit gutem Beispiel voran. Jedoch lässt sich wiederum nur vermuten, warum das Tagebuch am 10. September „bruscamente en medio de la última página“ abbricht, wie es Jiménez de la Espada beschreibt (Montúfar 2008: 327, Anm. 1). Hampe Martínez umschreibt es auf ähnliche Weise: „está lamentablemente trunca, pues el relato queda suspendido […]“ (713). Kein Ereignis der Reise an sich scheint den Abbruch motiviert zu haben; davon ist auch nichts in Humboldts eigenem Tagebuch zu dem Zeitpunkt nachzulesen. Möglich ist, dass die weiteren Teile des Tagebuchs verloren gegangen sind. Dagegen spricht allerdings, dass das Tagebuch abrupt abbricht. Hinzu kommt, dass dreizehn leere Seiten im verwendeten Heft folgen, die durchaus noch hätten beschrieben werden können.[7]
Wie dem auch sei, Jiménez de la Espada schätzt das Tagebuch als interessante Kuriosität ein: „curioso, por lo que interesa al gran sabio berlínes y ser obra de su querido amigo y constante compañero […]“ (Montúfar 2008: 327, Anm. 1). In seiner Kritik ist Hampe Martínez etwas differenzierter: „Aunque los apuntes que realiza nuestro personaje en dicho texto son bastante parcos y a veces superficiales, se trata sin duda de una fuente valiosa para conocer la realidad social y el paisaje de los Andes septentrionales en aquella época […]“ (713). In diesem Zusammenhang hebt er die Beschreibung des Chimborazo-Aufstiegs und die Ausführungen zu den Erdbebenzerstörungen vom 4. Februar 1797 hervor, die bei der Reise noch sehr sichtbar waren. Des Weiteren erwähnt er Montúfars ethnographische Notizen zur „identificación […] de lo incaico, o fundamento tradicional indígena, con lo peruano“ (714) und findet auch die Beschreibung der Inkaruinen von Cañar erwähnenswert. Schließlich geht er auf Montúfars Ausführungen zum Chinchonabaum ein, dessen Rinde bis ins 20. Jahrhundert hinein noch zur medizinischen Bekämpfung von Malaria verwendet wurde. Der freie Chinchona-Handel war durch die Reformpolitik der Borbones in Spanien verboten worden, was zum Einbruch der Marktpreise geführt hatte. Hampe Martínez vermutet, der wahre Grund der Weiterreise nach Madrid sei gewesen, „para que su padre, don Juan Pío Montúfar, alcanzara el privilegio de comercializar en exclusiva las quinas de los Andes ecuatoriales“ (717). Seinen Ausführungen wäre noch hinzuzufügen, dass Montúfars Notizen öfters zu entnehmen ist, bei wem die Expeditionsgruppe unterkam, was Humboldt nicht immer konsequent angab. Deshalb führt Margot Faak in ihrer Herausausgabe der Humboldt-Tagebücher die entsprechenden Querverweise auf Montúfars Tagebuch an (vgl. Humboldt 1986, Teil II: 345, Anm. 164; 347, Anm. 194 und 199; 348, Anm. 207). Gegen Ende seiner Eintragungen findet sich noch eine Beschreibung der Flüsse Marañón und Chinchipe, die Humboldts eher begrenzte Angaben ergänzt.
Ein Vergleich mit Humboldts eigenen Tagebuchausführungen ergibt aber letzten Endes, wieviel ausführlicher er die Reise verarbeitete. Schon die gedruckte Seitenanzahl von Montúfars etwa 12 und Humboldts 55 für denselben Zeitraum von Quito bis kurz vor Cajamarca (vgl. Montúfar 2008 und Humboldt 1986: 209-266) weist darauf hin. Während Montúfars Tagebuch sich streckenweise mit einer bloßen Aufzählung der Ortschaften begnügt, in denen die Reisenden jeweils waren, ist Humboldts Text durch vielerlei Überlegungen und Ausführungen zu geologischen, mineralogischen, vulkanischen, botanischen, zoologischen, sozialen, volks- und landwirtschaftlichen, architektonischen, psychologischen, archäologischen, geschichtlichen, religiösen, politischen, kolonialen, ethnographischen, medizinischen und physiologischen Themen gekennzeichnet. Hinzu kommt bei Humboldt eine Fülle von wissenschaftlichen Angaben und Messungen. Trotz dieser Unterschiede bleibt aber von Interesse, was Montúfar im Vergleich zu Humboldt verschweigt bzw. erwähnt. Das soll nun paradigmatisch am Chimborazo-Aufstieg vorgeführt werden.
Der 6310 m hohe Chimborazo galt damals vor der Vermessung der Himalaya-Achttausender ab 1830 durch die britische Indian Survey-Expedition als höchster Berg der Welt.[8] Humboldts Interesse am Berg stand im Zusammenhang mit seinen Nachforschungen zur Entstehung von Vulkanen; er wollte seine geologische Beschaffenheit bestimmen. Darüber hinaus versprach die Höhe des Berges, sollte man sie erreichen, Aufschluss über Pflanzenwuchs und die physikalischen Charakteristika der Atmosphäre. Schließlich kann man den Aufstieg als eine Art Selbstexperiment sehen, um die Auswirkungen der extremen Höhe am Körper zu testen. Jedoch misslang der Aufstiegsversuch insofern, als die Klettergruppe, die aus Humboldt, Montúfar, Bonpland und einem ihrer mestizischen Bediensteten bestand, bei schlechtem Wetter an eine unüberbrückbare Spalte gelangte. In einem 1853 in seinen Kleineren Schriften veröffentlichten Essay „Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen“ heißt es in Humboldts eigener Sprache: „wir eilten sicheren Schrittes vorwärts, als auf einmal eine Art Thalschlucht von etwa 400 Fuß Tiefe und 60 Fuß Durchmesser unserem Unternehmen eine unübersteigliche Grenze setzte. [...] Die Kluft war nicht zu umgehen“ (Humboldt 2006: 164). Ironischerweise hat diese Kluft den Bergsteigern wahrscheinlich das Leben gerettet. Denn sie waren nach heutigen Maßstäben äußerst schlecht ausgerüstet und wären den weiteren Herausforderungen wahrscheinlich nicht gewachsen gewesen. Laut Humboldts Barometermessung hatten sie die beachtliche Höhe von 5881 m erreicht; ihnen hätten etwas mehr als 400 m bis zum Gipfel gefehlt, „die dreimalige Höhe der Peterskirche zu Rom“ (Humboldt 2006: 164), wie es Humboldt in seiner an solchen Vergleichen reichen Sprache formulierte. Zwar ist bewiesen, dass sich Inkas bereits in solcher Höhe bewegt hatten, wenn auch nicht auf dem Chimborazo, doch war kein Europäer je so hoch gestiegen (vgl. Biermann: 272).[9]
Obwohl Humboldt es bis auf die Gipfel des Teide auf Teneriffa, der Silla von Caracas, des Antisana und des Pichincha in Ecuador – auf diesen sogar dreimal –, des Nevado von Toluca, des Cofre de Perote und des Jorullo in Mexiko schaffte, blieb er untrennbar mit dem fehlgeschlagenen Gipfelaufstieg des Chimborazo verbunden. Der Berg wurde zum Zeichen seiner Amerikareise, zum vielleicht zentralsten Ereignis in seinem Leben, das zunächst zu seinem internationalen Ruhm beitrug, ihn aber auch bis zum Lebensende begleitete (vgl. Helferich: 227). Wie es Juan Pimentel überzeugend darlegt, konstruierte Humboldt „alrededor del Chimborazo una imagen canónica [...] una imagen destinada a perdurar – como él – más allá de las mediciones de los nuevos descubrimientos“ (126). Im Sinne Kants, so Pimentel weiter, wurde der Berg für Humboldt zu einem Ort der Erhabenheit, dem er seine persönlichen Werte von Einsamkeit, Freiheit und Monumentalität beimaß. Humboldts Darstellungsmittel dabei sei die beschreibende Poesie gewesen, wie sie sich in seinen weiteren Schriften bis hin zum Alterswerk Kosmos (1845-58) erhalten habe (vgl. 126-29). Wiederholt ließ Humboldt den Chimborazo auf der Grundlage eigener Zeichnungen auch darstellen, am bekanntesten in seinem „Tableau physique des Andes et Pays voisins“, das er im Essais sur la géographie des plantes (1807) veröffentlichte. Dort dienten die Querschnitte des Chimborazo und des Cotopaxi dazu, die vertikale Verteilung der von Humboldt eingeschriebenen Vegetations- und Klimazonen sichtbar zu machen, wobei er Bild und Schrift auf originelle Weise miteinander verband.[10] Ebenfalls ließ sich Humboldt vor dem Hintergrund des Berges malen, so 1810 von Friedrich Georg Weitsch, 1812 von Karl von Steuben und 1859 in seinem Todesjahr von Julius Schrader.[11]
„Le 23 juin 1802 (il y a 3 ans que le même jour nous montâmes au pic de Teide) nous montâmes au Chimborazo“ – so setzt Humboldts Tagebuchschilderung ein (Humboldt 1986, Teil I: 219).[12] Der Ausgangspunkt des Aufstiegsversuchs war das Dorf Calpi an der südsüdöstlichen Flanke des Berges, das bereits auf einer Höhe von etwa 3100 m liegt. Mithilfe von Mautieren ging es zunächst über die baumlosen Páramograsebenen zwischen 3600 und 4800 m, die die Expeditionsgruppe stufenartig bis zur Grenze des ewigen Schnees erstieg.[13] Auch hier gibt es in Humboldts Tagebuchschilderung volkswirtschaftliche, geographische, geologische, vulkanische und botanische Ausführungen, die die Beschreibung des Aufstiegs an sich immer wieder unterbrechen. Um nur ein Beispiel anzuführen, so vermutet Humboldt, der Chimborazo sei vulkanischen Ursprungs. Die Felsblöcke, auf denen sie nach oben steigen, ähneln dem Auswurf der vukanischen Bergen, auf denen er schon war: „Cette ressemblance avec des effets d’éruptions incontestables et les matières brûlées que nos trouvâmes à chaque pas ne nous laissent pas de doute que nous montions sur une reventación même“ (Humboldt 1986, Teil I: 220).[14]
Die Unterbrechung des Beschreibungsflusses durch wissenschaftliche Angaben wird besonders deutlich an der Stelle, wo sich die Klettergruppe vor der unüberbrückbaren Spalte sah: „Nous montâmes encore une demi heure. Il faisait si nébouleux que nous ne vîmes pas la cime. La traînée de pierres continuait toujours. Il nous vint une lueur d’espérance de parvenir à la cime. Mais une grande cre- […]“ (Humboldt 1986, Teil I: 220).[15] Denn tatsächlich wird das Wort „crevasse“ an dieser Stelle nicht zu Ende geschrieben; stattdessen folgen dem „cre-“ wissenschaftliche Erklärungen zu den am Chimborazo, am Yanaurcu und am Tungurahua gesammelten Gesteinen, zu geometrischen Messungen am Tungurahua und dem Ausbruch der Moya de Pelileo. Ebenfalls baut Humboldt einen geschichtlichen Exkurs über die Jesuiten in seinen Text ein, bevor sich die Tagebuchbeschreibung etwa sieben Seiten später mit „vasse“ (bzw. „te“ von „Spalte“) fortsetzt: „vasse mit fin à nos tentatives. Elle avait au moins près de 90 t[oises] de profondeur et peut-être 10 t[oises] de large“ (Humboldt 1986, Teil I: 220).[16] Wie es Lubrich und Ette in ihrer Analyse des Textes formulieren, habe Humboldt damit einen dramatisch-literarischen „cliffhanger“ – man könnte fast sagen buchstäblich – in den Text eingebaut (vgl. Lubrich und Ette: 17-18). Die wissenschaftlichen und geschichtlichen Details könnte man als retardierendes Moment sehen, das die dramatische Spannung des Aufstiegsbeschreibung umso mehr erhöht.
An dramatisch-literarischen Schilderungen des Aufstiegs mangelt es sowieso nicht in Humboldts Tagebuch. Das Vorwärtskommen auf einem sehr engen Grat mit einem steilen, vereisten Hang zur einen und einem steinigen Abgrund zur anderen Seiten wird drastisch beschrieben:
On avait à choisir s’il valait mieux se briser les membres en tombant contre ces rochers où l’on aurait été bien reçu à 160-200 t[oises] de profondeur, ou si à gauche on voulait rouler sur la neige à un abîme beaucoup plus profond. La dernière chute nous parut la plus affreuse. La croûte gelée était mince et on se serait enterré dans la neige sans espérance de revenir au jour. (Humboldt 1986, Teil I: 219)[17]
Ebenfalls sind die mit der Höhenkrankheit verbundenen körperlichen Symptome, die Humboldt als Naturwissenschaftler an sich selbst und seinen Begleitern beobachtet, nicht ohne Drama:
Aussi la respiration était furieusement gênée et ce que était plus incommode encore, tout le monde se sentit un malaise, une envie de vomir. Un campagnard (Chagra de S[an] Juan) qui nous suivait avec beaucoup de bonne volonté, homme très robuste, assurait que de sa vie il n’avait senti l’estomac si gâté qu’en ce moment. Avec cela nous saignions des gencives de lèvres. Le blanc de nos yeux était injecté de sang. Chez Montúfar le corps [étant] le plus rempli de sang tous ces phénomènes étaient les plus frappants. Nous avions tous la tête très faible, un vertige constant, très dangereux dans la situation dans laquelle nous nous trouvâmes. (Humboldt 1986, Teil I: 220)[18]
Mythologisch-literarisierend wird die unüberbrückbare Spalte dann zu „nos Colonnes d’Hercule“ (Humboldt 1986, Teil I: 220), also zu den Säulen des Herkules, womit Humboldt auf die Berge Kalpe und Abyla anspielt, die Herkules zwischen Europa und Afrika an der Meeresenge von Gibraltar gesetzt haben soll, um das Ende der Welt zu markieren. Dabei erschöpft sich aber die Metapher nicht im bloßen Mythischen, denn Humboldt deutet ebenfalls an, der Berg werde eines Tages bezwungen, so wie sich Seefahrer schließlich auch über die Meeresenge von Gibraltar hinausgewagt hatten (vgl. Lubrich und Ette: 56-57).
Die Beschreibung des kurzen Aufenthalts auf angeblich 3036 Toisen (5881 m), die Humboldt mit dem Barometer misst, entbehrt in ihrer Monumentalität ebenfalls nicht der literarischen Elemente:
Notre séjour à cette immense hauteur était des plus tristes et lugubres. Nous étions enveloppés dans une brume que ne nous laissait voir que par intervalle les abîmes qui nous entouraient. Aucun être vivant, aucun insecte, pas même le Condor qui à Antisana planait au-dessous de nos têtes, vivifiait les airs. (Humboldt 1986, Teil I: 221)[19]
Beim Abstieg wird es dann angesichts der Gefahr auch noch einmal dramatisch:
A peine nous trouvions nous à 2900 t[oises] de hauteur qu’il commençait d’abord à grêler (une grêle fine opaque-blanche de neige) et 300 t[oises] plus bas à neiger, mais d’une force qu’en moins de 20 minutes il tomba plus de 10-20 pouces de neige. Nous étions en petites bottes, en simple habit, sans gants (on les connaît à peine ici); que l’on juge comment nous nous trouvions. Les mains ensanglantées, heurtant à chaque instant un pied malade ulcéré contre des roches aiguies, forcé de calculer chaque pas ne voyant plus le chemin déjà couvert de neige [...]. (Humboldt 1986, Teil I: 221-22)[20]
Um aber seine Beschreibung nicht zu dramatisch werden lassen, dekonstruiert Humboldt die Dramatik mit einem Schuss Ironie: Bei der oben zitierten Gratwanderung hatte man die Wahl, ob man „mieux“ (Humboldt 1986, Teil I: 219) („lieber“ [Humboldt 2006: 85]) auf der einen Seite den Hang hinunterrollen oder auf der anderen in den Abgrund stürzen wollte, von dessen Tiefe man „aurait été bien reçu“ (Humboldt 1986, Teil I: 219) („schön empfangen worden wäre“ [Humboldt 2006: 85]). Beim eben zitierten Abstieg sei Humboldts Lage eine „peu plaisante“ (Humboldt 1986, Teil I: 222) („wenig vergnügliche“ [Humboldt 2006: 98]) gewesen.
Die Tagebuchschilderung zum Chimborazo-Aufstieg geht sachlich zu Ende:
Nous revînmes à la région de la neige perpétuelle à 2h 7’ et reprîmes la route de Calpi par le Páramo de Pungupala, situé au nord des llanos de Sisgun et des Llanos de Luisa A 5h nous étions à Calpi (Humboldt 1986, Teil I: 222).[21]
Im Tagebuch erwähnt Humboldt noch den Weltrekord der Leistung, wenn auch auf bescheidene, in Klammern eingefügte Weise:
nous finîmes avec la montagne la plus haute et montant à la plus grande hauteur à laquelle nous-mêmes (et jamais homme) étaient parvenus (Humboldt 1986, Teil I: 222).[22]
Montúfar kommt dreimal in Humboldts Tagebuchschilderung zum Aufstieg vor. Zum ersten Mal erwähnt er ihn im Zusammenhang mit der Verkleinerung der Klettergruppe, als sie in die Höhenkälte kommen: „Nos compagnons, petri[fiés] de froid, nous abandonnaient; il n’y eut que Bonpland, Montúfar, l’homme au baromètre et deux Indiens avec d’autres instruments qui me suivaient“ (Humboldt 1986, Teil I: 219).[23] Die zweite Erwähnung wurde oben bereits zitiert, als Humboldt die Auswirkungen der Höhenkrankheit naturwissenschaftlich beobachtend beschrieb, die sich bei Montúfar als besonders ausgeprägt erwiesen hätten. Das dritte Mal führt Humboldt den Reisebegleiter an, als er den weichen Schnee am Chimborazo beschreibt, „où M[onsieur] Montúfar se serait presque perdu […]“ (Humboldt 1986, Teil I: 221).[24]
Was sich bei Humboldt mit allen wissenschaftlichen Ausführungen auf etwa 18 Seiten erstreckt, macht in Montúfars Tagebuch eine Dreiviertelseite aus. Es sei hier zunächst ganz zitiert:
El dia 22 fuimos al pueblo de Calpi distante seis leguas de Riobamba y situtado en las faldas del Chimborazo fuimos ael para subir al dicho serro, como lo hisimos el dia siguiente [am Rande: 23] en el que habiendo salido mui temprano del pueblo llegamos ala Niebe y subimos gran parte à Caballo hasta que siendo inposible subir mas montados nos apeamos y empesamos à subir à pie, ya por ensima de la niebe ya por unos pequeños pedasos de rebentasones de piedra en mucha altura con quebradas por un lado y otro profundissimas, llebamos con nosotros dos indios, y un muchacho con el Barometro, al principio de la subida varias personas que nos habian à compañado desde Riobamba empersaron à subir con nosotros pero à pocas quadras se quedaron sin poder seguir à delante, los dos Indios nos acompañaron hasta mas del medio de la subida pero no pudiendo resistir mas al frio se quedaron bajo de unas grandes piedras que habian en el camino, y solo seguimos adelante, El Baron, Bompland, Yo y el criado que llebaba el Barometro: despues de haber subido hasta la una de la tarde, desde las seis del dia apie llegamos al fin de esta rebentazon, y no pudimos pasar adelante por una profundissima quebrada que estaba delante, en este lugar viendo la inposibildad de seguir, midio el Baron por el Barometro que estabamos enla altura de 3036 toesas y por consiguiente mui inmediatos ala sima, teniamos mucho biento, subimos en cuerpo sin abrigo, tanto por la dificultad de llebar un grande bolumen por el biento quanto por que nos habriamos fatigo en tan grande subida con el mas pequeño peso: la bajada no nos fue menos inconmoda que la subida por los continuos resbalos en la niebe y en las piedras que nos hacian caer acada instante, luego que enpesamos à bajar cayo bastante niebe, de modo que nos cubrio y nos pusimos enteramente blancos y mui mojados, con la niebe que cayo se nos cubrieron las señales de pisadas que dejamos al subir, y nos bimos en mucho riesgo de perdernos pues no oyan nuestros gritos los que estaban abajo, y solo bajamos por inferencias, tardamos dos oras en bajar hasta el sitio donde nos aguardaban las bestias y seguimos por la niebe mucho trecho à caballo: En la mayor altura que estubimos, y hasta donde no han estado hombres jamas, encontramos barias piedras quemadas de que se infiere sea bolcan pues de otro modo no podrian haberlas en tanta altura, aunque no ay tradicion que haya rebentado, se encuentran muy pocas plantas y en lo ultimo ningunas: [...]. (Montúfar 1802: 11-14)[25]
Zunächst ist die Kargheit von Montúfars Angaben zu bestätigen, wie schon Hampe Martínez erwähnt (vgl. 713), besonders wenn man sie mit Humboldt vergleicht. Das zeigt sich auch anhand der ausgeführten literarischen Elemente. Während Humboldt das Vorwärtskommen auf dem schmalen Grat mit dramatischer Spannung auflädt, steht bei Montúfar lediglich „con quebradas por un lado y otro profundissimas“ (Montúfar 1802: 12). Obwohl Humboldts Reisebegleiter studiert hatte, fällt der holprige Stil auf. Auch das steht im Gegensatz zu Humboldts gepflegtem Deutsch und Französisch.
Weitgehend stimmen aber Montúfar und Humboldt inhaltlich miteinander überein. Die Etappen des Aufstiegs, die immer kleiner werdende Personenanzahl, die unüberbrückbare Spalte („una profundissima quebrada“ [Montúfar 1802: 12]), die von Humboldt bemessene Höhe, die Schwierigkeiten beim Abstieg, die Vermutungen zum vulkanischen Ursprung des Chimborazo und die Spärlichkeit der Pflanzenwelt entsprechen alle Humboldts Beschreibung, wenn es auch bei ihm eben Ausführungen, bei Montúfar eher Angaben sind. Selbst die Bescheidenheit, mit der Montúfar eingebettet in einen längeren Absatz anführt, noch nie sei ein Mensch so hoch gestiegen („y hasta donde no han estado hombres jamas“ [Montúfar 1802: 13]) entspricht demselben zurückhaltenden Ton wie bei Humboldt.
Beim zweiten Blick fallen allerdings drei Unterschiede auf, die im Folgenden näher zur Sprache kommen sollen: Warum erwähnt Montúfar nicht, dass er fast im Schnee versunken sei, wie es Humboldt beschreibt? Warum geht Montúfar mit keinem Wort auf die Auswirkungen der Höhenkrankheit ein, die laut Humboldt bei ihm besonders schlimm gewesen sein sollen? Als einzigen dramatischen Moment in seinem Text erzählt Montúfar, wie sie sich beim Abstieg fast verirrt hätten. Warum findet dieses Ereignis bei Humboldt eine wesentlich zurückhaltendere Erwähnung? Obwohl es grundsätzlich schwierig festzustellen ist, warum bestimmte Sachverhalte in einem und nicht im anderen Tagebuch erwähnt werden, soll hier versucht werden, die scheinbaren Widersprüche zu erklären.
Was die Frage der Verirrung beim Abstieg betrifft, beschränken sich Humboldts Ausführungen darauf, dass „ne voyant plus le chemin déjà couvert de neige […]“ (Humboldt 1986, Teil I: 222).[26] Bei Montúfar hingegen lesen wir:
con la niebe que cayo se nos cubrieron las señales de pisadas que dejamos al subir, y nos bimos en mucho riesgo de perdernos pues no oyan nuestros gritos los que estaban abajo, y solo bajamos por inferencias, tardamos dos oras en bajar hasta el sitio donde nos aguardaban las bestias […] (Montúfar 1802: 13)
Hier mag die Erklärung ausreichen, dass der junge Montúfar „mucho riesgo“ sah, wo der ältere und vor allem erfahrenere Humboldt keine empfand. Als Wissenschaftler, der während der Reise auf mehreren Bergen gewesen war, für seine Zeit als geübter Bergsteiger galt und mit diversen Instrumenten umgehen konnte, wird er gewusst haben, in welche Richtung sich die Klettergruppe bewegte und dass keine akute Gefahr bestand. Im Gegensatz zur allgemeinen Gefahr der Verirrung für die Gruppe bezog sich Montúfars Versinken im Schnee ganz konkret auf ihn. Hier wird es vielleicht die selbstbewusste Seite des jungen Kreolen sein, der nicht zugeben will, dass für ihn persönlich eine Gefahr bestand, die er auch als solche empfunden hätte. Lassen sich die Widersprüche der Verirrung und des Versinkens im Schnee vielleicht so auflösen, bedarf aber die Nicht-Erwähnung der Höhenkrankheit im Folgenden eines ausführlicheren Exkurses.
Im Juni und August 1903 versuchte der deutsche Wissenschaftler Hans Mayer, den Chimborazo zu bezwingen und kam bis auf 90 m unter seinen Gipfel. In der Schilderung seines längeren Aufenthalts in Ecuador stellt er die angeblich von Humboldt erreichte Höhe in Frage. „[D]ie große Spärlichkeit“ von Humboldts Zeitangaben mache es schwierig, die erreichte Höhe genau festzustellen, doch:
Legen wir für die Wirklichkeit einen Durchschnitt von 150 m Auf- und Abstieg pro Stunde zu Grunde, was der Leistungsfähigkeit der Reisenden und den von Humboldt geschilderten Umständen am meisten entsprechen dürfte, so hätte Humboldt mit seinen Begleitern in 3½ Stunden von der Schneegrenze (4820 m) aus und wieder dahin zurück die Höhe von ca. 5350 m erreicht. Und diese Höhe stimmt vollkommen zu der von ihm geschilderten Situation seines Endpunktes, während es bei 5881 m, wo er seiner Meinung nach gewesen sein will, ganz anders aussieht. (Meyer: 86)[27]
Meyer meint, dass Humboldts Quecksilberbarometer, das 5881 m ergab, eventuell „in völlige Unordnung geraten war“ (Meyer: 86).
Wie hoch Humboldt und seine Begleiter eigentlich gestiegen sind, ist ein oft diskutiertes Thema gewesen. In seinem wissenschaftlich fragwürdigen Artikel mit dem verwegenen Titel „Ein ketzerisches Zwischenspiel“ äußert David Simons Zweifel, ob der Aufstieg überhaupt stattgefunden habe. Dabei bezieht er sich auf die Ausführungen des ersten Chimborazo-Bezwingers im Jahre 1879, Edward Whymper,[28] dessen Buch Travels amongst the Great Andes of the Equator (1892), so Simons, kaum Zweifel zulasse, dass Humboldt „die angegebene Höhe nie erreichte und seine Beschreibungen des Berges auf lückenhaften Erinnerungen oder vielleicht sogar auf Beobachtungen aus der Ferne basiert“ (688). Überzeugend widerlegt Margot Faak Simons’ andeutende Behauptung, indem sie beweist, wie schon Whymper mit seinen Aussagen falsch lag. Der vermutlich ehrliche Fehler bei diesem liege darin, dass er Humboldts Aufstieg aus südwestlicher Richtung festlegen wolle, während er in Wirklichkeit aus südsüdöstlicher Richtung erfolgt sei, weswegen Humboldts Beschreibungen des Aufstiegs gar nicht Whympers Erfahrungen aus südwestlicher Richtung hätten entsprechen können. Das habe zu einem Teil seiner Bedenken geführt, die Simons dann verschärft (vgl. Faak: 35-41). Was die angeblich erreichte Höhe betrifft, bezieht sich Faak in ihrer genauen Untersuchung vor allem auf Meyer und kommt zum folgenden Schluss:
Humboldts Angaben über die von ihm erreichte Höhe auf Chimborazo konnten von der späteren Forschung nicht voll bestätigt werden: etwa 500 m wurden abgezogen. Die Ursache für Humboldts Irrtum sieht man in der Unzulänglichkeit der benutzten Instrumente. (41)
Auf diese 500 m Unterschied wird im Zusammenhang mit der Höhenkrankheit zurückzukommen sein.
Was nun die Höhenkrankheit an sich betrifft, haben wir schon im Tagebuch gesehen, dass Humboldt ihr erhebliches Gewicht verleiht, und zwar, abgesehen vom dramatischen Element, als Naturwissenschaftler, der die körperlichen Auswirkungen der extremen Höhe an sich selbst und seinen Begleitern genau beobachtet. Solche Selbstversuche gehörten durchaus zur naturwissenschaftlichen Vorgehensweise Humboldts; seine Jugendschrift Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser (1797) legt Zeugnis von galvanischen Selbstexperimenten ab.[29] In den Essay-Versionen des Aufstiegs (vgl. Anm. 22) kommt er auch auf die Höhenkrankeit zu sprechen und fügt seiner z.T. aus dem Tagebuch übernommenen Beschreibung wissenschaftliche Termini hinzu:
Wir fingen nun nach und nach an, alle an grosser Uebelkeit zu leiden. Der Drang zum Erbrechen war mit etwas Schwindel verbunden und weit lästiger als die Schwierigkeit zu athmen. Ein farbiger Mensch (Mestize aus San Juan) hatte uns bloss aus Gutmüthigkeit, keineswegs aber in eigennütziger Absicht, nicht verlassen wollen. Es war ein kräftiger, armer Landmann, der mehr litt, als wir. Wir bluteten aus dem Zahnfleisch und aus den Lippen. Die Bindehaut (tunica conjunctiva) der Augen war bei allen ebenfalls mit Blut unterlaufen. Diese Symptome der Extravaste in den Augen, des Blutausschwitzens am Zahnfleisch und an den Lippen, hatten für uns nichts Beunruhigendes, da wir aus mehrmaliger früherer Erfahrung damit bekannt waren. (Humboldt 2006: 140 und 160)[30]
Darüber hinaus geht er in weiteren Ausführungen auf Angaben anderer Bergsteiger zur Höhenkrankheit ein, sowie auf eigene Erfahrungen auf anderen Bergen und die möglichen biologischen Bedingtheiten der Krankheit (vgl. Humboldt 2006: 140-41). Im soeben angeführten Zitat ist es nun der Mestize, der besonders an der Höhenkrankheit zu leiden hat, doch in den erwähnten weiteren Ausführungen ist wieder von Montúfar die Rede: „Am Antisana aber, auf der beträchtlichen Erhebung von 17 022 Fuss, blutete unser junge [sic] Reisegefährte Don Carlos Montúfar sehr stark aus den Lippen“ (Humboldt 2006: 141).
Ziehen wir wieder Meyer heran, gewinnen wir allerdings ein etwas anderes Bild der Höhenkrankheit. Er beschreibt die Symptome, die er und seine Begleiter nach 5000 m Höhe erlebten:
Beim Atemholen schnappen wir, wenn wir weitersteigen, oft unwillkürlich mit einem tiefen seufzerartigen Ruck nach Luft wie der Fisch, der auf dem Trocknen liegt. Das Herz hämmert schnell und stark zum Zerspringen, während sich die Lippen und oft auch die Hände bläulich färben und die Augenbindehaut von Blut unterlaufen wird. […] Des Kopfes bemächtigt sich ein dumpfer Druck oder, richtiger gesagt, eine nach außen gerichtete Spannung, die die Gedanken trübt oder verworrne Vorstellungen auslöst, welche ohne Beziehung auf unser gegenwärtiges Tun sind. Wir steigen sozusagen im Dusel fort und möchten uns am liebsten hinlegen und schlafen. (Meyer: 388)
Meyer betont dann ausdrücklich:
Niemals hat sich aber bei uns und unsern Begleitern Erbrechen eingestellt, niemals Nasenbluten, und niemals habe ich an uns oder an anderen ein Bluten aus den Lippen und dem Zahnfleisch beobachtet, wovon A. v. Humboldt im Bericht seiner Chimborazobesteigung berichtet. (Meyer: 388)
Hat also Humboldt die Höhenkrankheitsauswirkungen falsch eingeschätzt oder überdramatisiert, weswegen sie Montúfar nicht erwähnt? Humboldts Tagebuch ist ja nicht frei von dramatischen Überhöhungen, wie wir gesehen haben. Beschreibt Humboldt Symptome, die auf der geringeren von ihm und seinen Begleitern erreichten Höhe gar nicht eintreten können?
Um diese Fragen zu beantworten, muss festgestellt werden, was Sache bei der Höhenkrankheit ist (auch als Acosta-Krankheit oder Bergkrankheit bekannt).[31] Im Grunde ist die Höhenkrankheit auf einen Sauerstoffmangel in den Lungen zurückzuführen. Während der Prozentsatz von Oxygen in der Atmosphäre bis auf eine Höhe von 21 330 m mit 21% relativ konstant bleibt, nehmen der Luftdruck und somit der Sauerstoffpartikeldruck mit der Höhe ab.[32] Der Luftdruck auf Meereshöhe liegt bei etwa 760 mmHg (Millimeter Quecksilbersäule), der Sauerstoffpartikeldruck bei 149 und in der Lunge bei 105; diese Werte sinken auf 5000 m Höhe auf 405, 75 und 42 herab, auf 6000 m auf 354, 64 und 38. Man atmet weniger Sauerstoff ein, weil der Luftdruck von außen weniger nachhilft. Den allgemeinen Sauerstoffmangel in den Lungen kann der Körper zu einem Teil durch erhöhte Herzfrequenz, erhöhtes Atemzeitvolumen und durch die Bildung zusätzlicher Rotblutkörperchen kompensieren. Eine Akklimatisierung gelingt meistens, vor allem, wenn sie stufenweise in zeitlichen Abständen erfolgt. Doch milde Zeichen der Höhenkrankheit lassen sich nicht vermeiden, die sich ab etwa 2500 bis 3000 m einstellen und mit weiterer Höhe zunehmend gefährlichere Formen annehmen, wenn keine ausreichende Akklimatisierung stattfindet bzw. diese angesichts der extremen Höhe nicht mehr möglich ist. Die Krankheitserscheinungen reichen von Kopfschmerzen, Apathie, vernunftwidrigem Verhalten, Übelkeit, Wasserschwellungen (Ödemen) und beschleunigtem Herzschlag bis hin zu schweren, dauerhaften Kopfschmerzen, völliger Antriebslosigkeit, Bewusstseinsstörungen, schwerer Übelkeit und Erbrechen, Atemnot und Herzrasen, nächtlicher Schlaflosigkeit, trockenem Husten, Schleimhautblutungen, Schwindelgefühlen und Krämpfen. Es bleibt zu betonen, dass diese Symptome unterschiedlich und unabhängig vom Alter und Fitnesszustand der/des Betreffenden auftreten, was schon Humboldt erkannt hatte (vgl. Humboldt 2006: 141).
Es wird ersichtlich, dass sich Meyer und Humboldt in ihren Beobachtungen zur Höhenkrankheit keineswegs widersprechen. Wenn Meyer behauptet, kein Erbrechen und keine Schleimhautblutungen auf der von Humboldt und seinen Begleitern erreichten Höhe erlebt zu haben, bedeutet es nicht, dass sie nicht hätten auftreten können, denn, wie ausgeführt, die Symptome können sehr unterschiedlich sein. Die 500 m Höhenunterschied zwischen der von Humboldt gemessenen und der wohl tatsächlich erreichten Höhe von etwa 5350 m sind hier auch nicht ausschlaggebend, da die Symptome bereits ab 2500 m zu beobachten sind.
Es bleibt also die Frage, warum Montúfar die Höhenkrankheit verschweigt, zumal deren Auswirkungen nicht ohne dramatischen Effekt und nicht ohne Gefahr waren. Es liegt ein Unterschied darin, wie schon bei der Verirrung beim Abstieg, ob der weltgewandte, naturwissenschaftlich orientierte Humboldt eingehend körperliche Symptome an sich selbst und den Reisebegleitern beobachtet und beschreibt oder ob der unerfahrene Montúfar schlicht berichtet. Überhaupt ist es der unterschiedliche wissenschaftliche Erfahrungs- bzw. Bildungsgrad von Montúfar und Humboldt, der dessen anspruchsvollere Tagebuchnotizen und -beobachtungen bedingt. Die Literaturwissenschaftlerin Ameilia Cano Calderón hat versucht, eine Typologie des Tagebuchs zu erstellen, wonach es auf den Blickwinkel des Schreibenden ankommt: sitzend oder reisend, als Literat oder Nicht-Literat, wissenschaftlich oder nicht, autobiographisch oder mit Blick auf das gesellschaftliche Umfeld (vgl. Cano Calderón: 57-59). In diesem Sinne sind Humboldts Tagebuchausführungen zum Chimborazo-Aufstieg – aber auch überhaupt – so reichhaltig, dass sie Elemente aus fast allen Kategorien dieser Typologie enthält: Er ist ein Reisender, der mit literarischen Elementen eine Fülle von wissenschaftlichen Details bringt, wobei autobiographische und gesellschaftsbeschreibende Elemente auch nicht fehlen. Dahingegen transzendieren Montúfars Eintragungen äußerst selten das bloße Notizhafte. Der Vergleich der beiden Tagebuchauszüge fällt sehr zuungunsten Montúfars aus. Seine Ausführungen tragen wenig dazu bei, Humboldt südamerikanische Reise zu ergänzen, besonders im Hinblick auf den Chimborazo-Aufstieg.
Literaturverzeichnis
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Zaldumbide, Gonzalo. „Vida y Muerte de Carlos Montúfar. Prócer Quiteño de la Emancipación Americana“. Cultura Hispánica (1959), H. 4, 5-32.
[1] Zu den folgenden Ausführungen zu Montúfars Leben vgl. Jijón y Caamaño, Zaldumbide, Chiriboga Navarro, Borchart de Moreno und Hampe Martínez.
[2] Caldas geriet später in die Wirren der Unabhängigkeitskämpfe Lateinamerikas und wurde am 28. Oktober 1816 in Bogotá standrechtlich erschossen. Zum beachtenswerten wissenschaftlichen Leben Caldas’ vgl. Bateman und Wilton Appel.
[3] Seine Tagebücher zur Reise führte Humboldt bis zum 17./18.7.1801 auf Deutsch, danach sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch, wobei die deutschen Eintragungen noch überwogen. Ab Quito (Januar 1802) gibt es mit wenigen Ausnahmen nur noch Eintragungen auf Französisch. Die Verwendung des Französischen hängt vermutlich mit dem Umgang mit Aimé Bonpland zusammen. Denn auf der Reise sprach Humboldt kaum Deutsch, dafür aber viel Französisch mit seinem französischen Reisegefährten. Das französische Original beruht auf der Transkription von Gisela Lülfing und Margot Faak, die die französischen Teile ins Deutsche übersetzten (Humboldt 1986, Teil I). Die deutsche Übersetzung befindet sich in derselben Herausgabe, Teil II: 62 und lautet: „Ich lag in demselben Bett mit Carlos Montúfar, dem zweiten Sohn des Marqués de Selva-Alegre, mit dem wir seit unserer Ankunft in Quito in der größten Vertrautheit lebten, ein junger Offizier voller Liebenswürdigkeit und von jener Leichtigkeit, alles zu lernen, die das wahre Talent auszeichnet ... Der Arme Junge hatte auch Bauch- und Brustschmerzen, eine Darmkolik ... Wir gingen aus Mangel an Licht um 7 Uhr schlafen. Wie lang uns diese Nacht schien ... und wie qualvoll. Ich bot mich mehrere Male an aufzustehen, um für meinen Freund ein warmes Fußbad bereiten zu lassen. Er widerstrebte stets, denn der Wind wehte und heulte wie auf offenem Meere.“
[4] Humboldt 2006, von Oliver Lubrich und Ottmar Ette herausgegeben, vereint alle Schriften Humboldts zum Chimborazo-Aufstieg. Im Folgenden wird immer nach dieser Ausgabe zitiert.
[5] Es handelt sich hier um einen Nachdruck des Tagebuchs, den Jiménez de la Espada ursprünglich im Boletín de la Sociedad Geográfica de Madrid XXV (1888): 371-89 veröffentlicht und kommentiert hatte. Ein weiterer Nachdruck befindet sich in Segundo E. Moreno Yánez (Hrsg.): Alexander von Humboldt. Diarios de viaje en la Audiencia de Quito (Quito: Occidental Exploration and Production Company, 2005), 308-18.
[6] Das Tagebuch bildet einen Teil des Manuskriptenkonvoluts mit dem Titel „Latin American mss. Peru“. Die Lilly Library besitzt überhaupt eine beeindruckende Sammlung von lateinamerikanischen Manuskripten. Vgl. Campbell Mirza.
[7] Die Tatsache der leeren Seiten ergab sich bei einer Untersuchung des Originals, die der Verfasser dieser Arbeit in der Lilly Library, Indiana University durchführte (vgl. ebd.).
[8] Der Chimborazo ist nicht einmal der höchste Berg im Andengebirge, denn diesen Platz nimmt der Aconcagua in Argentinien mit 6957 m ein, womit er der höchste Gesamtamerikas ist. Da die Erde aber keinen perfekt runden Ball bildet, sich am Äquator elliptisch nach außen wölbt und sich der Chimborazo nur wenig südlich davon befindet, bleibt er der höchste Berg der Welt, wenn er von der Erdmitte aus gemessen wird. Der Name des Berges ist auf die Quichua-Sprache zurückzuführen und bedeutet in etwa „Schnee von Chimbo“, wobei unter Chimbo die Provinz Ecuadors zu verstehen war, in der sich der Berg befindet und die heute Bolívar heißt (vgl. Stübel: 205, Anm. 1).
[9] Die eigentliche Erstbesteigung des Chimborazo erfolgte am 4. Januar 1880 durch den Engländer Edward Whymper zusammen mit seinen Schweizer Bergführern, den Gebrüdern Carrel. Spricht Humboldt vom Gipfel meint er immer den höchsten Südgipfel des Chimborazo, der aber aus drei Hauptgipfeln besteht (vgl. Meyer: 64).
[10] Vgl. die Abbildung des Tableaus in <http://handschriften.staatsbibliothek-berlin.de/humboldt/>. Vgl. auch die Abbildung in Lubrich und Ette: 24-25, ebenfalls ihre Ausführungen dazu: 22-23 und 26-29. Vgl. auch Helferich: 229.
[11] Vgl. die Abbildungen in Lubrich und Ette: 10-11. Des Weiteren ließ Humboldt sein Reisewerk Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent (ab 1814) mit einem von François Gérard geschaffenen Frontispiz versehen, das Minerva und Merkur, die Handel und Industrie symbolisieren, vor dem Hintergrund des Chimborazo zeigen. Vgl. die Abbildung in ebd. 23. Immer wieder wird Humboldt mit dem Chimborazo verbunden. Ein journalistischer Artikel zum „hielero“ am Chimborazo, der noch heute Eis vom Berg herunterbringt, um es im nahen Riobamba auf dem Markt zu verkaufen, kommt nicht ohne einen Hinweis auf Humboldts Aufstieg aus. Vgl. Lomoth.
[12] Im Falle des Chimborazo-Aufstiegs wird auf Deutsch nach der Neuübersetzung von Marcel Vejmelka in Humboldt 2006 zitiert. Für die soeben zitierte Stelle lautet sie: „Am 23. Juni 1802 (am gleichen Tag vor 3 Jahren sind wir auf den Pic de Teyde gestiegen) erstiegen wir den Chimborazo [...]“ (85).
[13] Die Höhen dieser Grenze legt Humboldt anhand seines Barometers auf 4673 m fest, nach modernen Methoden 4585 m. Sauer weist darauf hin, dass „die Grenze des ewigen Schnees zu jener Zeit rund 300 m tiefer als heute“ lag (163-64). Es fragt sich, ob die rund dreißig Jahre seit diesem Artikel sich noch weiter auf die Grenze des ewigen Schnees auf Grund der Erderwärmung ausgewirkt haben.
[14] „Diese Ähnlichkeit mit den unbestreitbaren Auswirkungen von Vulkanausbrüchen und die gebrannte Materie, der wir auf Schritt und Tritt begegneten, ließen keinen Zweifel daran, daß wir tatsächlich auf einer reventación (Auswurf) aufstiegen“ (Humboldt 2006: 86). In Wirklichkeit ist der Chimborazo ein Doppelvulkan (vgl. Sauer: 166).
[15] „Wir stiegen noch eine halbe Stunde weiter auf. Es wurde so neblig, daß wir den Gipfel nicht sehen konnten. Die Reihe von Felsblöcken setzte sich immer noch fort. In uns kam ein Schimmer von Hoffnung auf, den Gipfel erreichen zu können. Aber eine große Spal- […]“ (Humboldt 2006: 87).
[16] „te setzte unseren Bemühungen ein Ende. Sie war mindestens 90 Toisen tief und vielleicht 10 Toisen breit“ (Humboldt 2006: 96). Eine Toise ist ein altes französisches Längenmaß und entspricht 1,94903 m.
[17] „Man hatte die Wahl, ob man sich lieber die Knochen brechen wollte, wenn man gegen diese Felsen schlug, von denen man in 160-200 Toisen Tiefe schön empfangen worden wäre, oder ob man zur Linken über den Schnee in einen noch viel tieferen Abgrund rollen wollte. Der letztere Sturz schien uns der grauenvollere zu sein. Die gefrorene Kruste war dünn, und man wäre im Schnee begraben worden ohne Hoffnung, je wieder aufzutauchen“ (Humboldt 2006: 85).
[18] „Auch das Atmen wurde stark beeinträchtigt, und noch unangenehmer war, daß alle Übelkeit, einen Drang sich zu erbrechen verspürten. Ein Landmann (ein chagra aus San Juan), der uns mit viel gutem Willen folgte, ein sehr robuster Mann, versicherte, daß ihm in seinem Leben der Magen noch nie so geschmerzt habe wie in diesem Augenblick. Außerdem bluteten uns das Zahnfleisch und die Lippen. Das Weiße unserer Augen war blutunterlaufen. Bei Montúfar, dessen Körper das meiste Blut enthielt, waren diese Phänomene am schlimmsten. Wir fühlten alle eine Schwäche im Kopf, einen ständigen Schwindel, der in der Situation, in der wir uns befanden, sehr gefährlich war“ (Humboldt 2006: 86). Wie oben erwähnt, hatte Montúfar schon auf dem Antisana an der Höhenkrankheit gelitten (vgl. Humboldt 1986, Teil: I: 179-80 u. 183-84; Teil II: 62 u. 65).
[19] „Unser Aufenthalt in dieser ungeheuren Höhe war äußerst traurig und düster. Wir waren in einen Nebel gehüllt, der uns nur hin und wieder die uns umgebenden Abgründe erblicken ließ. Kein lebendes Wesen, kein Insekt, nicht einmal der Condor, der am Antisana über unseren Köpfen schwebte, belebte die Lüfte“ (Humboldt 2006: 98).
[20] „Kaum befanden wir uns auf einer Höhe von 2900 Toisen, als es zu hageln begann [ein feiner Hagel von undurchsichtigem Schneeweiß] und 300 Toisen tiefer zu schneien, und dies mit einer Heftigkeit, dass in weniger als 20 Minuten mehr als 10-20 Zoll Schnee fielen. Wir trugen kurze Stiefel, einfache Kleidung, hatten keine Handschuhe [man kennt sie hier kaum]; man mag sich vorstellen, in welchem Zustand wir uns befanden. Die Hände waren blutig, ständig stieß ein kranker, mit Geschwüren bedeckter Fuß gegen spitze Felsen, jeder Schritt mußte berechnet werden, da man den vom Schnee bedeckten Weg nicht mehr sah [...]“ (Humboldt 2006: 98).
[21] „Wir kehrten um 2 Uhr 7 Minuten zur Grenze des ewigen Schnees zurück und nahmen den Weg nach Calpi über den páramo von Pungupala nördlich der Llanos de Sisgún und der Llanos de Luisa. Um 5 Uhr waren wir in Calpi“ (Humboldt 2006: 99).
[22] „wir schlossen sie [die Expedition] mit dem höchsten Berg ab stiegen bis zur größten Höhe, auf die wir selbst (und jemals ein Mensch) gelangt waren“ (Humboldt 2006: 99). Humboldt verarbeitete 1837 und 1853 den Aufstieg in zwei Essays: „Ueber zwei Versuche den Chimborazo zu besteigen“ und „Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen“ (vgl. Humboldt 2006: 129-149 und 151-181). Aus dem zweiten ist oben bereits zitiert worden. Der auffallende Titelunterschied („zwei“ Versuche im Gegensatz zu „einem“) hängt damit zusammen, dass Humboldt im ersten Essay auf den Chimborazo-Aufstiegsversuch von Jean Baptiste Boussingault (1802-1887) zusammen mit seinem englischen Freund Obrist Hall am 16. Dezember 1831 einging, bei dem sie angeblich etwas höher als Humboldt und seine Gruppe gestiegen waren. Im Vergleich mit dem Tagebuch ist der sachliche Ton in beiden Essays auffallend, deren wissenschaftliche Absichten die literarischen Verbrämungen der Tagebuchschilderung nicht mehr zuließen.
[23] „Unsere Begleiter waren vor Kälte erstarrt und ließen uns im Stich; nur Bonpland, Montúfar, der Mann am Barometer und zwei Indianer mit anderen Instrumenten folgten mir“ (Humboldt 2006: 85).
[24] „wo Herr Montúfar fast […] verlorengegangen wäre“ (Humboldt 2006: 97).
[25] Da Jiménez de la Espadas Publikation des Tagebuchs (vgl. Anm. 5) Transkriptionsfehler enthält, wird hier nach dem Original in der Lilly Library zitiert (vgl. Anm. 6). Dabei wurde auch versucht, Montúfars Schreibweise gerechter zu werden. Obwohl die Seiten des Tagebuchs nicht explizit nummeriert sind, dreht es sich hier um die angegebenen Seitenzahlen.
[26] „man den vom Schnee bedeckten Weg nicht mehr sah […]“ (Humboldt 2006: 98).
[27] Etwas indirekter stellt auch Stübel die angeblich erreichte Höhe in Frage: „Um aus der Höhe von 5000 Metern auf eine solche von 6000 Metern emporzusteigen und nach dem Ausgangspunkt zurückzukehren, bedarf es in den Anden selbst für einen sehr geübten Bergsteiger eines 7 bis 8 stündigen höchst anstrengenden Marsches. Der Höhenunterschied zwischen Calpi und dem Gipfel des Chimborazo beträgt aber über 3000 Meter, ganz abgesehen von der sehr beträchtlichen Horizontalentfernung beider Punkte von einander“ (Stübel: 210).
[28] Vgl. Anm. 9.
[29] Bereits zwei Jahre davor hatte Humboldt einen Teil seiner Ergebnisse in diesem Zusammenhang Hofrath Blumenbach in einem Brief mitgeteilt, der unter dem Titel „Ueber die gereitzte Muskelfaser“ in Neues Journal der Physik 2/2 (1795): 115-29 veröffentlicht wurde. Vgl. den Nachdruck des Briefes in Humboldt 2009: 15-26.
[30] Es handelt sich hier um die in Anm. 22 erwähnten Essays „Ueber zwei Versuche“ und „Ueber einen Versuch“, die beide in Humboldt 2006 abgedruckt sind. Die Ausführungen sind in beiden Essays gleich; es wird im Folgenden nach dem ersten zitiert.
[31] Der jesuitische Missionär und Gelehrte José de Acosta (etwa 1540-1600) beschrieb zum ersten Mal anhand von eigenem Erleben die Höhenkrankheit. Humboldt las ihn ausführlich. Vgl. hierzu Humboldt 2006: 140. Die folgenden Ausführungen zur Höhenkrankheit stützen sich auf Donald Heath und David Reid Williams, Man at High Altitude. The Pathophysiology of Acclimatization and Adaptation (Edinburgh: Livingstone, 1981) 136-50.
[32] Auf die Konstanz des Sauerstoffinhalts in der Atmosphäre hat schon Humboldt hingewiesen: „Nach dem jetzigen Stande der Eudiometrie erscheint die Luft in jenen hohen Regionen eben so sauerstoffreich als in den unteren […]“ (Humboldt 2006: 141).
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Letzte Aktualisierung: 20 Mai 2011 | Kraft
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